Dtsch Med Wochenschr 2000; 125(36): 1061
DOI: 10.1055/s-2000-7225-2
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erwiderung

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Publication Date:
28 April 2004 (online)

Als komplexes Krankheitsbild ist die Diagnose und Therapie des Pseudohermaphroditismus femininus stets eine interdisziplinäre Herausforderung. Die kongenitale Störung ist im Kindesalter allerdings nicht selten und beschäftigt hier vor allem den Pädiater und Chirurgen. In der Erwachsenenmedizin ist das Vollbild eines unbehandelten, klassischen AGS jedoch eine Rarität, schwerpunktmäßig werden die wenigen Patienten im endokrinologischen und gynäkolgischen Fachgebiet betreut.

Dass die Erkrankung im Erwachsenenalter mittlerweile selten ist, ist im Wesentlichen der guten postnatalen und pädiatrischen Versorgung in Deutschland zu verdanken. Um so bedenklicher ist es, dass bei unserem Patienten erst während der Laparotomie der erste Verdacht auf eine (wie auch immer geartete) Abnormität der Geschlechtsverhältnisse geäußert wurde. Nicht nur die zuweisende und die operierende Klinik, sondern multiple Haus- und Fachärzte hatten über Jahrzehnte Gelegenheit, die hormonelle Störung zu entdecken und zu diagnostizieren. Bereits die Anamnese des Patienten (Wachstumsverhalten), aber auch sein ausgesprochen kurzer, gedrungener Körperbau lassen an eine signifikante endokrine Störung denken.

Dem Kommentar von Jacob stimme ich daher in erweiterter Form zu: Bei unserem Patienten sind offenbar auf ganzer Breite, d. h. sowohl im klinischen wie auch im niedergelassenen Bereich die sorgfältige Anamneseerhebung und die körperliche Untersuchung unterblieben. Nicht nur der Chirurg in der Klinik, auch die niedergelassenen Kollegen leiden unter den Mängeln des »Akkord-Systems« in der Medizin. Dieses Defizit kann auch nicht durch das Argument entkräftet werden, dass viele und vor allem ältere Patienten Hemmungen haben, sich spontan zu Problemen sexueller Natur zu äußern.

Vor Kurzem wurde publik, dass 97 % des menschlichen Genoms entschlüsselt wurden. Dennoch: Auch im Zeitalter der medizinischen Revolutionen bleibt die eingehende Befragung und gründliche Untersuchung des Patienten primäre Grundlage unseres Handelns.

PD Dr. Markus J. Seibel

Abteilung Endokrinologie und Stoffwechsel Medizinische Klinik und Poliklinik Universität Heidelberg

Bergheimerstr. 58

69115 Heidelberg