TumorDiagnostik & Therapie 2000; 21(3): 59-60
DOI: 10.1055/s-2000-7504
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bedeutung der Palliativmedizin in der Behandlung des Krebskranken

M. Kloke
  • Innere Universitätsklinik und Poliklinik Tumorforschung, Westdeutsches Tumorzentrum Essen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Von den jährlich 300 000 Neuerkrankungen an Krebs in Deutschland können bislang ca. 45 % durch primäre chirurgische, strahlen- oder chemotherapeutische Behandlungsstrategien geheilt werden. 15 % der primär kurativ behandelten Patienten erleiden ein Rezidiv ihrer Erkrankung. In der inkurablen Situation haben die Bemühungen der Tumorforschung bei zahlreichen Patienten zu einer Verlängerung des Lebens geführt. Diese Gesamtentwicklung zwingt zu einem Paradigmawechsel: nicht mehr ausschließliche Fokussierung auf die Weiterentwicklung tumorspezifischer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, sondern Initiierung gleichgewichtiger Anstrengungen auf dem Gebiet der symptomorientierten Diagnose und Therapie bei Tumorerkankungen. So gilt es, bei Feststellung der Inkurabilität nicht dem verbliebenen Leben Zeit, sondern der verbliebenen Zeit Leben hinzuzufügen. Neben einem hohen Maß an medizinischem Wissen, Können und Fähigkeiten erfordert dieses von allen Beteiligten eine Haltung, die Ethik und Subsidiarität als wesentliche Bestandteile ärztlichen Forschens und Handelns bewusst (erneut) zu etablieren bereit ist.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte 1990 Palliativmedizin als die „umfassende und aktive Behandlung von Patienten, deren Erkrankung einer kurativen Therapie nicht mehr zugänglich ist, und für die das Behandlungsziel die bestmögliche Lebensqualität für sie selbst und ihre Angehörigen ist” und räumte ihr höchste Priorität ein. Dies konnte auch auf dem Hintergrund erheblicher Fortschritte auf dem Gebiet der Schmerztherapie (u. a. durch Einführung der oralen retardierten Opioide) und einer stetigen Weiterentwicklung der Strategien zur Symptomkontrolle (z. B. Konzepte bei terminal deliranten Zuständen, nicht-operablen intestinalen Obstruktionen, Atemnotsyndromen etc.) geschehen. Somit kann Palliativmedizin als ein Gesamtkonzept mit folgenden Inhalten gesehen werden:

optimierte Schmerztherapie und Symptomkontrolle Integration psychischer, sozialer und spiritueller Bedürfnisse des Patienten und seiner Angehörigen in den Phasen des Krankseins, des Sterbens und der Trauer. Kompetenz in wichtigen Fragen der Kommunikation und Ethik Akzeptanz des Todes als Bestandteil des Lebens und Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens und Sterbens; explizite Ablehnung aktiver Sterbehilfe.

Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass palliativmedizinische Kompetenz zwar besonders in weit fortgeschrittenen, grundsätzlich aber in allen Phasen einer Tumor- oder anderer inkurabler Erkrankungen gefordert ist. Die Fokussierung in der Hämato-Onkologie auf die Optimierung tumorreduktiver Therapien hat neben ihren diesbezüglichen Erfolgen aber auch zu palliativmedizinischen Defiziten sowohl in der onkologischen Aus- und Weiterbildung als auch auf forscherischem Gebiet geführt. Als Reaktion auf die palliativmedizinische Unter- und Fehlversorgung hat die Hospizbewegung auch in Deutschland rasch Fuß gefasst. Zwar wird die Interdisziplinarität als unverzichtbares Prinzip in der Behandlung des Tumorpatienten von allen Beteiligten akzeptiert, die hierzu erforderliche gegenseitige Wertschätzung der beteiligten Fachdisziplinen scheint im Moment jedoch einem gegenseitigen Vorwerfen von Versäumnissen in der Vergangenheit und aktuellen Defiziten zum Opfer gefallen zu sein. So hat man bei vielen Diskussionen zwischen Palliativmedizinern und Onkologen den Eindruck, dass der Patient in einen kaukasischen Kreidekreis geraten ist. Dieses ist umso bedauerlicher, als Deutschland im Vergleich zu vielen westlichen Ländern bezüglich der Integration der Palliativmedizin in das Gesundheitssystem als Entwicklungsland mit allen sozio-ökonomischen und auch sozial-ethischen Folgen gelten muss. Als Maß hierfür können die Diskrepanz zwischen der nach internationalen Erfahrungen benötigten Anzahl der Palliativbetten pro 1 Million Einwohner (50) und der in Deutschland tatsächlich vorhandenen (3!) sowie die fehlende Einführung dieses Gebietes in die Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegenden gelten.

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Initiative der European Society for Medical Oncology (ESMO) zu, die die Integration der Palliativmedizin in die Onkologie zu einer „Task Force” mit folgenden Schwerpunkten erklärt hat:

Förderung pallativmedizinischer Aspekte in der Patientenversorgung, Ausbildung und Forschung; Entwicklung von Leitlinien zur Palliativmedizin. Etablierung ESMO-zertifizierter „Center of Excellence for Palliative Care” Förderung eigenständiger palliativmedizinischer Forschung und Integration dieser Aspekte in die onkologische Forschung Integration einer obligatorischen palliativmedizinischen Ausbildung in die Weiterbildung zum europäischen Onkologen.

In einem ersten Schritt hat die Deutsche Krebsgesellschaft in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes 1999 nationale Leitlinien zur Tumorschmerztherapie entwickelt und sie gleichwertig in den Katalog der spezifischen Therapieleitlinien aufgenommen (Tumordiagnostik und Therapie 20/1999, 105 - 129). In Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) wird dieses Jahr bereits ein ESMO-zertifiziertes Basiskurrikulum Palliativmedizin für onkologisch tätige Ärzte durchgeführt.

Fazit: Die Integration palliativmedizinischer Inhalte und Fähigkeiten in jede onkologische Behandlung ist zwingend notwendig. Die besonderen Aufgaben der palliativmedizinischen Forschung und Ausbildung können vermutlich effizienter von spezialisierten Einrichtungen wahrgenommen werden.

Dr. med. Marianne Kloke

Koordinatorin der Arbeitsgruppe Tumorschmerzleitlinien der DIVS Innere Universitätsklinik und Poliklinik (Tumorforschung) Westdeutsches Tumorzentrum

Hufelandstr. 55

45122 Essen

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