Zentralblatt für Kinderchirurgie 2001; 10(3): 79-82
DOI: 10.1055/s-2001-16621
Leitartikel

J.A.Barth Verlag in Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co.KG

Zwischenfälle in der Medizin: Irren ist menschlich (I)

B. Kehrer
  • Ostschweizer Kinderspital (Chefarzt: Dr. B. Kehrer), St. Gallen, Schweiz
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Publication Date:
24 August 2001 (online)

Einleitung

Aufgabe jedes Spitals ist es, seinen Patienten die bestmögliche, dem neuesten Stand der medizinische Wissenschaft entsprechende Hilfe zukommen zu lassen. Voraussetzung um diese schwierige Aufgabe zu erfüllen, ist nicht nur, dass wir die richtigen medizinischen Maßnahmen treffen, sondern diese auch fehlerfrei anwenden. Bei dieser anspruchsvollen Tätigkeit können sich nun aber jederzeit unbeabsichtigte Fehler ereignen, die den Patienten gefährden.

Die moderne Medizin entwickelt sich mit einem Tempo wie nie zuvor und hat einen Stand erreicht, der noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar war. Möglich wurde dieser Fortschritt durch immer wirksamere und damit auch eingreifendere und komplexere therapeutische Maßnahmen, die zunehmend schwieriger zu überblicken und zu beherrschen sind. Nun birgt aber jede medizinische Handlung die Gefahr in sich, dem Patienten Schaden zuzufügen, beispielsweise durch unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten, falschem Einsatz von therapeutischen Mitteln, technischen Mängeln an Geräten, Unkenntnis, Fehlleistungen und Fehlbeurteilungen, Verwechslungen etc. Die Liste der Fehlerquellen, die den Patienten in irgendeiner Weise schädigen könnten, ist erschreckend lang.

Mit der Komplexität der Therapie steigt zwangsläufig die Gefahr, dass der Patient durch unbeabsichtigte Zwischenfälle (Critical Incidents) gefährdet wird. Im besten Fall bleiben solche Zwischenfälle ohne Folgen, unter ungünstigen Umständen können sie dem Patienten schweren Schaden zufügen oder sogar seinen Tod zur Folge haben.

Wichtigstes Ziel jeder Qualitätssicherung muss deshalb sein, solche Zwischenfälle zu erkennen, zu analysieren und wenn immer möglich, zu verhindern.

Während in anderen Fachgebieten mit ähnlicher Problematik diese Notwendigkeit längstens erkannt wurde und man die Probleme mit größter Sorgfalt studiert und angeht, scheint in der Medizin diese zentrale Erkenntnis verdrängt oder gar nicht zur Kenntnis genommen zu werden.

In der Aviatik werden beispielsweise alle Zwischenfälle unabhängig von deren Ausgang registriert, minutiös analysiert und nach Maßnahmen gesucht, die eine Wiederholung des gleichen Geschehens verhindern oder verunmöglichen. Dabei werden über Ursachen und Entstehungsmechanismen solcher „critical incidents” wertvolle Erkenntnisse gewonnen. Diese werden in gezielte Strategien und Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit umgesetzt, für die man weder Mühe noch Kosten scheut. Nur so ist es in der Aviatik möglich geworden, einen Sicherheitsstandard zu erreichen und zu erhalten, von dem wir in der Medizin noch meilenweit entfernt sind.

Auch in der Medizin ist Qualitätssicherung ohne Analyse von „critical incidents” und ohne Strategien zu deren Verhinderung eine Selbsttäuschung. Sie gleicht einer Fluggesellschaft, deren primäre Sorge der Qualität des Make-up ihrer Flight Attendants gilt und nicht der minutiösen Erforschung und Verhütung von Unfällen. Eine solche Fluggesellschaft hätte keine Überlebenschancen.

Korrespondenzadresse:Dr. med. Beat Kehrer

Ostschweizer Kinderspital
FMH für Kinderchirurgie

Claudiusstraße 6

CH-9006 St. Gallen

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