Balint Journal 2001; 2(4): 114-115
DOI: 10.1055/s-2001-18622
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Aufklärungspflicht - Weisungsrecht - Wahrheit am Krankenbett[*]

Hans H. Dickhaut
  • Eisenstadt, Österreich
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Publication Date:
27 November 2001 (online)

In einer von mir geleiteten Balint-Gruppe stellte sich die Frage, was gewichtiger sei - die Pflicht des behandelnden Arztes, dem kranken Menschen die Wahrheit über die Befunde und die Diagnose zu sagen oder die Pflicht des angestellten Arztes, dem Weisungsrecht des Primarius/Chefarztes Folge zu leisten, wenn dieser ausdrücklich verboten hat, dem kranken Menschen die Wahrheit zu sagen. Dieser Frage lag das Fallbeispiel einer Teilnehmerin in der Gruppe zugrunde:

In einer Klinik lag eine Patientin (etwa 45 Jahre alt), die in der gleichen Klinik als Sekretärin angestellt war, aber jetzt als Kranke stationär wegen Kreuzschmerzen behandelt wurde. Die eingehende Untersuchung ergab eine Ca-Metastasierung in der Wirbelsäule von einem noch nicht bekannten Primärkarzinom. Der Chefarzt verbot den zuständigen Ärzten (somit auch der Ärztin aus meiner Balint-Gruppe) und Krankenschwestern ausdrücklich, die Patientin über die Diagnose zu informieren. Erst unter massivem Druck des Ehemannes und einer zunehmend erkennbaren Beunruhigung der Patientin, weil niemand mit ihr eingehender sprechen wollte, fand sich eine Oberärztin, die mit der Patientin offen über ihre Krebserkrankung sprach.

Im Fortbildungsbrief Nr. 46 hatte ich die Frage „Darf der Arzt die Wahrheit sagen?“ in folgender Weise beantwortet: Jeder mündige Patient - im Zweifel auch ein juristisch noch nicht mündiger Jugendlicher (beschränkt geschäftsfähig sind Kinder zwischen 7 und 14 Jahren; eine erweiterte Geschäftsfähigkeit haben Kinder zwischen 14 und 19 Jahren) - hat das Recht, über seine Diagnose zuerst informiert zu werden und das Recht auf Verschwiegenheit des Arztes gegenüber den Angehörigen. Beim Umgang mit unheilbar Kranken und mit Sterbenden braucht der Arzt den Mut zur selektiven Offenheit. Nur, was der Arzt weiß, nicht was er nach seinen Erfahrungen zu wissen glaubt, ist wirklich wichtig; es gibt keine garantierten Prognosen. Der Arzt muss nicht alles sagen, was wahr ist, aber was er sagt, muss wahr sein. Die sog. fromme Lüge verträgt sich in den allermeisten Fällen nicht mit der ärztlichen Ethik, verdeckt in vielen Fällen nur die Angst des Arztes, aufrichtig im Umgang mit seinen Patienten zu sein. Dies sollte immer gelten, obwohl es vielfach von ÄrztInnen so gehandhabt wird, dass diese zuerst die Angehörigen informieren, z. B. bei Krebs und anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Der Arzt wird sich sehr überlegen müssen, was wirklich im Interesse des kranken Menschen liegt, denn das Interesse des kranken Menschen geht stets vor den Interessen der Angehörigen, auch wenn diese sich ganz offensichtlich völlig uneigennützig verhalten. Der Arzt wird immer und in jedem Fall versuchen müssen, den Willen des kranken Menschen zu ergründen; der mündige kranke Mensch hat sein gesetzlich verankertes Mitbestimmungsrecht.

Michael Balint hat für den Umgang mit Fragen zwischen Patient und Arzt darauf hingewiesen, dass es auf jede Frage vier Antworten gibt: Ja, die Wahrheit; Ja, gelogen; Nein, die Wahrheit, Nein, gelogen. Mithin hat der behandelnde Arzt die Pflicht, die wirklichen Bedürfnisse des kranken Menschen zu erspüren: er hat Dolmetscher für den Kranken zu sein. Im „Lexikon Medizin Ethik Recht“ (Herder-Verlag) heißt es unter dem Stichwort „Angehörige“: „Die Schweigepflicht des Arztes über ihm anvertraute oder sonst bekannt gewordene Geheimnisse des Patienten besteht grundsätzlich auch gegenüber Angehörigen. Etwas anderes gilt zu Lebzeiten des Patienten nur, wenn der Arzt eine besondere Offenbarungsbefugnis hat, wobei sich eine solche hier insbesondere aus einer Einwilligung bzw. mutmaßlichen Einwilligung des Patienten, bei Bestehen eines anders nicht lösbaren Interessenkonfliktes, ausnahmsweise auch aus den Regeln über den rechtfertigenden Notstand (§ 3 StGB) ergeben kann. Es würde zu weit führen, hier näher darauf einzugehen. Es ist ohnehin eine nicht zu vernachlässigende Pflicht jedes Arztes, sich ausreichend über seine gesetzlichen und sonstigen Rechte und Pflichten zu informieren. Bei Unklarheiten ist die Rechtsabteilung der Ärztekammer der Ansprechpartner.“

Als hinweisende Literatur empfehle ich das „Lexikon Medizin, Ethik, Recht“, Herausgeber: Albin Eser, Markus von Lutterotti, Paul Sporken im Herder-Verlag Freiburg, Basel, Wien, mit einem eigenen Kapitel über die „Arzt-Patient-Beziehung“, 1989.

Um das oben ausgeführte Problem in der Balint-Gruppe zufriedenstellend lösen zu können, hatte ich an die Rechtsabteilung der Ärztekammer geschrieben (wörtlicher Auszug): Die Frage der Kollegin in der Gruppe lautete: „Kann ein vorgesetzter Arzt den an der Klinik angestellten ÄrztInnen ein solches Verbot erteilen?“ Uns ist völlig klar, dass eine Nichtbeachtung des Verbots Probleme für die untergebenen ÄrztInnen bringen kann. Es geht mit um die Eindeutigkeit der Rechtslage, ob ein Chefarzt ein solches Verbot erteilen kann? Daraufhin schrieb mir der Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Herr Prim. Dr. med. Michael Neumann, einen Brief, den ich mit seinem Einverständnis hier wörtlich anfüge:

Die österreichische Ärztekammer darf zu der in Ihrer Balint-Gruppe aufgetretenen Frage, ob ein vorgesetzter Arzt seinen nachgeordneten Ärzten die Weisung erteilen kann, Patienten bspw. über Metastasierungen in der Wirbelsäule nicht aufzuklären, wie folgt Stellung nehmen:

Das von Ihnen angesprochene Aufklärungsverbot ist rechtlich als Weisung zu qualifizieren. Für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Weisung sind nicht nur dienst- bzw. arbeitsrechtliche, sondern auch berufsrechtliche Kriterien heranzuziehen.

§ 22 ÄrzteG legt als ärztliches Berufsrecht fest, dass ein Arzt nur nach den Regeln der ärztlichen Kunst tätig werden darf. Erscheint daher im Einzelfall eine Aufklärung aufgrund der Regeln der ärztlichen Kunst geboten, so ist der Arzt berufsrechtlich verpflichtet, den Patienten aufzuklären. Das so genannte therapeutische Privileg, wonach es zulässig sein soll, den Patienten in bestimmten Fällen nicht aufzuklären, kommt allenfalls in Ausnahmesituationen - wenn bspw. der Selbstmord eines Patienten nach der Aufklärung zu befürchten wäre - zum Tragen.

Dienst- bzw. arbeitsrechtlich ist die Zulässigkeit einer Weisung nach jeder Rechtsmaterie zu beurteilen, der der jeweilige Arzt unterliegt. Hier ist grundsätzlich zwischen öffentlichem Dienst und privatrechtlichem Angestelltenverhältnis zu unterscheiden. Ist der Arzt im öffentlichen Dienst beschäftigt, so hat er Weisungen seiner Vorgesetzten grundsätzlich zu befolgen, es sei denn, die Weisung wurde von einem unzuständigen Organ erteilt oder die Befolgung der Weisung würde gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen.

Im Bereich des Angestelltengesetzes ergibt sich die Zulässigkeit von Weisungen aus dem abgeschlossenen Arbeitsvertrag. Gesetzwidrige Weisungen sind nicht zulässig. Für die Beantwortung Ihrer Frage ist entscheidend, wie im Falle einander widersprechender berufsrechtlicher und dienst- bzw. arbeitsrechtlicher Verpflichtungen vorzugehen ist.

Beurteilungsmaßstab sind hier wiederum die Regeln der ärztlichen Kunst. Diese sind es auch, die die Grenzen des Weisungsrechts anzeigen. Widerspricht eine Weisung daher den Regeln der ärztlichen Kunst, so ist der Weisungsempfänger berufsrechtlich unter Umständen sogar zum Widerstand verpflichtet.

Weisungsgeber und Weisungsempfänger sind stets verpflichtet, selbst zu beurteilen, ob eine zu gebende bzw. erhaltene Weisung innerhalb der Regeln der ärztlichen Kunst liegt oder nicht. Gerade hierin liegt die Eigenverantwortlichkeit der ärztlichen Berufsausübung.

Eine Weisung eines vorgesetzten Arztes ist daher nur dann zu befolgen, wenn sich deren Durchführung innerhalb der Regeln der ärztlichen Kunst im Sinne des § 22 ÄrzteG befindet. Grundsätzlich kann ein vorgesetzter Arzt daher ein Aufklärungsverbot aussprechen, das für die nachgeordneten Ärzte bindend ist. Die Grenze derartiger Weisungen durch den vorgesetzten Arzt ergibt sich, wie oben dargelegt, jedenfalls durch strafrechtliche Normen. In dem Moment nämlich, wo die Befolgung der Weisung ein strafrechtlich relevantes Verhalten darstellt - dieses kann sich insbesondere in Form einer fahrlässigen Körperverletzung oder fahrlässigen Tötung zeigen - ist der nachgeordnete Arzt sogar verpflichtet, die Befolgung der Weisung abzulehnen. (Ende des zitierten Briefes.)

Meine Deutung dieses Briefes besagt, dass das Recht des kranken Menschen auf Aufklärung und ausreichende Information (ob ausreichend, bestimmt letztlich der kranke Mensch allein), das heißt auch die Aufklärungspflicht des behandelnden Arztes, das höhere Rechtsgut gegenüber dem Weisungsrecht eines vorgesetzten Primarius oder dergleichen darstellt. Wichtig ist der Einwand, dass es auch darum geht, ob der kranke Mensch die Wahrheit wissen will oder nicht. Seit vielen Jahren weisen umfangreiche, internationale Untersuchungen zunehmend und eindeutig auf das Bedürfnis der meisten kranken Menschen hin, sehr wohl über ihre Befunde und Diagnosen aufgeklärt und informiert zu werden, also die Wahrheit über ihre Befunde und Diagnosen zu erfahren. Ich nenne es „warmherzig-schonungslos“, aber aufrichtig. Dies gilt nur insoweit, als mir der kranke Mensch nicht zu verstehen gibt - „. . . ich will es (noch?) nicht wissen . . .“. Trotzdem aber sollte die Wahrheit immer wieder neu angeboten werden, weil der Kranke seine Meinung ja ändern kann. Die letzte Entscheidung liegt immer wieder ausschließlich beim Patienten. Es gibt für das Angebot der Wahrheit ein symbolisches Bild: Die Wahrheit wie einen wärmenden Mantel dem Kranken anbieten - er allein bestimmt, ob er den Mantel annehmen und hineinschlüpfen will oder nicht. Wichtig ist auch der Grundsatz: Alles, was der Arzt sagt, muss wahr sein. Der Arzt muss von sich aus nicht alles sagen, was wahr ist, wohl aber auf Befragung. Der Arzt darf nie lügen, auch nicht mit einer „frommen Lüge“!

Nicht wenige Ärzte projizieren aber ihre eigenen Ängste, aufrichtig mit ihren Patienten als mündige Partner umzugehen, auf die Patienten. Beliebte, aber oft nur aus Verlegenheit verwendete Argumente solcher Ärzte sind: „. . . das verträgt der Patient nicht . . .“ oder „das will er gar nicht wissen . . .“ u. a. mehr.

Beim Umgang mit unheilbar Kranken und bei Sterbenden braucht der Arzt den Mut zur selektiven Offenheit. Für beide Partner ist es schwierig, das Gespräch für den aufrichtigen Umgang miteinander zu finden. Patient und Arzt haben Ängste, die es zu erspüren gilt. Immer aber sollte der Arzt der Dolmetscher für die gemeinsame Sprache sein.

Es gilt für den behandelnden Arzt den Mut zu haben, dem kranken Menschen die Wahrheit wie einen möglicherweise wärmenden Mantel hinzuhalten, wenn nötig immer wieder als neuerliches Angebot, der Kranke kann ja seine Meinung ändern. Ob der kranke Mensch in diesen Mantel hineinschlüpfen will oder nicht, das entscheidet einzig und alleine der kranke Mensch selbst. Ich hatte die Balint-Gruppe immer wieder darauf hingewiesen, dass der kranke Mensch das Recht habe, zuallererst über alles, was ihn betrifft, informiert zu werden.

1 (Im Folgenden verwende ich Arzt, Patient und andere Begriffe bewusstfür beide Geschlechter)

1 (Im Folgenden verwende ich Arzt, Patient und andere Begriffe bewusstfür beide Geschlechter)

Dr. Hans H. Dickhaut





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7000 Eisenstadt

Österreich