Aktuelle Neurologie 2002; 29: 2-5
DOI: 10.1055/s-2002-27805
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Unerwünschte Wirkungen von Antiepileptika: Eine interdisziplinäre Herausforderung

Side Effects of Anticonvulsants - An Interdisciplinary ChallengeBettina  Schmitz1
  • 1Neurologische Klinik und Poliklinik, Charité, Humboldt-Universität Berlin
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Publication Date:
03 May 2002 (online)

„Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht.”

Hippokratischer Eid

In der Praxis sind Nebenwirkungen von wirksamen Medikamenten, wozu auch unsere Antiepileptika (AE) gehören, nicht ganz zu vermeiden. Erwartet wird von dem Arzt, dass er die Nebenwirkungsprofile der AE, die er verordnet, gut kennt. Dies ist durch die Einführung zahlreicher neuer AE (in Deutschland wurden seit 1991 acht neue AE zugelassen) schwieriger geworden (Tab. [1]).

Tab. 1 Chronik der Antiepileptika. antike Antiepileptika Brom, Phenobarbital klassische Antiepileptika Phenytoin, Ethosuximid, Carbamazepin, Valproat neue Antiepileptika Vigabatrin, Lamotrigin, Felbamat, Gabapentin, Tiagabin, Topiramat, Oxcarbazepin, Levetirazetam zukünftige Antiepileptika Dezinamid, Fosphenytoin, Harkoseride, Pregabalin, Progabid, Remazemid, Retigabin, Rufinamid, Zonisamid, …

Um mit dem erweiterten AE-Repertoire optimal umzugehen, müssen wir die Nebenwirkungsprofile aller Substanzen, die individuell sehr verschieden sind, gut kennen. Dabei dürfen wir die „alten” AE nicht vergessen, die, nicht nur weil sie preiswerter sind, weiterhin als Medikamente der 1. oder 2. Wahl eingesetzt werden.

Die bessere Verträglichkeit im Vergleich zu konventionellen AE ist ein wesentliches Argument für den Einsatz der neuen AE. In Monotherapiestudien hat sich im Vergleich zum Carbamazepin bei den meisten Substanzen eine Überlegenheit hinsichtlich der Verträglichkeit bestätigt [1] [2] [3] [4] [5]. Eine Ausnahme ist das Topiramat, wobei dies vielleicht durch eine unnötig hohe Topiramatdosis erklärt werden kann (Tab. [2]).

Tab. 2 Verträglichkeit der neuen Antiepileptika versus Carbamazepin (Monotherapiestudien). Vigabatrin besser Kalviäinen 1996 1 Lamotrigin besser Brodie 1995 2 Gabapentin besser Murray 1997 3 Oxcarbazepin besser Bill 1997 4 Tiagabin ? Topiramat gleich Privitera 2000 5 Levetirazetam ?

Die erhoffte Harmlosigkeit der neuen AE hat sich nicht für alle Substanzen bestätigt. Besonders beunruhigend war die Entdeckung von Gesichtsfelddefekten bei Vigabatrin. Dieses GABAerge Antiepileptikum, das in den 80er Jahren klinisch geprüft, in Deutschland 1991 zugelassen wurde, führt bei 40 - 50 % der exponierten Patienten zu einer irreversiblen konzentrischen Gesichtsfeldeinengung (Schmitz, dieses Heft). Diese Nebenwirkung ist aus zwei Gründen besorgniserregend:

hatte es sehr lange gedauert bis das Problem überhaupt erkannt wurde (die ersten Fälle wurden 1997 publiziert), aufgrund des Wirkmechanismus hatte niemand mit einem retinotoxischen Effekt gerechnet.

Die Gesichtsfeldeinschränkung unter Vigabatrin ist nicht die einzige schwerwiegende Nebenwirkung eines Antiepileptikums, die erst nach der Zulassung bekannt wurde (ein anderes Beispiel ist die Hämatotoxizität und die Hepatotoxizität von Felbamat). Auch bei anderen AE sind Probleme aufgetreten, die zuvor unbekannt und deshalb unerwartet waren (Beispiel: nonkonvulsiver Status epilepticus unter Tiagabin); wieder andere Nebenwirkungen erfordern spezifische Untersuchungsverfahren (Beispiel: Urolithiasis unter Topiramat). Auch bei unseren alten AE werden immer noch „neue” Nebenwirkungen entdeckt (Beispiel: polyzystische Ovarien bei Valproat, s. Khatami, dieses Heft). Die Nebenwirkungen der neuen AE haben nach einer optimistischen Dekade zu einer gewissen Ernüchterung hinsichtlich der medikamentösen Behandlungsoptionen der Epilepsien geführt.

Literatur

  • 1 Kalviäinen R, Äikiä M, Saukkonen A M. et al . Vigabatrin versus carbamazepine monotherapy in patients with newly diagnosed epilepsy.  Arch Neurol. 1995;  52 989-996
  • 2 Brodie M J, Richens A, Yuean A WC. Double blind comparison of lamotrigine and carbamazepine in newly diagnosed epilepsy.  Lancet. 1995;  145 476-479
  • 3 Murray G, Anhut H, Greiner M J. et al . Gabapentin (Neurontin) monotherapy: Results of a multicenter study comparing gabapentin and carbamazepine in patients with newly diagnosed partial seizures.  Epilepsia. 1997;  Suppl 8 205
  • 4 Bill P, Vigonius U, Pohlmann H. et al . A double-blind controlled trial of oxcarbazepine versus phenytoin in adults with previously untreated epilepsy.  Epilepsy Research. 1997;  27 195-204
  • 5 Privitera M D, Brodie M J, Neto W. et al . Monotherapy in newly diagnosed epilepsy: Topiramate versus investigator choice of carbamazepine or valproate.  Epilepsia. 2000;  41, Suppl Florence 138
  • 6 Bates D W, Cullen D J, Laird N. et al . Incidence of adverse drug events and potential adverse drug events. Implications for prevention. ADE prevention study group.  JAMA. 1995;  274 29-34
  • 7 Pfäfflin M, May T W, Stefan H, Adelmeyer U. Prävalenz, Behandlung und soziale Aspekte von Epilepsien in Deutschland. Erste Ergebnisse einer epidemiologischen Querschnittsstudie (EPIDEG).  Epilepsieblätter. 1997;  10 15-20
  • 8 Venning G R. Identification of adverse reactions to new drugs. IV-Verification of suspected adverse reactions.  Br Med J. 1983;  286 544-547
  • 9 Beckmann J. Aufgaben und Tätigkeiten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm) im Bereich der Pharmakovigilanz auf nationaler und internationaler Ebene. In: Müller-Oerlinghausen B, Lasek R, Düppenbecker H, Munter KH (Hrsg) Handbuch der unerwünschten Arzneimittelwirkungen. München, Jena; Urban & Fischer 1999: 555-571
  • 10 Alastair J, Wood J. Editorial: Thrombotic thrombocytopenic purpura and clopidogrel - a need for new approaches to drug safety.  N Engl J Med. 2000;  342 1824-1826
  • 11 Glauser T A. Idiosyncratic reactions: new methods of identifying high-risk patients.  Epilepsia. 2000;  41, Suppl 8 16-29
  • 12 Prokai L, Prokai-Tatrai K, Bodor N. Targeting drugs to the brain by redox chemical delivery systems.  Med-Res-Rev. 2000;  20 367-416

Dr. med. Bettina Schmitz

Neurologische Klinik und Poliklinik · Charité · Humboldt-Universität Berlin

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