Z Geburtshilfe Neonatol 2002; 206(2): 45-47
DOI: 10.1055/s-2002-30135
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Thrombophile Risikofaktoren und Schwangerschaftskomplikationen - Anspruch und Realität

Thrombophilic risk factors and complications during pregnancy -
Expectations and reality
W.  Rath1 , L.  Heilmann2
  • 1Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, Universitätsklinikum Aachen
  • 2Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe, Stadtkrankenhaus Rüsselsheim
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Publication Date:
16 May 2002 (online)

Die rasanten Fortschritte in der Molekulargenetik und weltweite intensive Forschungsaktivitäten haben dazu geführt, dass das Informationsspektrum zu neuen Mutationen und Polymorphismen auch in der Geburtshilfe für den Einzelnen inzwischen unüberschaubar geworden ist. Mit dieser rasanten Entwicklung kann die klinisch-empirische Forschung zu korrelierenden Schwangerschaftspathologien nur mühsam Schritt halten, ganz zu schweigen von bewiesenen pathogenetischen Zusammenhängen oder im Sinne der evidence based medicine gesicherten Empfehlungen zur Prävention und Therapie.

Ungeachtet der meist ungeklärten und/oder als multifaktoriell eingestuften Ätiologie verschiedener Schwangerschaftspathologien hat die Thrombophilieforschung der letzten Jahre allen betroffenen Frauen Hoffnung gemacht, denen noch vor kurzem mit dem Hinweis auf den „idiopathischen” Charakter ihrer Erkrankung therapeutischer Nihilismus oder schwer zu begründender Polypragmatismus entgegengebracht wurde. Dies betrifft Frauen mit wiederholten Spontanaborten, die immerhin 1 - 3 % aller Schwangerschaften ausmachen, dies betrifft aber auch immerhin 5 - 12 % aller Schwangeren, die eine schwere intrauterine Wachstumsrestriktion, einen intrauterinen Fruchttod, eine Präeklampsie/Eklampsie oder ein HELLP-Syndrom oder eine vorzeitige Plazentalösung in Ihrer Anamnese aufweisen und die das Wiederholungsrisiko derartiger Komplikationen in einer erneuten Schwangerschaft fürchten. Sämtliche dieser Schwangerschaftskomplikationen sind in unterschiedlichem Ausmaß von einer pathologischen Aktivierung des Gerinnungssystems, einer gestörten Trophoblastinvasion und einer obliterierenden plazentaren Vaskulopathie mit Thrombosierung, Atheromatose, Infarzierung und pathologischer Endothelzellaktivierung gekennzeichnet, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwangerschaft manifest werden können.

Nach Blumenfeld (1999) gilt als wahrscheinlich und in einigen Konstellationen auch als gesichert (z. B. IUFT), dass zwischen den genannten Schwangerschaftskomplikationen und angeborenen Inhibitor-Mangel-Zuständen (Antithrombin III, Protein S, Protein C), der Faktor-V-Leidenmutation, der MTHFR(Methylen-tetrahydrofolat-reduktase)-Mutation und der Prothrombinmutation sowie erworbenen Thrombophilien wie dem Nachweis von Antiphospholipidantikörpern (Lupusantikoagulanz, Antikardiolipinantikörper) enge Assoziationen bestehen. Entsprechend diesen Erkenntnissen und in Anlehnung an die SAPPORO-Kriterien wurde bei folgenden Konstellationen ein „Thrombophiliescreening” empfohlen: Thrombosen in Familien- und Eigenanamnese, wiederholte Spontanaborte (< 10. SSW), Totgeburt und Spätabort, Präeklampsie/Eklampsie und HELLP-Syndrom, vorzeitige Plazentalösung und schwere Plazentainsuffizienz mit intrauteriner Wachstumsrestriktion.

Diesen Kenntnisstand verlangt jede betroffene Frau von ihrem die Schwangerschaft betreuenden Geburtshelfer. Im Sinne eines vertrauensvollen Arzt-Patientinnen-Verhältnisses sollte der Geburtshelfer in der Schwangerenvorsorge der Patientin, die im Allgemeinen durch vorangegangene Schwangerschaftskomplikationen belastet und häufig verängstigt ist, eine klare Risikoabschätzung und damit verbunden ein schlüssiges Behandlungskonzept für eine erneute Schwangerschaft liefern und die Aufgabe eines fundierten Beratungsgespräches nicht an andere Fachdisziplinen weitergeben. Dies verlangt aber nicht nur die Kenntnis der derzeit relevanten angeborenen und erworbenen thrombophilen Risikofaktoren und der Indikationen zum Thrombophiliescreening, sondern auch die Kenntnis aus der Literatur bekannter Präventionsstrategien und deren Erfolgsaussichten.

Eine Analyse der bisherigen Studienlandschaft zur Thrombophilie in der Geburtshilfe zeigt aber, dass der derzeitige Kenntnisstand und die damit zu verbindenden therapeutischen Konsequenzen noch auf tönernen Füßen stehen. Dies betrifft zunächst konträre wissenschaftliche Ergebnisse über Häufigkeit und Bedeutung thrombophiler Faktoren bei unterschiedlichen Schwangerschaftskomplikationen: Aus einer Sammelstatistik von 13 Studien der Jahre 1997 bis 2000 ergab sich eine Prävalenz der Faktor-V-Leidenmutation bei wiederholten Spontanaborten zwischen 6 - 32 % im Vergleich zu 2 - 10 % in Kontrollkollektiven, wobei in 10 dieser Studien statistische Signifikanz erreicht wurde. Demgegenüber wurde soeben von einer Londoner Arbeitsgruppe (Rai et al. 2001) keine erhöhte Prävalenz der Faktor-V-Leidenmutation im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bei über 1000 Frauen mit wiederholten Früh- und Spätaborten nachgewiesen, zu vergleichbaren Ergebnissen kamen auch jüngste Studien aus Japan und aus New Haven, USA. Uneinheitlich ist auch die Datenlage bei der Prothrombinmutation; hier stehen 6 Studien mit statistisch nicht signifikant erhöhtem Risiko für wiederholte Spontanaborte zwei kürzlich publizierten Untersuchungen gegenüber, die über eine 2,2 - 3fach erhöhte Rate an wiederholten Spontanaborten bei Prothrombinmutation berichteten.

Besonders deutlich wird die Problematik unterschiedlicher Studienergebnisse zur Prävalenz und Bedeutung thrombophiler Risikofaktoren bei der Präeklampsie. Eine Literaturzusammenstellung der Jahre 1997 - 2000 zeigte in 6 Studien (Patientinnenzahlen zwischen 50 - 110) eine mit 19 - 26,4 % deutlich erhöhte Prävalenz an Faktor-V-Leidenmutationen bei Präeklampsie (Kontrollgruppe: 1,4 - 10 %), eine soeben publizierte prospektive Querschnittsstudie aus den USA (Livingston et al. 2001) dagegen bei 110 Schwangeren mit Präeklampsie keine erhöhte Inzidenz an Faktor-V-Leidenmutationen (4,4 versus 4,3 %) und ebenfalls - im Gegensatz zur Literatur (20,5 - 29,5 %) - keine erhöhte Inzidenz an MTHFR - (9,6 versus 6,8) und Prothrombinmutationen (0 versus 1,1 %).

Analysiert man nun die aktuelle Literatur hinsichtlich geographisch-ethnischer Unterschiede, so stehen 6 Studien mit erhöhter Inzidenz an Faktor V Leiden- und MTHFR-Mutationen ebenfalls 6 Studien ohne signifikanten Unterschied zu Kontrollgruppen gegenüber, wobei sogar Unterschiede innerhalb eines Landes unübersehbar sind . Die Problematik ethnischer Unterschiede wird vor allem in den USA deutlich; hier weisen farbige Amerikanerinnen zwar ein höheres Risiko für eine Präeklampsie auf als weiße, andererseits aber auch eine geringere Inzidenz an Mutationen; in die gleiche Richtung deuten auch Untersuchungen aus Afrika, die bei Zulu-Müttern mit Präeklampsie keine erhöhte Rate an MTHFR-Mutationen fanden.

So dürften kontroverse wissenschaftliche Ergebnisse zur Prävalenz zumindest teilweise auf die erhebliche ethnische Varianz innerhalb einzelner Studien, aber auch im Vergleich der Studien untereinander zurückzuführen sein.

Ein weiteres Problem betrifft die klare und einheitliche Definition von Erkrankungen; eine detaillierte Betrachtung publizierter Untersuchungen weist eine unübersehbare Heterogenität in der Definition hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen und intrauteriner Wachstumsrestriktionen, in den unter dem Begriff „fetal loss” subsummierten Schwangerschaftspathologien und in der Klassifikation des Antiphospholipidsyndroms auf; hier sollten künftig international anerkannte Definitionen, wie sie zum Beispiel für das Antiphospholipidsyndrom in den SAPPORO-Kritierien festgelegt wurden, Verwendung finden. Dies gilt auch für die zum Teil mangelhafte Standardisierung angewandter laborchemischer Verfahren beispielsweise beim Nachweis von Antiphospholipidantikörpern.

Zu berücksichtigen sind auch unterschiedliche Studienansätze: So wurde in einigen Untersuchungen (z. B. EPCOT-Studie 1999) primär Frauen mit angeborenen oder erworbenen Thrombophilien hinsichtlich resultierender Schwangerschaftspathologien analysiert, in anderen selektionierte und unselektionierte Studienpopulationen mit und ohne Schwangerschaftskomplikationen hinsichtlich der Prävalenz thrombophiler Risikofaktoren (z. B. Rai-Studie 2001).

Nicht zuletzt muss kritisch hinterfragt werden, in wieweit Rückschlüsse auf die Bedeutung thrombophiler Risikofaktoren aus Studien mit kleinen Fallzahlen gezogen werden dürfen. So wurde bei vorzeitiger Plazentalösung die Hyperhomozysteinämie mit einer Inzidenz von 26 - 31 % bereits als Risikofaktor und kombinierte heterozygote Enzymdefekte der MTHFR als „genetischer Marker” für diese schwere Schwangerschaftskomplikation propagiert; die Analyse dieser Studie ergibt aber Fallzahlen weit unter 50 Patientinnen mit vorwiegend heterogener vaskulärer Plazentapathologie.

Unklar ist bisher auch die Bedeutung und die pathogenetische Wertigkeit einzelner thrombophiler Faktoren bei Frauen, bei denen Kombinationen verschiedener angeborener und erworbener Thrombophilien vorliegen; d. h. welcher thrombophile Risikofaktor bei derartigen Kombinationen welche Dominanz hinsichtlich der Pathogenese aufweist, bedarf der Klärung, nicht zuletzt im Hinblick auf die daraus abzuleitenden therapeutischen Konsequenzen. Immerhin ergaben sich in 2 Studien bei Frauen mit wiederholten Aborten in 50 - 52 % der Fälle Kombinationen verschiedener thrombophiler Polymorphismen.

Kein Zweifel besteht daran, dass der Nachweis von Antiphospholipidantikörpem mit einem hohen Risiko für Schwangerschaftskomplikationen assoziiert ist. Intrauterine Fruchttode treten in bis zu 25 % der Fälle auf, das Risiko für eine intrauterine Wachstumsrestriktion und eine Präeklampsie ist um das 18- bzw. 22fache erhöht. Es lag daher nahe, dass in den letzten Jahren zahlreiche Therapiestudien, allerdings mit unterschiedlichen Entitäten, zumeist kleiner Fallzahl mit differenten Risikoprofilen und unterschiedlich hohen Antiphospholipidantikörpertitern sowie unterschiedlichem Studiendesign durchgeführt wurden. Randomisierte kontrollierte Untersuchungen bei Frauen mit positiven Antiphospholipidantikörpern und rezidivierenden Aborten ergaben, dass mit der Kombination aus Heparin und low-dose-Aspirin die besten Therapieergebnisse mit Lebendgeburtraten zwischen 70 - 80 % erreicht wurden, allerdings bei einer erstaunlich hohen Rate an Schwangerschaftskomplikationen in bis zu 30 % der Fälle. Eine Unterlassung dieser Kombinationstherapie bei wiederholten Spontanaborten ist deshalb heute nicht mehr zu rechtfertigen, ebenso wenig wie andere Therapiekonzepte mit Prednison oder Immunglobulinen (evtl. wirksam bei Versagen der Kombinationstherapie). Als weitgehend gesichert kann auch die Anwendung niedermolekularer Heparine (z. B. 40 mg Enoxaparin/Tag) beim Vorliegen einer Faktor-V-Leidenmutation und wiederholten Spontanaborten gelten, da jüngste Studien eine Erhöhung der Lebendgeburtenraten von 20 auf 75 % zeigen konnten.

Unabhängig davon sind unseres Wissens bisher nur wenige Konsensuspapiere zum Vorgehen bei thrombophilen Risikofaktoren in der Schwangerschaft publiziert worden: Zum einen von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe aus Gynäkologen, Angiologen und Hämostaseologen der Deutschen Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2001; 61 : 355 - 363), zum anderen von einer australischen (MJA 2001; 175 : 258 - 263) und einer schweizer Arbeitsgruppe (Frauenarzt 1999; 40 : 1412 - 1421).

Die deutschen Empfehlungen basieren auf einer ausgedehnten und sorgfältigen Analyse aller aus der Literatur zur Verfügung stehender aktueller Studien. Danach ist bei angeborenen Thrombophilien die Applikation von niedermolekularen Heparinen während der Schwangerschaft bis 6 Wochen post partum zu empfehlen. Diese Therapiebefürwortung ist im Sinne einer C2-Empfehlung zu verstehen, d. h. als Ergebnis aus nicht randomisierten Studien mit zeitgleichen oder historischen Kontrollkollektiven oder aus Kohortenstudien, die noch der Absicherung durch prospektive, randomisierte Untersuchungen bedürfen. Gleiches gilt auch hinsichtlich der Dosierung und der Effektivität für die Gabe von Folsäure (0,5 - 10 mg/Tag) bei homozygoter MTHFR-Mutation oder Hyperhomozysteinämie. Durch prospektive, randomisierte und verblindete Studien (A1-Empfehlung) abgesichert ist die Empfehlung der Anwendung von niedermolekularen Heparinen und 100 mg Aspirin/Tag bei Vorliegen erhöhter Antiphospholipidantikörpertiter.

Für die nächste Zukunft bleibt vor allem bei angeborenen Thrombophilien die Forderung nach randomisierten Longitudinalstudien mit ethnisch klar definierten Kollektiven, einheitlichen und international anerkannten Krankheitsdefinitionen und statistisch beweiskräftigen Patientinnenzahlen, denen eben solche prospektiven und randomisierten Behandlungsstudien folgen müssten, damit schließlich evidence based medicine-geprüfte Behandlungsempfehlungen Eingang in die klinische Praxis finden. Dabei ist damit zu rechnen, dass in Kürze neue thrombophile Polymorphismen das bisherige Spektrum noch erweitern dürften wie z. B. der PAI (Plasminogen Aktivator-lnhibitor)-1-Polymorphismus, der derzeit Gegenstand intensiver Forschung ist.

Nach unserer Auffassung kann nach gegenwärtigem medizinischen Kenntnisstand die Untersuchung auf thrombophile Risikofaktoren Frauen mit assoziierten Schwangerschaftspathologien nicht vorenthalten werden, zumal die zunehmend Internet-informierte Patientin diese Untersuchungen von ihrem Geburtshelfer verlangen dürfte. Wie in vielen Bereichen der Medizin wird aber mit kurzer zeitlicher Latenz das Problem der Kostenübernahme für Diagnostik und Therapie folgen, wobei hier zunehmend evidence based medicine-gesicherte Daten von den Kassen verlangt werden. Als Orientierungshilfe sei erwähnt, dass die kliniksinternen Kosten für ein komplettes Thrombophiliescreening bei uns ca. 450,- DM betragen. Kritisch zu prüfen in diesem Zusammenhang ist auch, ob bei anamnestischem Hinweis auf eine bestimmte Schwangerschaftspathologie immer die komplette Palette an thrombophilen Risikofaktoren untersucht werden muss, auch in diesem Punkt bestehen in der Literatur bisher keine eindeutigen Empfehlungen. Einigkeit besteht darüber, dass ein generelles Thrombophiliescreening ohne anamnestisch bekannte oder aktuelle Schwangerschaftspathologie nicht gerechtfertigt ist.

Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich rechtliche Probleme für den Geburtshelfer dann ergeben können, wenn bei belasteter Anamnese (vor allem thromboembolische Komplikationen) ein Thrombophiliescreening unterbleibt, in der Schwangerschaft und vor allem im Wochenbett (insbesondere nach der Entlassung der Patientin aus dem Krankenhaus z. B. nach Sectio caesarea) ein thromboembolisches Ereignis auftritt und die Patientin nicht adäquat und bis zum Ende des Wochenbettes mit Heparin behandelt wurde. Derartige Konstellationen sind inzwischen aus der gutachterlichen Praxis bekannt.

Der Geburtshelfer in Praxis und Klinik ist daher gut beraten, seinen Kenntnisstand zu thrombophilen Risikofaktoren einschließlich des daraus resultierenden Thromboembolierisikos, das nicht Gegenstand dieses Editorials war, auf dem laufenden zu halten.

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. med. W. Rath

Direktor der Frauenklinik

Universitätsklinikum Aachen

Pauwelsstraße 30

52074 Aachen

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