Aktuelle Ernährungsmedizin 2002; 27(3): 139-141
DOI: 10.1055/s-2002-32273
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prävention der Adipositas

Obesity PreventionM.  J.  Müller1 , M.  Mast1 , S.  Danielzik1 , C.  Spethmann1 , K.  Langnäse1
  • 1Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel
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Publication Date:
18 June 2002 (online)

Die Prävalenz der Adipositas hat in den letzten 50 Jahren stetig zugenommen und wird weiter ansteigen. Nach den aktuellen Zahlen des Bundes-Gesundheits-Surveys liegt der Median des BMI in der erwachsenen deutschen Bevölkerung bei 26 kg/m2 [1]. Dieses bedeutet, dass zur Zeit mehr als die Hälfte der Menschen übergewichtig sind. Die WHO prognostiziert den „westlichen” Gesellschaften für das Jahr 2040 einen BMI-Median von 30 kg/m2 [2]; d. h. die Hälfte der Erwachsenen wird dann adipös sein. Adipositas betrifft nicht nur die Menschen in den reichen Ländern. Sie ist heute auch für viele Menschen, welche in ärmeren Ländern leben, ein Problem [3] [4] [5]. Weltweit sind die Folgen der Überernährung heute etwa gleich häufig wie die von Hunger und Unterernährung. Es sind jeweils zwischen 800 Millionen und 1 Milliarde Menschen betroffen [2].

Der Übergang von Hunger und Fehlernährung zu Überfluss und westlichem Lebensstil bedeutet in allen Gesellschaften einen deutlichen Wechsel der Krankheitsspektren. Anstelle der früher häufigen übertragbaren Erkrankungen treten heute weltweit die nichtübertragbaren und chronischen Erkrankungen. Adipositas ist die häufigste (anteilige) Ursache erstens chronischer Erkrankungen (wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen und auch bestimmte Tumorerkrankungen) und zweitens von Behinderungen. Die diabetische Stoffwechsellage ist das entscheidende Bindeglied zwischen der Adipositas und vieler Adipositas-abhängigen Erkrankungen. Es gibt zur Zeit weltweit etwa 150 Millionen Diabetiker [6]. Angesichts der Adipositasepidemie werden auch die Inzidenz und die Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 deutlich zunehmen. Weltweit wird die zukünftige Zahl von Diabetikern auf 300 Millionen geschätzt [2] [5] [6]. Im Jahre 2025 werden alleine in Indien 57 Millionen Diabetiker leben [6]. Neben den medizinischen Problemen hat die Adipositas (besonders die ausgeprägte Adipositas) für die Betroffenen regelhaft psychosoziale Konsequenzen (wie Diskriminierung, Benachteiligung, Depressionen).

Dieser umwälzenden Entwicklung stehen Ärzte, Ernährungs- und Gesundheitswissenschaftler bisher nahezu hilflos gegenüber. Es ist davon auszugehen, dass auch unsere Gesundheitssysteme insgesamt auf die prognostizierte Entwicklung noch nicht vorbereitet sind. Unsere bisherigen Versuche der therapeutischen Problemlösung sind plausibel. Sie folgen heute auch in der Regel „evidenzbasierten Leitlinien”. Sie sind aber dennoch in der Praxis wenig erfolgreich. Ein Grund für diesen Misserfolg könnte in der Wahl des falschen, d. h. für das in Rede stehende Problem ungeeigneten, Paradigmas liegen. Unser Denken ist heute wesentlich biomedizinisch und auf den einzelnen Patienten gerichtet. Wir erhoffen uns von einem besseren Verständnis der in erster Linie molekularbiologisch vermuteten Ursachen neue Strategien für die Prävention und Behandlung der Adipositas. Molekularbiologische Grundlagenforschung ermöglicht in der Tat einen erheblichen Erkenntnisgewinn (z. B. im Hinblick auf die Neurobiologie der Appetitregulation und auch die Physiologie des Energie- und Substratstoffwechsels). Biomedizinische Forschung berücksichtigt aber nicht den sozialen, ökonomischen oder politischen Kontext des Problems. Gesellschaftliche Veränderungen, Modernisierung, das Leben in unseren Städten, das ökonomische Wachstum und auch die Globalisierung der Märkte begünstigen und stabilisieren im Alltag (d. h. beispielsweise im Haushalt, in Schulen oder am Arbeitsplatz) und in den öffentlichen Räumen sowohl eine für die Gesundheit eher ungünstige Lebensmittelauswahl als auch ein geringes Maß an körperlicher Aktivität. Der Einfluss dieser „Umweltfaktoren” ist erheblich und überwiegt die Bedeutung biologischer Faktoren [7] [8]. Biomedizinische Forschung kann schon allein aus diesem Grunde keine endgültigen Lösungen des Problems „Adipositas” finden.

Das Problem „Adipositas” ist auch tatsächlich nicht allein auf sehr „dicke” Menschen beschränkt. Im Vergleich der in unserer Gesellschaft in der Vergangenheit und der Gegenwart beobachteten und auch für die Zukunft prognostizierten BMI-Verteilungskurven wird deutlich, dass der mittlere BMI der Bevölkerung stetig angestiegen ist bzw. weiter ansteigen wird [5] [9]. Das Problem betrifft also nicht nur die adipösen Menschen, sondern eigentlich alle Menschen in einer Bevölkerung. Auch schlanke und normalgewichtige Personen sind in den zurückliegenden Jahren „dicker” geworden. Adipositas ist so gesehen auch ein gesellschaftliches Phänomen. Eine „übergewichtige Gesellschaft” hat naturgemäß einen höheren Anteil sehr „dicker” Mitglieder. Umgekehrt ist Adipositas in einer „schlanken Gesellschaft” selten. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Eine Bevölkerung mit einem mittleren BMI von 23 kg/m2 hat nur wenig Adipöse (Prävalenz < 5 %). Ein Anstieg des BMI-Medians um eine Einheit bedeutet statistisch einen Anstieg der Adipositasprävalenz um ungefähr 5 % [5].

Adipositas ist in unserer Gesellschaft nicht gleich „verteilt” [10] [11] [12]. Adipositas und ernährungsabhängige Erkrankungen zeigen deutliche und inverse soziale Gradienten. Obwohl die Beziehungen zwischen dem Sozialstatus, Gesundheitsverhalten und chronischen Erkrankungen in Deutschland bisher wenig untersucht sind, ist es offensichtlich, dass sozial schwächere Gruppen von den Problemen ernährungsabhängiger Erkrankungen häufiger betroffen sind als sozial besser gestellte Menschen. Diese Beobachtung gewinnt vor der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme verfügt und die gesetzlichen Krankenkassen für rund 90 % der Bevölkerung einen umfassenden Gesundheitsschutz gewährleisten. Soziale Ungleichheit in Gesundheit und Krankheit betrifft deshalb nicht eine Gruppe von Menschen, die durch absolute materielle Verelendung charakterisiert sind. Das Problem „durchzieht” die ganze Gesellschaft und fokussiert auf den Tatbestand der „relativen sozialen Benachteiligung” [13].

Es gibt guten Grund, die Adipositas auch als gesellschaftliches Problem zu verstehen. Eine allein auf das Individuum bezogene Sichtweise vernachlässigt den Populationsaspekt. Vice versa relativiert eine auf die Gesellschaft bezogene Sichtweise den Wert möglicher individueller Risiken (z. B. genetischer Ursachen). Die Darstellung macht auch deutlich, dass Ärzte und Ernährungswissenschaftler das Problem „Adipositas” nicht alleine lösen können. Auch wenn es möglich wäre, alle adipösen Patienten durch Beratung und Behandlung nachhaltig zu heilen, würde dies jeweils „nur” den äußersten Teil der Verteilungskurve betreffen. Der Ernährungszustand der Bevölkerung bliebe von dem Erfolg einer Therapie weitgehend unbeeinflusst. Auch eine erfolgreiche Adipositastherapie kann die gesellschaftliche Entwicklung nicht eingrenzen.

Auswege aus der Adipositasepidemie versprechen deshalb eher bevölkerungsweite Strategien, welche neben „Gesundheit und Ernährung” auch „Erziehung”, „Bildung”, „Sicherheit”, „Kultur”, „Verkehr”, „Arbeit und Soziales” sowie „Medien” berücksichtigen und miteinbeziehen. Politische Initiativen auf nationaler und kommunaler Ebene, Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Schulen und am Arbeitsplatz sowie positive Leitbilder für unsere Gesellschaft (Gesundheit) sind notwendig und wesentliche Voraussetzung für eine mittel- und langfristige Lösung des Adipositasproblems. Diese Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung treffen auf eine Gesellschaft, welche das Problem weitgehend ignoriert oder dilettantisch handhabt (siehe die Vielzahl wissenschaftlich ungeprüfter Reduktionsdiäten und auch die weitgehend unqualifizierte Darstellung der Adipositas in den Medien). So gesehen erscheint zunächst die Akzeptanz des Problems (auch durch Experten und Politiker) als ein erster und wesentlicher Schritt zu seiner Lösung.

Die Prävention der Adipositas ist wiederholt eingefordert worden [2] [5]. Konzepte und Maßnahmen der Adipositasprävention wurden ausführlich dargestellt (vgl. [2] [5] [12] [14] [15]). Unsere Erfahrungen beruhen heute auf einer Reihe von Studien, welche in den westlichen Ländern durchgeführt worden sind. Es ist daraus offensichtlich, dass die Prävention mittelfristig erfolgreich ist (vgl. [14] [15]). Die Erfahrungen zeigen aber auch den angesichts fehlender und die Gesellschaft insgesamt adressierender „Public-Health”-Maßnahmen begrenzten Erfolg einzelner Projekte. Konventionelle Ansätze der Erziehung und Wissensvermittlung sind sicher nicht geeignet, um das Problem zu lösen. Dieses gilt auch für isolierte Ansätze einzelner Programme zur Prävention, welche heute auch mit politischer und finanzieller Unterstützung in Kindertagesstätten und Schulen angeboten werden. Viele dieser Initiativen sind (wie auch die Ansätze der Adipositastherapie) natürlich plausibel. Ihr Wert ist aber durchaus kritisch zu hinterfragen. Dabei gilt, dass die heute etablierten Maßnahmen der Qualitätssicherung und Evaluation auch auf Präventionsprogramme angewendet werden müssen. Die Ergebnisse der wissenschaftlich begleiteten Programme zeigen, dass die Maßnahmen der Prävention eher die sozial besser Gestellten erreichen. Aus Sicht von „Public Health” ist dies kritisch, da Prävention so den inversen sozialen Gradienten der Ernährungsprobleme verstärken könnte. Aus diesen Beobachtungen wird deutlich, dass einfache und durchaus plausible Ansätze nicht ausreichen, dem Problem insgesamt gerecht zu werden. Es ist anzunehmen, dass Präventions- und Therapieprogramme in einer Gesellschaft, welche sich gleichzeitig in ihren verschiedenen Bereichen hin zu einer „gesunden Gesellschaft” verändern möchte, an Erfolg gewinnen würden. In diesem Sinne erscheinen „bevölkerungsweite” Erfahrungen von besonderem Wert. Ein Beispiel: Im Vergleich asiatischer Länder findet sich in Südkorea eine gemessen an der ökonomischen Entwicklung mittlere Prävalenz an Übergewicht. Schulungsprogramme für Hausfrauen sowie auch ein gezieltes soziales Marketing haben in Südkorea den Erhalt der traditionell fettarmen Ernährungsweise ermöglicht [16]. Auch diese Beobachtung belegt Möglichkeiten und den Wert von Gesundheitsförderung.

Was ist zu tun? Weder in Deutschland noch anderswo in Europa gibt es bisher einen nationalen Aktionsplan zur Adipositasprävention. Australien ist das bisher erste und einzige Land der Welt, welches eine nationale Strategie zur Adipositasprävention entwickelt hat [17]. Diese Strategie zielt auf langfristige Veränderung in Politik und „Umweltmanagement”, welche den Menschen insgesamt die Wahl eines „gesunden” Lebensstils erleichtern soll. Der Wert dieser Aktion ist kurzfristig nicht zu beurteilen. Der Aktionsplan erscheint aber plausibel. Angesichts 1. des epidemischen Ausmaßes des Problems und 2. unserer derzeit durchaus begrenzten Möglichkeiten einer Problemlösung ist es notwendig, einen solchen Aktionsplan auch in Deutschland ins Leben zu rufen. Wenn Defizite Quelle menschlichen Fortschrittes sein können, sollten wir alle die Chance nutzen. Unsere Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Deutsche Adipositasgesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie, Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen) erscheinen berufen, den Anfang zu machen. Sie sind hiermit aufgefordert, die Initiative zu ergreifen.

Literatur

  • 1 Bergmann K E, Mensink G BM. Körpermaße und Übergewicht.  Gesundheitswesen. 1999;  61, Sonderheft 2 S115-S120
  • 2 WHO .Obesity: Preventing and managing the global epidemic. Genf; WHO Technical report Series 894 2000
  • 3 Murray C JL, Lopez A D. The Global Burden of Disease. Harvard University Press 1996
  • 4 Popkin B M. An overview on the nutrition transition and its health implications: the Bellagio meeting.  Public Health Nutrition. 2002;  5 (1A) 93-103
  • 5 Kumanyika S, Jeffrey R W, Morabia A, Rittenbaugh C, Antipatis V J. Obesity prevention: the case for action.  Int J Obesity. 2002;  26 425-436
  • 6 King H, Aubert R E, Herman W H. Global burden of diabetes, 1995 - 2025: prevalence, numerical estimates, and projections.  Diabetes Care. 1998;  21 1414-1431
  • 7 Hill I O, Peters I C. Environmental contributions to the obesity epidemic.  Science. 1998;  280 1371-1374
  • 8 Egger G, Swinburn B. An „ecological” approach to the obesity pandemic.  British Med J. 1997;  315 477-480
  • 9 Müller M J, Mast M, Langnäse K. WHO warnt vor Adipositasepidemie. Werden wir eine Gesellschaft der Dicken?.  Münchener Medizinische Wochenschrift. 2001;  42 863-867
  • 10 Langnäse K, Mast M, Müller M J. Role of sociodemographic factors for the manifestation of overweight in 5 - 7-year old children.  Int J Obes. 2002;  26 566-572
  • 11 Diderichsen F, Evans T, Whitehead M. The social basis of disparities in health. In: Evans T, Whitehead M, Diderichsen F, Bhuyima A, Wirth M (eds) Challenging inequities in health. From Ethics to Action. Oxford Univ. Press 2001: 13-23
  • 12 Müller M J, Körtzinger I, Mast M, König E. Prävention der Adipositas.  Deutsches Ärzteblatt. 1998;  95 2027-2030
  • 13 Siegrist J, Joksimivic L. „Tackling inequalities in Health” - ein Projekt des „European Network of health Promotion Agencies” (ENHPA) zur Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten. Bonn; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2001
  • 14 Müller M J, Mast M, Asbeck I, Langnäse K, Grund A. Prevention of obesity - is it possible?.  Obes Rev. 2001;  2 15-28
  • 15 Müller M J, Asbeck I, Mast M, Langnäse K, Grund A. Prevention of obesity - more than an intention. Concept and first results of the Kiel Obesity Prevention Study (KOPS).  Intern J Obes. 2001;  25 (Suppl 1) S66-S74
  • 16 Lee M-J, Popkin B M, Kim S. The unique aspects of the nutrition transition in South Korea: the retention of healthful elements in their traditional diet.  Public Health Nutrition. 2002;  5 197-203
  • 17 National Health and Medical Research Council .Acting on Australias weight: a strategy for prevention of overweight and obesity. Canberra; Australian Government Publishing Service 1997

Prof. Dr. med. Manfred James Müller

Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde · Agrar- und Ernährungswissenschaftliche Fakultät · Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Düsternbrooker Weg 17 - 19

24105 Kiel

Email: mmueller@nutrfoodsc.uni-kiel.de

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