Aktuelle Rheumatologie 2002; 27(3): 155-157
DOI: 10.1055/s-2002-33130
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die rheumatoide Polyneuropathie

Rheumatic PolyneuropathyF.  Schilling1
  • 1Rheinland-Pfälzisches Rheumazentrum Mainz/Bad Kreuznach
Diskussionsbeitrag und Ergänzung zur „Rheumatologie und Neurologie” in Aktuelle Rheumatologie Heft 6/2001
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. August 2002 (online)

Unsere Rheumatologie ist eine „Systemspezialität” [1], deren auch neurologische Facette zum inter-multi-disziplinären Integral des fachlichen Selbstbewusstseins gehört, zu dem der Rheumatologe verpflichtet ist. Der hier angesprochene neurologische Aspekt dieser systemischen Nosologie ist also primär eine Evidenz rheumatologischer Erfahrung, die dann der konsiliarischen, bestätigenden oder korrigierenden Nachbarschaftshilfe des Neurologen bedarf, wenn der Befund unsicher erscheint.

Auch in Lehre und Forschung, historisch und aktuell ist die Beachtung dieser Reihenfolge nützlich. Gemeint ist hier also die durchaus notwendige Belehrung des Rheumatologen über z. B. Neuritiden oder Polyneuropathien, auch auf dem gehobenen Fortbildungsniveau, das der Zeitschrift „Aktuelle Rheumatologie” u. a. als Auftrag gilt. Man möge dabei aber bedenken, dass dieser Informationsmodus mit seinen Quellen überwiegend neurologischer Erfahrung und Literatur in Bezug auf ein anderes Fachgebiet bzw. auf nicht primär neurologische Krankheitskollektive nicht unmittelbar verwertbar ist. Die Sicht des Neurologen in Richtung z. B. auf die Rheumatologie ist also „schräg” und nicht direkt „senkrecht” auf die nosologische, also rheumatologische Wirklichkeit gerichtet. Diese nämlich muss vom Rheumatologen als dem Systemspezialisten selbst sozusagen von „oben” oder „in flagranti” gesehen und beschrieben werden. Er hat im Einzelfall den Neurologen als Konsiliarius und dieser die entsprechende Literatur zur Hand. Bei der Erfahrungssammlung aber, die einer allgemeinen Beschreibung zugrunde liegen soll, muss er sich der Ergebnisse seiner Einzelfälle bedienen, die er dann zu einer nosologischen Information zusammensetzt, und dies innerhalb eines rheumatologisch zu definierenden Kollektivs. Die entsprechend fachspezifische, also rheumatologische Literatur hat dabei primäre Evidenz. Es wird verständlich, dass die Erfahrung des Neurologen bezüglich der „Neurologie in der Rheumatologie” - mindestens quantitativ - anders ist als die des auch neurologisch orientierten internistischen Rheumatologen.

Um diese Vorbemerkungen am vorliegenden Beispiel der „Rheumatologie und Neurologie” kritisch zu beleuchten und zu überprüfen, möchte ich das Kapitelchen über die Nosologie der Neuropathien bei der rheumatoiden Arthritis [2] auswählen, weil dieses Thema für den Rheumatologen eigentlich den Schwerpunkt seiner Fragestellung nach entsprechenden Erfahrungen darstellen würde.

Diese Analyse ist aber enttäuschend. Dem Thema der Neuropathien bei rheumatoider Arthritis sind nur wenig Zeilen, eine Tabelle und Literaturnachweise gewidmet, unter denen nur je einzelne deutschsprachiger bzw. rheumatologischer Herkunft sind. Die gesamte deutsche Rheumatologie zum Thema bleibt unbekannt, als gäbe sie es nicht. Der medizin-historische Aspekt und die Dokumentation des Standes unseres rheuma-neurologischen Wissens fehlen. Diese sollen also hier nachgetragen werden.

Die systematische (mindestens deutschsprachige) Erstbeschreibung der neuropathologischen Symptomatik der chronischen Polyarthritis (RA) geht auf das Jahr 1969 zurück [3] und beinhaltet eine ausführliche Dokumentation der erstmals „rheumatoide Polyneuropathie” genannten Symptomatik. Diese war für die bei diesem Symposion anwesenden deutschen Neurologie-Professoren so neu, dass sie in der Diskussion die Existenz dieser noch unbekannten Polyneuropathie zunächst ernsthaft angezweifelt haben. Die Beschreibung gründete auf der Kasuistik von 24 Patienten, mit 2 % bezogen auf eine Zweijahreserfahrung von 1200 c. P.-Patienten der Rheumaklinik Bad Kreuznach. Ich darf wörtlich und nach 33 Jahren wahrscheinlich immer noch gültig zitieren:

„Es sind ganz vorwiegend späte und klassische Fälle der chronischen Polyarthritis, die von einer deutlichen Neuropathie ergriffen werden; Patienten im 4. bis 8., mit Spitze im 6. Lebensjahrzehnt. Es dauert durchschnittlich 13 Jahre des Grundleidens, bis die Neuropathie manifestiert ist. Diese Fälle befinden sich meistens im Steinbrocker-Stadium III bis IV, bereits mit Gelenkdestruktionen und überwiegend mit positivem Rheumafaktor und subkutanen Rheumaknoten; relativ häufig auch mit sekundärem Sjögren-Syndrom”. … „Wir nennen diese Form die „maligne chronische Polyarthritis”, die durch obliterierende Vaskulitiden, trophische Hautstörungen, Livedo, Purpura und Nekrosen (Abbildungen), über die Vaskulitis der Vasa nervorum durch die rheumatoide Polyneuropathie und auch durch viszerale Komplikationen gekennzeichnet und gefährdet ist. Die rheumatoide Polyneuropathie mit Livedo reticularis ist der häufigste klinische Indikator für das Vorliegen einer Vaskulitis bei chronischer Polyarthritis” (Abbildungen). … „Die rheumatoide Polyneuropathie beginnt regelmäßig an den Füßen mit Sensibilitätsausfällen. Die distal-periphere und vorwiegend symmetrische Lokalisation an den langen sensiblen Bahnen, meistens der unteren Extremitäten herrscht vor.” … „In einem Drittel der Fälle ist der Beginn der Störung plötzlich und wird unangenehm bis quälend empfunden. Häufiger sind der schleichende, kaum bemerkte Beginn und Verlauf. Hinweissymptome nach Angabe des Patienten sind Missempfindungen am Fußrücken, ein „Schraubstockgefühl” und die Klage, den Boden nicht mehr richtig unter den Füßen zu haben. Verschiedene Formen bzw. Stadien der rheumatoiden Polyneuropathie sind unterscheidbar und von prognostisch verschiedener Wertigkeit: Symmetrisch-sensible, senso-motorische, mononeuritisch-asymmetrische, untere Extremitäten und untere sowie obere Extremitäten betreffende Formen.” … „Der symmetrische Befall der Vorfüße scheint der häufigste zu sein. Ein zweiter Typ entspricht dem Bild der Mononeuritis multiplex, dabei häufiger einseitig oder asymmetrisch, manchmal dem ausgebreiteten symmetrischen Befall vorausgehend und das fibulare Ausbreitungsgebiet bevorzugend” (Abbildungen). … „Das lästige ‚Gefühl der Gefühllosigkeit’ verschlimmert die Unsicherheit und die arthritische Behinderung, besonders wenn es die Fußsohle betrifft. Die Schmerzqualität zu differenzieren ist beim Polyarthritiker schwierig. Der Brennschmerz ist Ausdruck inkompletter Nervenläsionen.” … „Reflexverluste sind scheinbar selten und motorische Ausfälle betreffen meistens die Fußheber, wobei wiederum beim Polyarthritiker die Beurteilung schwierig ist.” … „Prognostisch besonders wichtig ist die Ausdehnung auf die oberen Extremitäten, die in einem Viertel der Fälle vorkommt und prognostisch ungünstig ist. Die digitale Neuropathie ist differenzialdiagnostisch abzugrenzen gegenüber dem Karpaltunnelsyndrom. Bei Manifestation der Polyneuropathie an Händen und Armen ist die eingeschränkte Lebensaussicht des Patienten wegen der hohen Quote viszeraler Komplikationen bedeutsam.” … „Unterschiede der rheumatoiden Polyneuropathie gegenüber Polyneuropathien anderer Genese sind überwiegend quantitativer Natur und betreffen die distal betonte Symmetrie, die Seltenheit der motorischen Läsion und den durchschnittlich gutartigeren Verlauf im Vergleich besonders zur Panarteriitis nodosa. Beim systemischen Lupus erythematodes kommen häufiger zentral-nervöse und enzephalomyelitische Zustandsbilder vor. Partielle Spontanremissionen kommen vor.” … „Schließlich gibt es eine autonome Neuropathie bei chronischer Polyarthritis…”

Zur Therapie: „Die rheumatoide Polyneuropathie spricht auf Antirheumatika nicht an. Es gelten die Behandlungsprinzipien des Grundleidens, wobei vor dem Einsatz von ACTH und Kortisonoiden gewarnt wird. Gute und einige Male überraschende Erfolge haben wir mit der Thioctsäure erzielt.” … „Bei ‚malignen’ Fällen ist die immunsuppressive bzw. zytostatische Therapie indiziert … glückliche Erfahrung mit Azathioprin…” - Ausführliche kasuistische Darstellung von 5 typischen Krankheitsfällen - Zusammenfassend: „Bei älteren chronischen Polyarthritiden muss in 2 bis 5 % der schweren Fälle mit einer Polyneuropathie, zunächst überwiegend mit Sensibilitätsstörungen gerechnet werden, die wahrscheinlich Ausdruck einer Polyvasculitis ist” und (dies war damals eine Hypothese [11]) „mit einer kortisonoiden Hormontherapie zusammenhängen könnte…”

Spätere Publikationen [4] [5] [6] in klinischer Zusammenschau mit den spezifisch dermatologischen Befunden [7] und in Zusammenarbeit mit dem WHO-Zentrum für Rheumapathologie [8] [10] galten der Vertiefung des Zusammenhanges mit der rheumatoiden Vaskulitis und der korrelierenden Vielfalt begleitender Hautmanifestationen. Dem Rheumatologenkongress 1986 in Freiburg wurde eine kleine Festschrift gewidmet [7], in der sowohl die rheumatoide Vaskulitis mit rheumatoider Polyneuropathie [8] als auch die Wegenersche Granulomatose [9] dargestellt worden sind, mit zahlreichen Abbildungen und einigen Tabellen, die hier wiedergegeben werden dürfen. Diese Darstellung wurde auf einem Kitzbüheler Symposion vertieft [10].

Eine rheumatoide Polyneuropathie kommt in Kindheit und Jugend, also bei der juvenilen RA, offenbar nicht vor. Die in Tab. [1] unter „Neuropathische Manifestation” bei „Rheumatoider Arthritis” genannte „Trigeminusneuropathie” [2] ist wohl ein Irrtum, jedenfalls dem Rheumatologen bei der RA unbekannt.

Tab. 1 Tabellen aus 7 Manifestationsfelder systemischer Vaskulitiden 1. Hautorgan (kleinste bis mittlere Arterien) 2. Nervensystem (Vasa nervorum) 3. innere Organe (Infarkte und andere Läsionen) Hautmanifestationen 1. Eruptionen: Papeln, Blasen, Papulonekrosen 2. Purpura und andere Hämorrhagien 3. Urtikaria 4. Hautatrophie 5. Livedo reticularis 6. Ulzera, Nekrosen, Gangrän 7. Erythema nodosum und anderes Nervale Manifestationen 1. Neuropathie („Neuritis”):Mononeuritis multiplexrheumatoide Polyneuropathie 2. zerebrovaskuläre Affektionen:Anfälle,organische Hirnsyndrome Typen der Polyneuropathie bei „maligner” chronischer Polyarthritis 1. Distale sensible Neuropathieasymmetrisch → symmetrischFuß → Unterschenkel 2. Sensomotorische Neuropathie („Mononeuritis multiplex”)a) asymmetrisch an den unteren Extremitäten (Fibularisbereich)b) progredient symmetrische = maligne Form (und obere Extremitäten) 3. Autonome Neuropathie

Meine historie-gerechte Darstellung der rheumatoiden Polyneuropathie sollte die „Neurologie und Rheumatologie” ergänzen, berücksichtigt aber nicht die ebenfalls reichliche und weit zurückgehende deutsch-rheumatologische Literatur über Kompressionssyndrome, medulläre Komplikationen der Spondarthritiden (zusätzlich Cauda equina-Syndrom bei ankylosierender Spondylitis!), die sympathische Reflexdystrophie bzw. die Algoneurodystrophien und andere nerval-pathologische Aspekte rheumatischer Leiden, die ebenfalls auf einer Reihe von deutschen Erstbeschreibungen fußen. Diese drohen unter der üblich gewordenen Darstellung aus der kurzfristigen englischssprachigen Sekundärliteratur aus unserem Bewusstsein ausgelöscht zu werden.

Literatur

  • 1 Schilling F. „Rheuma” - Ein Fall für den Spezialisten? Gedanken und Erinnerungen zum Selbstverständnis der Rheumatologie.  Z Rheumatol. 1995;  54 258-269
  • 2 Reimers C D, Schlotter-Weigel B. Neuropathien bei rheumatischen Erkrankungen: hier S. 252 und 255.  Akt Rheumatol. 2001;  26 251-259
  • 3 Schilling F. Peripher-nervale Manifestationen der chronischen Polyarthritis (rheumatoide Polyneuropathie) und medulläre Komplikationen chronisch rheumatischer Leiden, mit Anhang „Reflexdystrophie”. In: Miehlke K (Ed) Rheuma und Nervensystem. Arbeitsgespräch Wiesbaden Nov. 1969 - Wissenschaftlicher Dienst „Roche”. 1969: 17-68
  • 4 Meienberg O, Bischoff A, Regli R, Ryffel M. Polyneuropathie bei progressiv chronischer Polyarthritis.  Dtsch med Wschr. 1972;  97 1595
  • 5 Schilling F. Rheumatoide Polyneuropathie.  Dtsch med Wschr. 1972;  97 1923
  • 6 Schilling F. Die bei chronischen rheumatischen Erkrankungen mögliche Beteiligung des Nervensystems: Polyneuropathie, periphere und medulläre Kompressionssyndrome.  Therapiewoche. 1974;  24 2950-2959
  • 7 Schilling F. Vaskulitiden in der Rheumatologie. Festschrift zum 22. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie 1986 in Freiburg Br. Colloquia Rheumatologica 33. München; Werk-Verlag 1986
  • 8 Schilling F, Fassbender H G. Entzündliche Gefäßveränderungen (Vaskulitiden) in der Rheumatologie, insbesondere bei chronischer Polyarthritis (rheumatoide Vaskulitis). In : [7] S. 9-37. 
  • 9 Gross W L, Beigel A, Duncker G, Lehmann H. Die Wegenersche Granulomatose - eine primäre Vaskulitis. In : [7] S. 39-58. 
  • 10 Schilling F, Fassbender H G. Entzündliche Gefäßveränderungen (Vaskulitiden), insbesondere bei chronischer Polyarthritis (rheumatoide Vaskulitis). In: Breddin K et al. (Hrsg) Angiologie und Hämostaseologie.  Kitzbüheler Symposium. Gustav Fischer Verlag 1988: 94-118
  • 11 Hartmann F, Jipp P. Klinische und experimentelle Befunde zur Pathogenese der nekrotisierenden Arteriitis nach Cortison-Langzeittherapie.  Verh dtsch Ges Inn Med. 1971;  77 154

Prof. Dr. med. F. Schilling

Arzt für Innere Medizin · Rheumatologie - Universität Mainz

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