PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(4): 389-393
DOI: 10.1055/s-2003-45292
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Krisen gehören zum Beruf

Lars  Eggers, Steffen  Fliegel
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Publication Date:
05 December 2003 (online)

Lars Eggers ist Polizeioberkommissar in der Davidwache, Hamburg-St. Pauli.

PiD: Guten Tag Herr Eggers. Herzlichen Dank, dass Sie sich zu einem Interview bereit finden, das ja vom Inhalt her - nämlich Umgang mit menschlichen Krisen - nicht unmittelbar Ihren Aufgabenbereich betrifft. Welche Funktion üben Sie auf der Davidwache aus?

L. Eggers: Ich bin Polizeioberkommissar und stellvertretender Dienstgruppen-Leiter in der Davidwache von einer Dienstgruppe von 12,5 Beamten, speziell Vollzeit- und eine Halbtagskraft.

PiD: Könnten Sie vielleicht zu Beginn unseren Leserinnen und Lesern ein paar Informationen über die Davidwache geben? Was passiert hier? Wofür ist das Revier zuständig?

L. Eggers: St. Pauli hat eine lange Geschichte. 1850 war St. Pauli Niemandsland zwischen dem alten Hamburg und dem damals dänischen Altona, war immer schon Vergnügungs- und Amüsierviertel. Es standen damals einfach Buden hier, und da hat man sich halt amüsiert. Seit 1914 gibt es dieses überall bekannte Gebäude der Davidwache, und das steht auch unter Denkmalschutz, ab und zu haben wir einmal Probleme, wenn wir etwas verändern wollen, sprich umbauen wollen.

PiD: Das Haus ist ja aus dem Fernsehen hinreichend auch über Grenzen von Hamburg bekannt! Wie ist Ihr Revier gestaltet?

L. Eggers: Wir haben zur Zeit eine Personalstärke von 100 Leuten. Unser Revier umfasst die Reeperbahn. Die südliche Grenze ist die Elbe und nördlich ist es die übernächste Parallelstraße zur Reeperbahn. Daraus ergibt sich, dass wir nur ein Gebiet von 0,8 qkm zu betreuen haben, davon sind 0,5 qkm Vergnügungsviertel. Wir sind somit das kleinste Polizeirevier Deutschlands.

PiD: Und die Einwohnerstärke?

L. Eggers: Ja, es sind ca. 15 000, davon ein Ausländeranteil von 45 %. Auch sehr wichtig ist, dass dazu noch ca. 4500 nicht angemeldete Personen kommen, sprich Leute, die hier als so genannte Randständige oder als Ausländer illegal leben. Und dann gibt es die 100 000 Menschen am Wochenende, die hier einfach nur feiern und ihren Spaß haben wollen. Und die denken, dass sie sich auf St. Pauli benehmen können, wie sie wollen, weil es halt St. Pauli ist. Und diese Gruppe beschäftigt uns viel mehr und ist viel mehr für alle Delikte verantwortlich als die Leute, die hier wohnen.

PiD: Wir wollen über die menschlichen Krisen in Ihrem Revier sprechen und wie Sie als Polizist bzw. Ihre Gruppe von Polizistinnen und Polizisten damit umgehen. Vielleicht können Sie uns zuerst ein paar Informationen geben über Delikte, mit denen Sie zu tun haben.

L. Eggers: Wir haben hier im Jahr ca. 8000 Strafanzeigen. Bearbeitet wird das nachher von der Kriminalpolizei. Die Prioritätsbereiche sind: Gewalt-Delikte, sprich Körperverletzung, Eigentumsdelikte, Diebstahl, Taschendiebstahl, Diebstahl aus Fahrzeugen, der ganze Betäubungsmittelsektor, Verstoß gegen das Ausländergesetz und ca. 2 bis 5 Tötungsdelikte pro Jahr.

PiD: Zu welchen Menschen werden Sie gerufen oder hingeschickt, die so richtig tief in einer seelischen oder menschlichen Krise stecken? Und was sind das für Menschen? Welche Krisen sind das?

L. Eggers: Da ist einmal der Bereich der Randständigen. Wir haben sehr viel Randständige hier, die den ganzen Tag an beiden Seiten der Reeperbahn sitzen, betteln und Alkohol trinken. Die haben auch alle ihre Geschichte. Ein gutes Beispiel ist ein junger Mann vor fünf Jahren - ich war gerade frisch auf der Wache - der hier lebte und den alle kannten. Der hatte zuerst seinen Job verloren, dann seine Freundin, dann ist ihm bei einer Polizei-Kontrolle auch noch der „Lappen” weggenommen worden. Ein Vierteljahr später saß er auf dem Kiez als Randständiger, und ein halbes Jahr später war er tot. Das war eine Sache, die uns allen hier ein bisschen nahe ging. Sein ehemaliger Chef hatte mehrfach versucht, ihn wieder zurückzuholen, und sagte immer: „Komm, wir versuchen es noch einmal zusammen. Wir wollen dir alle helfen.” Er hat jegliche Hilfe abgelehnt und wurde dann irgendwann im Stadtteil St. Georg tot aufgefunden.

PiD: Solch ein Beispiel veranschaulicht sehr deutlich das Schicksal eines Menschen, der so richtig tief ins Loch gefallen ist, dem so ein Schlag nach dem anderen passiert ist und der am Schluss keinen Ausweg mehr hatte. Welche Möglichkeiten haben Sie, einem solchen Menschen zu helfen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit der Hilfe, die Sie anbieten können?

L. Eggers: Das Problem bei den Randständigen ist meist der Alkohol. Sie sind dermaßen alkoholisiert, dass sie eigentlich nicht mehr so recht begreifen, dass man ihnen helfen will. Wer hier in diesem Bereich eine Superarbeit leistet, ist die Heilsarmee, die hier herumzieht und für die Randständigen sammelt, sie mit frischen Klamotten versorgt, mit Getränken, ihnen ein Bett für eine Nacht anbietet und immer ein offenes Ohr hat. Da sind viele ehrenamtliche Leute, die sich kümmern.

PiD: Für Ihre Wache wäre das sicherlich eine Überforderung?

L. Eggers: Wir sind im ganz normalen Dienst acht Beamte hier, vier, die drinnen arbeiten, und vier Mann, die draußen arbeiten, also zwei Streifenwagen für ganz St. Pauli. Und wenn ich zu irgendeinem Randständigen gerufen werde, meistens von Geschäftsinhabern, die sich beschweren, weil der vor der Tür sitzt, habe ich nicht die Zeit, noch eine halbe Stunde mit ihm über seine Probleme und Nöte zu reden, zum Beispiel, wie er eigentlich da hereingerutscht ist. Es ist einfach nicht machbar. Und in diesem Beispiel konnte ich ihm im Endeffekt sowieso nicht helfen, weil er jegliche Hilfe abgelehnt hat.

PiD: Sie haben gesagt, dass alle Betroffenen eine Geschichte haben. Was für Hintergründe gibt es denn, wodurch Menschen, mit denen Sie hier zu tun haben, in Krisen geraten?

L. Eggers: Also viele haben eine oder mehrere Scheidungen hinter sich, viele sind arbeitslos geworden, viele haben keine Wohnung. Und wenn man dann niemanden hat, der einen auffängt, sprich keine Familie, dann denke ich mal, liegt es in der Natur vieler Menschen, sich einfach hängen zu lassen, auf die Straße zu gehen. Und von der Sozialhilfe, die man dann kriegt, kann man hier gut überleben. Wir haben hier einige Lokalitäten abseits der Reeperbahn, wo das Bier günstig ist, und wo die Leute einfach zurechtkommen. Es ist zwar nicht mehr doll, aber sie kommen zurecht, und das ist der Weg des geringsten Widerstandes. Und dann haben sie ihresgleichen. Die hören zu, auch wenn sie alle ein bisschen betrunken sind. Die halten zusammen. Das ist dann quasi die Ersatz-Familie, die sie gefunden haben.

PiD: Sie haben sicherlich nicht mit denjenigen zu tun, die sich nach den Schicksalsschlägen ruhig zurückziehen oder depressiv werden, sondern eher mit denen, die auffällig werden. Was für Auffälligkeiten kennen Sie, die Ihnen nach solchen Schicksalsschlägen begegnen?

L. Eggers: Ich hatte vor zwei Wochen das Beispiel, dass ein normaler Hamburger Bürger die Feuerwehr angerufen und gesagt hat: „Ich springe jetzt aus meinem Fenster, ich wohne im fünften Stock”, und dann hat er aufgelegt. Wenn die Feuerwehr gerufen wird, fährt die Polizei immer mit. Und der Gute saß in seiner Wohnung im fünften Stock auf dem Sofa, Fenster war offen und weinte nur noch. Ich bin dann mit einem von der Feuerwehr hoch und habe mit ihm gesprochen. Sein Problem war, dass seine Frau mit den Kindern vor ein paar Monaten abgehauen war, und das reichte für ihn, um zu sagen: „Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Ich will nicht mehr.” Solche Sachen sind dann immer Feuerwehr-Sache. Die Feuerwehr verständigt dann den Rettungswagen, die nehmen ihn mit, und dann wird er psychisch weiter betreut, mehr ist für die Polizei nicht drin. Es zählt die ärztliche Versorgung, und dann war es das für die Polizei.

PiD: Sie haben völlig Recht, dass die therapeutische Versorgung dann einen wichtigen Stellenwert hat. Aber können Sie sich vorstellen, wenn so ein Mensch, der Suizid androht oder völlig am Boden ist, Hilfe ruft, mit so jemandem auch zu sprechen? Wüssten Sie, wie Sie mit ihm sprechen sollten?

L. Eggers: Also ich muss ja in der Situation schon mit ihm sprechen. Ich kann da nicht einfach hereingehen und sagen: „Geben Sie mal Ihren Personalausweis, wer sind Sie, ich muss das für meinen Bericht haben und was wollten Sie eigentlich machen? Ich muss ja schon mit ihm sprechen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer gut ist, sich auf eine gemeinsame Ebene zu begeben, also sich neben denjenigen hinzusetzen, wenn es geht, ihn sogar mit dem Vornamen anzusprechen. Die fünf oder zehn Minuten haben wir immer noch. Dann mache ich mein Funkgerät aus, sage unten noch kurz Bescheid: „So, wir reden jetzt ein bisschen”, und das reicht meistens schon, damit er dann erst einmal ein bisschen herunter fährt und freiwillig und ruhig mit der Feuerwehr mitfährt. Das ist das, was die Polizei im täglichen Dienst leisten kann.

PiD: Das finde ich ganz toll, dass Sie sich diese Möglichkeit geben. Haben Sie es irgendwo gelernt, solche Gespräche zu führen? Gehörte das auch zu Ihrer Ausbildung dazu, wie man mit Menschen, die tief in der Krise stecken, spricht?

L. Eggers: Also, Polizei ist ein Erfahrungsberuf. Man lernt Polizei von den Grundlagen her in der Schule, aber alles andere lernt man jeden Tag. Und ich lerne ständig dazu. Ich bin jetzt 15 Jahre Polizist und treffe ständig auf neue Leute. Ich habe zur Vorbereitung auf unser Gespräch vorhin noch einmal bei unserer Landespolizei-Schule angerufen und gefragt, was jetzt angeboten wird. Früher war es so: Wir haben zwei Seelsorger, einen katholischen und einen evangelischen Polizei-Seelsorger, und die haben Seminare abgehalten, in denen wir im Rollenspiel versucht haben, das „Überbringen einer Todesnachricht” oder „das und das ist passiert”, realitätsnah nachzuspielen. Jetzt gibt es in der Landespolizei-Schule das Fach „Polizei-Dienstkunde” oder „Polizei-Berufskunde” mit sechs Wochenstunden, und die rastern diesen ganzen Bereich ab. Die sprechen über Krisenintervention, über posttraumatische Erlebnisse, die machen diese Seminare mit den Geistlichen, und es gibt bei der Polizei Hamburg „Konflikt-Bewältigungsseminare”, die aufeinander aufbauen. Also jeder Polizist macht in seiner Ausbildung „Konflikt 1” und das baut aufeinander auf bis „Konflikt 3”. Da wird jeder geschult.

PiD: Wie sehen solche Seminare aus?

L. Eggers: Es ist eine Woche Lehrgang, in der man dann einen ganz normalen Tagesdienst macht mit ein bis zwei Psychologen. Es werden Fälle vorgestellt und Rollenspiele durchgespielt. Obwohl, diese Rollenspiele sind so eine Sache. Man kann die Realität nicht nachspielen. Ich mache es nicht so gerne, weil es ein bisschen realitätsfremd ist.

PiD: Aber vielleicht gelingt es schon, bestimmte Formulierungen im Kopf zu haben, die dann in so einer Krisensituation hilfreich sein können. Wie geht es Ihnen, wenn Sie Angehörigen eine Todesnachricht überbringen? Das ist ja auch eine sehr schwierige emotionale Tätigkeit.

L. Eggers: Das Wichtigste bei dem Überbringen einer Todesnachricht ist, dass man vorbereitet ist. Also wir haben das öfter, dass andere Dienststellen uns anrufen und sagen: „Bei euch im Revier wohnt Herr Soundso, dessen Tochter ist gerade gestorben, sagt dem das mal.” Das reicht mir dann nicht. Ich muss schon wissen, was da passiert ist, wo der Leichnam jetzt ist, darauf muss ich mich selber vorbereiten. Auch gibt es von der Polizei Hamburg so ein Faltblatt, das uns helfen soll, aber auch den Angehörigen. Darin stehen die wichtigsten Adressen, die sie dann benötigen. Alles andere ist dann wieder die Erfahrungssache, ein Pokerspiel. Ich geh’ herein und dann muss ich gucken, was passiert.

PiD: Wenn Sie eine Todesnachricht an Angehörige überbringen und Sie merken, das stürzt einen Angehörigen in eine ganz schwere Krise und Sie können ihn eigentlich jetzt nicht alleine lassen. Was haben Sie für Möglichkeiten, und was können Sie für weitere Unterstützung organisieren?

L. Eggers: Zunächst bin ich als Mensch gefordert. Nicht nur als Polizeibeamter, sondern als Mensch. Ich muss selber versuchen, die Situation für alle ertragbar zu regeln. Dann ist natürlich das Wichtigste, Angehörige ausfindig zu machen, die jetzt in der Not helfen können. Wenn diese weit weg oder nicht ausfindig zu machen sind, dann hat die Stadt Hamburg ein Krisen-Interventionsteam. Das läuft über das Deutsche Rote Kreuz. Die werden informiert und dann kommt jemand, der geschult ist und die Betreuung dieser Person übernimmt, bis jemand anderes da ist, oder weitere Anleitungen gibt. Die sind natürlich auch besser geschult als ich und können genauer sehen, was dieser Mensch jetzt an Hilfe braucht.

PiD: D. h. dass Sie nicht direkt Kontakt mit unterschiedlichen Institutionen aufnehmen, sondern dass es Fachleute gibt, die Sie mit heranziehen können. Diese können feststellen, der braucht ein Bett zum Schlafen, oder er braucht einen Sozialarbeiter, oder er braucht einen Krisen-Dienst usw. Was gibt es denn in Hamburg für unmittelbare Einrichtungen, auf die Sie auch zurückgreifen können?

L. Eggers: Einmal ausgenommen von diesem Bereich „Überbringen einer Todesnachricht” haben wir die Möglichkeit der Wegweisung. Für häusliche Gewaltdelikte gegen Frauen oder auch Männer (z. B. wenn Frauen von ihrem Ehemann geprügelt werden), hat Hamburg jetzt dieses neue Ausweisungsrecht. Wir können den Ehemann aus seiner Wohnung weisen und somit die Krise für die Frau erträglich machen, weil sie dann erst einmal bis zu zehn Tage allein ist und sich neu organisieren kann, sich eine gerichtliche Verfügungen holen kann, dass der Mann dann gar nicht mehr herein darf usw. Ist das so nicht machbar, gibt es in Hamburg Frauenhäuser. In diesen Frauenhäusern werden Frauen mit Kindern, wenn sie wollen, untergebracht, um erst einmal aus diesem Gewaltkreis des Mannes herauszukommen und erst einmal Ruhe zu haben, und dort wird ihnen weiter geholfen.

PiD: Haben Sie noch ein Beispiel?

L. Eggers: Wenn ich nachts zwei Streifenwagen habe, kann ich nicht bei Familie Meier fünf Stunden versuchen Hilfe zu geben, irgendwo ist dann Schluss. Wenn Kinder in Gefahr sind, weil sich zum Beispiel die Eltern kabbeln, muss ich den Kinder-Jugend-Notdienst holen, der auch Tag und Nacht besetzt ist und der kümmert sich um die Kinder.

PiD: Wenn Sie Menschen im Streifenwagen mitnehmen, kann ich mir vorstellen, dass die Ihnen auch ganz schnell ihre Lebens- und Leidensgeschichte ausbreiten. Nun sind Sie nicht in der Situation wie ein Friseur, der eine halbe Stunde dahinter steht, oder der Wirt, der Zeit hinter der Theke hat. Leihen Sie den Menschen Ihr Ohr? Haben Sie die Möglichkeit zuzuhören, etwas zu sagen oder steht dann die Routine-Tätigkeit im Vordergrund?

L. Eggers: Das Ganze hat rechtliche Grenzen. Jeder hat in einem Strafverfahren seine Rolle bzw. seinen Status, wie wir z. B. von einer Körperverletzung reden, und hat bestimmte Rechte. Ein Beschuldigter hat ein Aussage-Verweigerungsrecht, er braucht nichts zu sagen und auch Geschädigte und Zeugen haben ein Zeugen-Verweigerungsrecht, wenn es Angehörige sind. Wenn ich jetzt mit der geschädigten Ehefrau rede, dann muss ich ihr schon sagen: „Passen Sie mal auf, Sie müssen hier nichts sagen, was Ihren Mann belastet, das müssen Sie wissen.” Es gibt viele, die ihrem Mann zunächst was Böses wünschen und nach einem halben Tag sagen: „Das war gar nicht so schlimm, er soll wieder zurückkommen.” Vor Gericht sagen die dann: „Das wurde mir nie erzählt, dass ich überhaupt nichts sagen muss.” Das ist immer diese Schiene, die wir fahren. Wenn das alles gesagt ist, dann ist es in Ordnung.

PiD: Wie geht es Kindern im Streifenwagen?

L. Eggers: Wenn Kinder in irgendeiner Form geschädigt oder weggelaufen sind, mit denen kann man im Polizeiauto einiges gewinnen. Die setzt man einmal vorne hin, fährt mit denen mit Blaulicht um den Block, das ist für die toll und auch eine Art von Krisenbewältigung. Das ist vielleicht etwas, was der Vater nie bieten konnte, weil er vielleicht immer nur mit der Flasche Bier auf dem Sofa sitzt.

PiD: Wie ist das, wenn Sie minderjährige Kinder und Jugendliche, die straffällig geworden sind, zu ihren Eltern bringen. Schauen Sie noch, ob die Kinder in eine gute Obhut der Eltern kommen? Versuchen Sie vielleicht noch ein wenig zu vermitteln?

L. Eggers: Vom Grundsatz her sollen Kinder nicht mit dem Streifenwagen nach Hause gebracht werden, sondern in Zivil, damit die Nachbarn es nicht sehen, dass sie von der Polizei nach Hause gebracht werden. Wir haben gerade wieder, zwei 13-Jährige, die haben Autos aufgebrochen, sich Samstagnacht auf dem Kiez herumgetrieben. Da fragt man sich schon, was machen die Eltern eigentlich, wenn die Kinder nachts um 0 Uhr noch Autos aufknacken können? Wir rufen die Eltern an und sagen denen: „Jetzt kommt mal hierher und holt eure Kinder ab.” Das machen die dann auch. Und dann zeigen wir denen auch auf: „Passen Sie mal auf, das ist nicht richtig, dass Sie die hier nachts herumlaufen lassen, Sie müssen ein bisschen auf die aufpassen.” Die Möglichkeit, die wir danach noch haben, ist das Berichtswesen. Alle diese Vorfälle haben nicht nur eine strafrechtliche Seite, auch das Jugendamt bekommt davon Kenntnis. Wir haben in Hamburg ja jetzt neu dieses Familien-Interventionsteam. Die sind für die Familien und Kinder in Not da. Die haben sich auf die Fahne geschrieben, innerhalb von zehn Tagen Hilfe zu gewährleisten.

PiD: Entscheiden Sie bei bestimmten Krisen und Konflikteinsätzen, ob besser eine Kollegin oder ein Kollege den Einsatz übernimmt?

L. Eggers: Das ist eigentlich nicht möglich. In unserer Schicht haben wir nur zwei Frauen, und wenn die Fahrzeuge zu den Einsätzen eingeteilt werden, dann fährt erst einmal der eine hin. Wenn z. B. jemand hier hereinkommt, und es gab eine Vergewaltigung, die Schutz-Polizei ist ja immer der erste Anlauf, dann fragen wir das Opfer schon: „Möchten Sie lieber mit einer Frau sprechen oder möchten Sie lieber mit einem älteren oder einem jungen Mann sprechen?” Da hat das Opfer, sofern wir die Möglichkeit haben, schon die Wahl. Das ist dann aber auch das einzige.

PiD: Würden Sie sich mehr Polizistinnen wünschen?

L. Eggers: Frauen bei der Polizei sind eine wichtige Sache. So manche Kneipenschlägerei findet nicht statt, weil da eine Frau hereinkommt und nicht zwei große Kerle. Mit denen möchte man sich gleich gerne hauen, aber nicht, wenn da noch eine weibliche Person bei ist, das macht auch der Schläger nicht.

PiD: Wo würde sich ein Team aus Polizistin und Polizist bewähren?

L. Eggers: Die Kneipenschlägerei habe ich schon genannt. Da haben wir gute Kolleginnen, die auch selbstbewusst an die Sache herangehen. Das zweite Beispiel sind halt die Sexualsachen, wo wir den geschädigten Frauen wirklich freistellen, wenn sie gerade von einem Mann vergewaltigt, belästigt oder genötigt wurden, das nicht noch einmal einem Mann erzählen zu müssen, das ist eine ziemlich schwere Sache. Dies einer Frau zu erzählen, ist viel, viel einfacher.

PiD: Können Sie noch ein anderes Beispiel nennen, als Sie zu einem Einsatz gerufen wurden und menschliches Elend angetroffen haben?

L. Eggers: Es gibt ja, bedingt durch die Struktur im Revier, viele Familien auf dem untersten sozialen Niveau. Da ist eine Familie, in der der Ehemann arbeitslos ist, nur trinkt, und wenn er richtig getrunken hat, schlägt er seine Frau. Die Familie hat fünf Kinder, davon eines behindert, und sie wohnen in einer 3-Zimmer-Wohnung. Sämtliche Versuche die Frau zu überreden, ins Frauenhaus zu gehen, sämtliche behördlichen Versuche, denen irgendwie zu helfen, sind gescheitert. Im Moment sind die beiden wieder ein Herz und eine Seele. Der älteste Sohn sitzt gerade in Haft, der ist 15 oder 16, weil es einfach zu Hause nicht stimmte.

PiD: Sie erzählen viel und persönlich betroffen von Kindern…

L. Eggers: Ich habe selbst zwei Kinder, und zu Hause ist immer alles schön. Und wenn man dann hierher kommt und so etwas sieht und mit seinen eigenen Kindern vergleicht, das begreift man dann nicht, wie Eltern ihre Kinder so nebenher laufen lassen können.

PiD: Das bringt mich auf eine sehr wichtige Frage: Sie werden soviel mit Gewalt, Krisen und menschlichem Elend konfrontiert. Wie können Sie das alles verarbeiten? Haben Sie oder auch Ihre Kollegen Stellen, wo Sie sich aussprechen können? Oder haben Sie eigene Strategien, wie Sie damit umgehen?

L. Eggers: Also die Polizei Hamburg leistet sich selber ein Krisen-Interventionsteam. Das ist zusammengesetzt aus einem Psychologen, unseren beiden Geistlichen, und besonders geschulten Polizeibeamten. Wenn ich also selber Probleme habe oder erkenne, dass bei einem meiner Mitarbeiter etwas nicht stimmt, weil er nach bestimmten Einsätzen auf einmal ganz komisch ist und trotzdem sagt, es wäre alles in Ordnung, aber ich erkenne, dass es gar nicht so ist, dann kann ich dieses Krisen-Interventionsteam anrufen oder anfordern. Dann wird man gemeinsam eine Lösung finden. Das können auch Probleme sein, die in den privaten Bereich hineingehen. Also wenn ich jetzt im privaten Bereich Probleme habe und keinen Ausweg mehr weiß, dann rufe ich unseren Pfarrer an, und der wird schon was finden. Der hat schon sehr gute Dienste geleistet.

PiD: Haben Sie auch persönliche Strategien?

L. Eggers: Was ich immer selbst mache: Ich bin jetzt seit fünf Jahren hier. Ich wohne nicht in Hamburg, ich wohne weit außerhalb, fahre 60 km hierher. Auf dem Lande habe ich ein kleines Häuschen mit meiner Familie. Am Anfang habe ich, wenn ich nach Hause kam, meiner Frau immer alles erzählt, weil das einfach so neu war und so aufregend. Inzwischen ist es so: Es ist einem nichts mehr nur fremd. Man sieht die dunkelsten Seiten der menschlichen Seele. Ich will nicht sagen, dass man abstumpft, sondern man akzeptiert es so, wie es ist. Ich versuche, die acht, neun Stunden, die ich hier bin, diesen Leuten zu helfen, und wenn ich dann auf der A23 Richtung Norden fahre, dann ist es vorbei. Dann freue ich mich auf meine Familie und dann geht es halt am nächsten Tag wieder los.

PiD: Vermitteln Sie auch Ihrer Kollegin und Ihren Kollegen dieses Gefühl?

L. Eggers: Ich weiß nicht, ob es jeder kann. Aber ich denke, die meisten vom Revier können es, einfach abschalten, einfach die Seele baumeln lassen. Man darf diese ganzen Sachen nicht persönlich nehmen. Es gibt viel Aggression gegen uns und unsere Uniform, aber es geht nicht gegen mich persönlich, eben gegen die Uniform oder gegen den Staat oder gegen die Polizei an sich, und da muss man halt abschalten können.

PiD: Sind das die persönlichen Erfahrungen, von denen Sie gesprochen haben oder lernen Sie solche Einstellungen auch in Ihrer Ausbildung?

L. Eggers: Nein, das sind persönliche Erfahrungen. Jeder Mensch ist ja anders. Jeder ist ein Individuum. Der eine geht nach dem Dienst in den Kraftraum und muss noch einmal zwei Stunden Gewichte stemmen, damit es ihm gut geht. Ein anderer geht laufen und ein anderer freut sich auf seine Frau. Und das ist auch gut so. Und wenn es denn halt mal nicht klappt, dann sind die Polizei oder der Vorgesetzte gefordert, demjenigen auch zu helfen.

PiD: Stellen Sie sich vor, Sie haben Anwärterinnen oder Anwärter für den Polizeidienst hier zu Besuch und werden gefragt: „Wie können wir uns am besten darauf vorbreiten oder was können wir am besten tun, um das Leid der Menschen, das wir im Laufe unserer Berufstätigkeit erfahren werden, auch gut zu verkraften?” Was würden Sie diesen jungen Menschen, die in den Polizeidienst kommen wollen, raten?

L. Eggers: Wir haben hier bei uns so ein Motto, das haben wir aus einer quatschigen RTL-Serie mit diesem dicken Wachhabenden. Der sagte immer: „Mensch bleiben!” Und genau das ist das Motto „Mensch bleiben”. Nicht immer der Polizeibeamte sein, der alles weiß, der alles kann, der alles macht. Mensch bleiben und auf sein Gegenüber eingehen, dann kann man eigentlich jede Lage bewältigen.

PiD: Welche persönlichen - nicht fachlichen - Eignungen muss man aus Ihrer Sicht mitbringen?

L. Eggers: Wichtig sind ein gesundes Selbstbewusstsein und Konfliktfähigkeit. Ich darf mich nie persönlich angegriffen fühlen. Wie oft am Tag werde ich beleidigt von irgendwelchen Trunkenbolden. Aber die beleidigen mich nicht. Das geht an mir vorbei. Die beleidigen meine Uniform oder das, was ich da mache. Aber ich muss einfach konfliktfähig sein und ich muss Selbstbewusstsein an den Tag legen und sicher auftreten, und dann kann diesen Job fast jeder machen.

PiD: Herr Eggers, ganz herzlichen Dank, dass Sie für uns Zeit hatten. Sie haben unseren Leserinnen und Lesern ganz viele spannende und wichtige Informationen über Ihre Arbeit gegeben. Ich wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute, vor allem soviel Zutrauen zu sich selbst wie Sie es beschrieben haben. Und dass Sie weiterhin viel Kraft haben, Menschen in Not helfen und für sich selbst auch sorgen zu können.