PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(2): 205-207
DOI: 10.1055/s-2003-814946
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom Hungern nach Beziehung

Ursula  Riedel-Pfäfflin, im Gespräch mit Arist von Schlippe
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Publication Date:
28 May 2004 (online)

Im Folgenden wollen wir in Fortführung des letzten Themenheftes „Anorexie” ein Gespräch mit Frau Professor Riedel-Pfäfflin abdrucken, das einen weiteren wichtigen Aspekt in der Diskussion um die Behandlung von Essstörungen abdeckt.

PiD: Ursula, du bist Professorin für Theologie und Gender-Studies an der Evangelischen Fachhochschule für Soziale Arbeit in Dresden. Wie kommst du als Theologin dazu, dich mit Essstörungen zu befassen?

Frau Riedel-Pfäfflin: Alles, was mit der Lebendigkeit und Beziehungsqualität zu tun hat, ist für TheologInnen wichtig, weil aus jüdisch-christlichen Traditionen Frauen und Männer als lebendige Mitwirkende eines Prozessgeschehens zwischen sich, anderen, der Welt und dem Ganzen gesehen werden. Die jüdische Glaubenstradition ist sehr Leib und Liebe bejahend, das spiegelt sich schon darin, dass wichtige theologische Begriffe immer mit einem Körperteil in Zusammenhang stehen. So heißt Lebendigkeit, Seele: „nephesch” und hängt mit der Kehle als Ort des Atmens zusammen; Erbarmen heißt „rachamim” und kommt von „rechem”, Mutterleib, Gebärmutter, dem Ort, wo Leben entsteht. Wenn Mädchen und Jungen, Frauen und Männer Nahrung und Wachstum verweigern oder unmäßig essen, ist dies ein Signal einer Beeinträchtigung der Lebendigkeit und Beziehungsqualität. Sehnsucht nach Heilung und Heil ist ein zentrales Thema aller Glaubenstraditionen und theologischen Fragestellungen. Derzeit wird die Frage nach der Bedeutung des Leibes auch in der zunächst sehr wort- und geistorientierten protestantischen Theologie und Seelsorge wieder sehr wichtig. Damit nimmt sie ein Thema auf, das in der Revision der Theologie durch Frauen aus allen Kontinenten eine immense Rolle spielt: ein ganzheitliches Verstehen des Menschen, die Frage nach der Beziehung Geist - Natur, die Forderung nach der Auflösung von Dualismen und Abspaltungen, einseitigen Frauen- und Männerbildern und neue Zugänge zum Verständnis von Gott und Erlösung als Beziehungsgeschehen.

PiD: Du bist auch als Praktikerin im psychosozialen Feld tätig. Wie war dein Werdegang?

Frau Riedel-Pfäfflin: Schon während des Theologiestudiums habe ich Psychologie und Sozialwissenschaften einbezogen und im Vikariat eine Weiterbildung in Ehe- und Familienberatung in Berlin begonnen. Seit 30 Jahren berate und begleite ich nun Jugendliche, Erwachsene und Projekte als Beraterin und Seelsorgerin, biete Fortbildung und Seelsorgetraining in Deutschland und in den USA an. In den USA habe ich die Entstehung der humanistisch-psychologischen Ansätze Transaktionale Analyse, Gestalttherapie und die Anfänge der Familientherapie erlebt. Von 1986 - 1995 hatte ich als Professorin an einer amerikanischen theologischen Hochschule mit einem angeschlossenen Beratungszentrum die Gelegenheit, auch die neueren Ansätze der psychoanalytischen Therapie und der Familientherapie mit Live-Supervision, Arbeit mit reflektierenden Teams etc. kennen zu lernen.

PiD: Du hast dich also eher von den Geistes- und Sozialwissenschaften her dem Phänomen psychische Krankheit angenähert?

Frau Riedel-Pfäfflin: Sowohl von meinem wissenschaftlichen Hintergrund her als auch in meiner langjährigen Beratungs- und Supervisionstätigkeit ist mir immer wieder sehr deutlich vor Augen geführt geworden, dass psychische Probleme oder „Störungen” nicht vereinzelt, auf Individuen beschränkt, verstanden und verändert werden sollten. Die Situationen, die Männer belasten, ähneln sich in Beziehungskonstellationen an vielen Stellen. Die Probleme, die Mädchen und Frauen bearbeiten, spiegeln oft Muster wider, die nur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen zu verstehen sind. Wenn wir die auffälligen Krankheitsbilder der letzten Jahrhunderte anschauen, so ist es zunächst die Hysterie, die als spezifische Frauenkrankheit gesehen wird, dann die Depression und jetzt die Essstörungen. Aus theologischer Sicht sind alle diese Krankheiten Ausdrucksweisen von nicht stimmigen, destruktiven Beziehungskonstellationen - die Beziehung zu sich, zu anderen, zur Welt und zum Ganzen des Lebens - man könnte sagen: zu Gott.

PiD: Wie verstehst du Essstörungen in diesem Zusammenhang?

Frau Riedel-Pfäfflin: Ich verstehe Essstörungen als psychosomatische Zeichenhandlungen, die stellvertretend für allgemeine Störungen individuellen, familiären und gesellschaftlichen Lebens in ausdrucksstarker, eklatanter Weise auf Problembereiche unserer gesellschaftlichen Entwicklung aufmerksam machen. Sie machen auf Themen aufmerksam, die jede und jeden von uns betreffen, nämlich unsere Beziehung zu uns selbst, zu unserem Körper, zur Nahrungsaufnahme und -verarbeitung, zur Wahrnehmung unserer eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse anderer, zu Nähe und Differenzierung und zu Problemen der Verbundenheit und Freiheit.

PiD: „Zeichenhandlung” impliziert, dass da auf etwas aufmerksam gemacht wird?

Frau Riedel-Pfäfflin: Als ein gemeinsames Thema unterschiedlicher Formen von Zeichenhandlungen im Bereich Nahrung/Körper/Wohlergehen könnte das Hungern nach einer Qualität der Beziehungen gesehen werden, die die Betroffenen ersehnen. Befriedigende Beziehungsqualität bedeutet für viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, einander zu sehen und anzunehmen, Ermutigung zur eigenen Entfaltung, Liebe ohne Bedingungen, Anerkennung auch von Grenzen und Schwächen. In vielerlei Hinsicht erleben die Betroffenen in ihren Familien wie in größeren Systemen eine gespaltene Welt, die Perfektion, Funktion und Erfolg erwartet und gleichzeitig Beziehungen zum Verkümmern bringt oder missbraucht.

PiD: In der Bezeichnung „psychosomatische Zeichenhandlung” steckt also auch eine implizite Kritik an der Verwendung des Begriffs „Krankheit” bzw. „Störung”. Könntest du das konkretisieren?

Frau Riedel-Pfäfflin: Den Begriff „psychosomatische Zeichenhandlung” habe ich gewählt, um die Ebene der Bedeutungszuschreibung in Vorgängen der Benennung oder Namensgebung deutlich zu machen. Wenn ich ein Mädchen bei ihrer Geburt in unserem Umkreis Lolita nenne, hat das sofort eine Bedeutung und Wirkung für ihr Leben, genauso wie der Name Adolf für einen Neugeborenen. Wenn ich ein Verhalten hysterisch nenne, weckt dieser Ausdruck besondere Konnotationen. Ähnlich sehe ich es mit der Bezeichnung Persönlichkeits- oder Charakterstörung, oder, noch deutlicher, im Englischen: „dis-order”. Als „Unordnung” oder „Störung” bezeichnen wir etwas, das nicht in unsere Ordnung passt oder stört. Spreche ich von Charakterstörungen, so wird die Assoziation hervorgerufen, es handle sich hier um Menschen, die grundlegend gestört sind. Ihr Charakter, ihr So-sein wird als fehlerhaft, unzureichend, funktionsuntüchtig (dysfunktional) und damit als störend behaftet.
Der Begriff Essstörung bezeichnet eine Problematik im Bereich der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung. Ich meine nicht, dass hier nicht ein Problembereich erkannt und behandelt werden sollte. Jedoch ist die Bezeichnung der Störung für mich zu eng. Der Begriff psychosomatische Zeichenhandlung eröffnet viel weitere Dimensionen. Die Problematik wird mit ihren Belastungen für Psyche und Leib angesprochen, aber auch mit der Wahrnehmung der sozialen Botschaften und Bedeutungsprozesse, die in dem jeweiligen Verhalten in Bezug auf das familiäre und gesellschaftliche Umfeld gesandt werden bzw. auf welche die Betroffenen mit Zeichen reagieren. Der Begriff Zeichenhandlung setzt Aktivität und Kommunikationswünsche voraus, und die Anerkennung dieser komplexen Fähigkeiten vermisse ich in der Bezeichnung: Essstörungen.

PiD: Siehst du eine Alternative?

Frau Riedel-Pfäfflin: Ähnliche Überlegungen haben Judith Herman, die amerikanische Psychiaterin und Psychotherapeutin, dazu bewogen, im DSM-Verzeichnis der Krankheiten die Bedeutung des posttraumatischen Belastungssyndroms für Frauen und Männer zu präzisieren und zu erweitern, was bisher unter Persönlichkeits- und Charakterstörungen diagnostiziert wurde. Der Gewinn der Einführung des Begriffes „Belastungssyndrom” liegt darin, dass hierin die Last und Belastung anerkannt wird, die Menschen durch Traumatisierungen angetan wurden und von der Gesellschaft mitverantwortet wird, anstatt die Betroffenen als Gestörte zu klassifizieren.
Wenn ein Mädchen mit zwölf Jahren anfängt, Nahrung zu sich zu nehmen, um sie gleich anschließend wieder zu erbrechen, hat das einen hohen symbolischen Ausdruckscharakter. Wenn derzeit in Sachsen von LehrerInnen berichtet wird, dass alle Mädchen einer ganzen Schulklasse essen und erbrechen, dann übersteigt das Verhalten den Rahmen einer individuellen Krankheit oder Störung so eklatant, dass nach den Zeichen gefragt werden muss, die in diesem Handeln für das Umfeld liegen, und nach der Verantwortung für das Aufwachsen junger Frauen und Männer in unseren gesellschaftlichen Systemen. Diese symbolische Qualität sowohl des Verhaltens der Anorexie wie der Bulimie deutlich zu machen, dient der Begriff psychosomatische Zeichenhandlung.

PiD: Welche Rolle spielt denn in dem Zusammenhang die Religion?

Frau Riedel-Pfäfflin: Der Zusammenhang von Geist, Seele und Leib spielt in allen Religionen und spirituellen Traditionen eine große Rolle. Wie Körper, Materie, Natur, Sinnlichkeit und konkretes Alltagsleben mit Nahrungsaufnahme in Bezug auf das „Heil”, oder die „Erlösung” oder das „wahre Leben” eingeschätzt wurden oder werden, prägt die Menschen, Frauen und Männer, in bestimmten kulturellen Systemen entscheidend. In der Entwicklung des Abendlandes hat sich schon ab der Erfindung der Schriften eine Weltsicht verstärkt, nach der Gott sich in der Herrschaft über Natur als Macht des Geistigen offenbart, und von daher Erlösung als Befreiung von Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Verhaftung an die Materie verstanden wird.
Da Gott in diesem Sinn der geistigen Kraft eher im Mann verkörpert geglaubt wird, während die Frau eher das Prinzip der Natur symbolisiert, werden Frauen in diesem Prozess als diejenigen verstanden, die in ihrer Naturnähe dem Mann gefährlich werden können. So sah der Kirchenvater Tertullian die Frau als das „Eingangstor zur Hölle”, Augustin beschrieb die Schöpfung mit nur Männern als ausreichend und paradiesisch, die Frau sei nur wegen der benötigten Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens geschaffen worden. Dahinter steht das Bild, dass Frauen, Leiblichkeit, Natur, Sexualität im Zaum gehalten werden müssen und sich nicht frei entfalten dürfen. Sabine Scheffler spricht hier von Essstörungen als „Ausdruck der inneren Kolonisierung von Frauen durch das Patriarchat und deren Symbolisierung auf der Körper- und Selbstbildebene”.

PiD: Die Religion hat also wesentlichen Anteil an den gesellschaftlich geprägten Frauenbildern der Gegenwart?

Frau Riedel-Pfäfflin: Ja. Die entsprechenden Frauenbilder - die „gefährliche Eva” und die „demütige Mutter Gottes” - haben Personen und Institutionen in west- und osteuropäischen Ländern und in allen christianisierten Bereichen jahrhundertelang geprägt. Die heutigen Frauen- und Mädchenbilder der Barbiepuppen, der Schlankheits- und Schönheitsprogramme sind nicht ohne diese Geschichte zu verstehen. Die heutige Vermarktung von Mädchen und Frauen, wie auch von Jungen, sollte meiner Meinung nach auch vor dem Hintergrund dieser Bilder gesehen werden. Heute wird einerseits der Körper als Materie in einem Ausmaß benutzt und ausgebeutet wie nie zuvor (Mädchen und Jungen als „Frischfleisch” in Prostitution und Pornografie), andererseits werden aber auch bestimmte Körperbilder in neuer Weise „angebetet” (Suche nach dem Superstar, der sich selbstquälerisch durch härteste Prüfungen hervorarbeiten muss).

PiD: Du hast die jahrhundertealte dualistische Einstellung zum Leib von Mädchen und Frauen sowie von Männern und gesellschaftliche Anerkennung als Spannungsfeld genannt, in dem Essstörungen auftreten. Ist eine Gesellschaftsform ohne Essstörungen denkbar?

Frau Riedel-Pfäfflin: Probleme im Bereich der Nahrungsaufnahme, der Verarbeitung von Nahrung, des Bezuges zur eigenen Leiblichkeit hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Mir fallen jedoch Gesellschaften ein, die noch heute von Subsistenzwirtschaft leben, wo es genügend Selbstversorgung mit Nahrung gibt und wo Mädchen und Frauen in Arbeitsteilung mit den Männern konstitutiv für die Wirtschaft sind, indem sie den Handel managen, z. B. in Juchitan, Mexiko. Hier sind Mädchen und Frauen nicht auf Schönheitsideale der Schlankheit fixiert, sondern füllig, alle habe genug zu essen, Männer können in Frauentätigkeit anerkannt werden und Mädchen bekommen schon in der Pubertät ihre Existenzgrundlage in Form eines Marktstandes, der ihre Zukunft als aktive Händlerin sichert. Das ganze Zusammenleben basiert auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Umverteilung der erarbeiteten Güter.

PiD: Gibt es eine positive Perspektive, eine Vision, die du anstrebst?

Frau Riedel-Pfäfflin: Eine Vision ist für mich die Vertiefung und Erweiterung der Ansätze von Psychotherapie und Seelsorge, in welchen Erinnerungsarbeit bewusst in Bezug auf Familiensysteme und ihre Einbettung in gesellschaftliche Entwicklungen durchgeführt wird. Positiv sehe ich in diesem Sinn die mehrgenerationalen Perspektiven der Ansätze von Almuth Massing, Günter Reich und Eckart Sperling. In einer ähnlichen Weise geht Ruthard Stachowske in der Arbeit mit Schwerstdrogenabhängigen vor. In Theologie und Seelsorge hat eine kritische Auseinandersetzung mit geschichtlichen Entwicklungen über Generationen schon immer eine Rolle gespielt. Heute werden auch hier systemische Ansätze entwickelt, etwa bei Christoph Morgenthaler und Martin Ferel. Feministische Theologie hat speziell die Frage nach der Zukunft der Beziehungsqualität zwischen Geist und Natur, Frauen und Männern vertieft und spielt weltweit eine Rolle in der Entwicklung des Bewusstseins ihrer Ressourcen für Mädchen, Frauen und Männer.
Mein afroamerikanischer Kollege Archie Smith Jr. (aus Berkeley, California) und ich haben gemeinsam ein Buch geschrieben, in dem die Frage nach der Vergebung struktureller Traumata und Gewalt zwischen Frauen und Männern unterschiedlicher Kulturen, Klassen und Religionen gestellt wird. Unsere Vision ist, dass erst nach der Verarbeitung längst vergangener, und doch noch heute wirksamer Traumatisierungen, auf die Menschen mit Krankheiten und Störungen hinweisen, heilende, entlastende Veränderungen für die jetzigen Generationen wirksam werden.
Für mich können psychosomatische Zeichenhandlungen wie Essverhalten in ihren symbolischen Botschaften prophetischen Charakter darin haben, dass sie wie die Zeichenhandlungen der Propheten der israelitischen Geschichte auf wichtige Fehlentwicklungen oder Chancen hinweisen. Indem sie beachtet, dem Verstehen zugänglich gemacht und in ihrer Botschaft ernst genommen werden, können sie einen Anstoß für eine Veränderung gesellschaftlicher Anerkennung junger Frauen und Männer bedeuten.

PiD: Was bedeutet das konkret für die Menschen der Gegenwart?

Frau Riedel-Pfäfflin: Die jetzige Kinder- und Jugendgeneration sollte von perfektionistischen Ansprüchen der Gesellschaft entlastet werden. Ihre Bedürfnisse nach Nähe, Bindung, Verortung und Gemeinschaft anzuerkennen und dafür neue Lebensformen zu schaffen, ist genauso wichtig wie die Vermittlung klarer Grenzen, die Vermittlung von Offenheit für Unterschiede und eigene Werte.
Als wichtigste theologische Frage in diesem Zusammenhang sehe ich die Bedeutung der Heiligkeit allen Lebens.

PiD: Herzlichen Dank für dieses interessante Interview.

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