Z Sex Forsch 2004; 17(1): 1-10
DOI: 10.1055/s-2004-818786
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Melancholie und Geschlecht

Psychoanalytische Anmerkungen zur Theorie von Judith Butler[*] Ilka Quindeau
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Publication Date:
04 May 2004 (online)

Übersicht

Die Autorin liest Judith Butlers Geschlechtertheorie aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen Vorstellungen über Sexualität, Begehren und die Entwicklung des Geschlechts. Vor allem im psychoanalytischen Diskurs über die Entwicklung des Geschlechts gebe es eine Reihe ungeklärter Biologismen, deren Sackgassen Butlers Theorie zumindest erkennbar mache. Von besonderer Bedeutung dafür sind nach Ansicht der Autorin Butlers Gedanken zum „melancholischen Geschlecht”. Die Autorin diskutiert diese Überlegungen im Kontext der psychoanalytischen Lehre über die frühen Identifizierungen und kommt dabei zu dem Schluss, dass das Ich, verstanden als Körper-Ich, eine geschlechtsspezifische Morphologie annimmt. Abschließend greift sie Butlers Vorstellungen auf, denen zufolge eine heterosexuelle Geschlechtsidentität immer mit einer Verwerfung und Ausschließung des homosexuellen Begehrens und der frühen homosexuellen Bindungen einhergeht, und versucht, die Aporie von Begehren, Identifizierung und Verwerfung in Butlers Argumentation aufzulösen.

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 23. Mai 2003 am Frankfurter Psychoanalytischen Institut im Rahmen einer Kontroverse über Judith Butler zwischen Reimut Reiche und Ilka Quindeau gehalten wurde.

Literatur

  • 1 Butler J. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1991
  • 2 Butler J. Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts. In: Institut für Sozialforschung Frankfurt (Hrsg). Geschlechterverhältnisse und Politik. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1994
  • 3 Butler J. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag; 1995
  • 4 Butler J. Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung. In: Butler J. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2001
  • 5 Foucault M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1976
  • 6 Foucault M. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1977
  • 7 Freud S. (1917)Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. X. London: Imago; 1946
  • 8 Freud S. (1923) Das Ich und das Es. Gesammelte Werke, Bd. XIII. London: Imago; 1940
  • 9 Laplanche J. „Die Allgemeine Verführungstheorie” und andere Aufsätze. Tübingen: Edition Diskord; 1988
  • 10 Laplanche J. Die unvollendete kopernikanische Wende in der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1996
  • 11 Quindeau 1. Lust auf Anderes. Die Implantation der heterosexuellen Ordnung in der Allgemeinen Verführungsszene. In: Bayer L, Quindeau 1 (Hrsg). Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Allgemeinen Verführungstheorie von Jean Laplanche. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2004

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 23. Mai 2003 am Frankfurter Psychoanalytischen Institut im Rahmen einer Kontroverse über Judith Butler zwischen Reimut Reiche und Ilka Quindeau gehalten wurde.

2 Dieser Begriff beschreibt den Zusammenhang von Sagen und Zeigen: Sprachliche Äußerungen werden einerseits als regelgeleitete Ausführungen eines bestimmten Programms (wie der Grammatik) aufgefasst und andererseits als Handlungen im Sinne von Aufführungen. Während die Ausführung einer Sprachhandlung durch die Kenntnis des vorausgesetzten Programms und seines Ziels restlos verstanden werden kann, ist die Aufführung einer sprachlichen Äußerung als Ereignis charakterisiert, das immer mehr enthält, als mit Hilfe der sprachlichen Regeln beschrieben werden kann. Dieser Bedeutungsüberschuss ist jedoch nicht als Abweichung oder Störung zu verstehen, sondern stellt das Ordnungssystem selbst infrage. Der performative Charakter der Sprache schafft und verändert zugleich Wirklichkeit. Dies zeigt sich an einfachen Beispielen wie der Trauung im Standesamt, einem Kündigungsschreiben oder einer Gerichtsverhandlung. Mit Worten werden zugleich Handlungen vollzogen: Die Unterzeichnung des Ehevertrags zeitigt eine Reihe von Konsequenzen für die Lebenswirklichkeit der Beteiligten, die Kündigung macht einen Arbeitnehmer zu einem Arbeitslosen, ein Gerichtsbeschluss einen freien Menschen unter Umständen zu einem Gefängnisinsassen. In analoger Weise lässt sich auch die Zuordnung von Menschen zu einer Geschlechtsposition als performativer Akt verstehen, der Menschen zu Mädchen oder Jungen, Männern oder Frauen macht.

Dr. Ilka Quindeau

Finkenhofstr. 38

60322 Frankfurt am Main

Email: quindeau@em.uni-frankfurt.de

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