Z Sex Forsch 2004; 17(2): 97-115
DOI: 10.1055/s-2004-820274
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur Theorie der weiblichen Sexualentwicklung

S. Castendyk
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Publication Date:
22 July 2004 (online)

Übersicht:

In der Psychoanalyse gibt es, so die Autorin, immer noch keine konsistente Theorie der weiblichen sexuellen Entwicklung. Und es gebe bislang auch kein Konzept einer nicht pathologischen Sexualität. Der Aufsatz ist der Versuch, beides vorzulegen. Dieser Versuch basiert auf einer Re-Lektüre der anerkannten psychoanalytischen Theoreme zur weiblichen Entwicklung, deren zentrale Elemente von der Autorin gleichsam anders angeordnet werden. Sie plädiert dafür, vom Konzept des Objektwechsels Abschied zu nehmen, dessen ursprünglich von Freud entworfene Voraussetzungen seit vielen Jahren widerlegt seien. Angenommen wird von ihr stattdessen eine zweiphasige Entwicklung, der zufolge das Mädchen nach der Anerkennung der Geschlechterdifferenz sich nicht nur körperlich, sondern auch im erotischen Dialog geschlechtlich und körperlich beschränkt, um dann in einem zweiten Schritt die Objektwahl auf dem ödipalen Beziehungsniveau vorzunehmen. Auf der Basis ihres Konzepts lässt sich, wie die Autorin herausarbeitet, die Wahl eines gleichgeschlechtlichen Objekts als erfolgreiche Strategie zur Lösung von Konflikten entweder in der Phase der geschlechtlichen Positionierung oder in der Phase der ödipalen Objektwahl interpretieren.

Literatur

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1 Es scheint mir überhaupt fraglich, ob das Geschlecht des präödipalen Objekts für das noch narzisstisch strukturierte Kind zentral wichtig ist. Zu Freuds Zeiten waren immer Frauen für die frühe Pflege zuständig, so dass das erste Objekt immer weiblich war. Aber wie ist das bei jenen kleinen Jungen, die in den ersten Jahren von ihren Vätern gepflegt werden? Aus meiner Argumentation wird hervorgehen, dass das Geschlecht des Objekts erst in der ödipalen Phase wirklich relevant wird, da erst dann alle Aspekte der Geschlechterdifferenz psychisch im Kind etabliert sind.

2 Vgl. Ohnstad 2003. Die Autorin zeigt anhand einiger Fallbeispiele, dass auch Frauen, die sich nach einer lesbischen Phase einem Mann zuwenden, ihre lesbische Identität erst einmal aufrechterhalten, anstatt sie durch eine bisexuelle Selbstdefinition zu ersetzen. Der Text legt außerdem nahe, dass dieselben Frauen sich nach einer Zeit der heterosexuellen Objektwahl als heterosexuell definieren, nicht jedoch als bisexuell.

3 Vgl. dagegen Düring 2001. Die Autorin verficht in ihrem sehr luzide geschriebenen Artikel die Thesen der Konstruktionstheorie, d. h. sie geht davon aus, dass alle das Geschlecht betreffenden Festlegungen sozial konstruiert und damit flexibel sind. - Obwohl ich die Prämissen der Konstruktionstheorie teile, scheint mir doch die Flexibilität, insbesondere die psychische Flexibilität in dieser Theorie deutlich überschätzt zu werden. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass die historische Entwicklung in diese Richtung noch weiter voranschreitet.

4 Allein die Ausdrücke „butch” und „femme”, bzw. „kesser Vater” und Ähnliches deuten darauf hin, dass die männliche bzw. weibliche Positionierung ein beständiges Thema unter Lesben ist, auch wenn gerne für sich in Anspruch genommen wird, keinerlei Geschlechtsrollendifferenzierung zu kennen.

5 Sonja Düring (2001 : 339) fügt hinzu, dass der Penis außerdem als Symbol für die überlegene männliche Körperkraft betrachtet wird, die ebenfalls beim Mädchen Neid erregt. Aber auch diese Autorin ist der Ansicht, dass der Penisneid ein Teilaspekt der Omnipotenzbeschränkung darstellt und nicht an sich strukturbildend wirkt, d. h. er ist nicht auslösend für einen notwendigen weiblichen Entwicklungsschritt.

6 Sonja Düring betont, dass die Idee von der Zweigeschlechtlichkeit nicht aufgegeben, sondern vielmehr als lustvolle und bewusste Phantasie beibehalten wird, sofern nicht durch eine rigide Erziehung die pathologische Abwehr dieser Phantasie notwendig wird. Für meine Argumentation macht diese - im klinischen Alltag wertvolle Differenzierung - keinen großen Unterschied; das Gewicht der Argumentation liegt hier jedoch auf der notwendigen Beschränkung der Allmachtsphantasie, um ein ödipales Beziehungsniveau zu erreichen.

7 Die Hervorhebung der Positionierung als strukturbildende psychische Aufgabe wird vermutlich - vor allem in der homosexuellen Gemeinschaft - auf ideologische Widerstände treffen, denn allgemein hält man sich heutzutage gern zugute, von derartigen Einschränkungen frei zu sein. Die Realität der gelebten Sexualitäten spricht jedoch für die ausgeführte These, auch wenn eine noch weiter gehende Liberalisierung diesen Umstand nachhaltig verändern mag.

8 Obwohl das hier nicht mein Thema ist, möchte ich anmerken, dass meines Erachtens die männliche Entwicklung durchaus analog verläuft. Der Unterschied besteht allein darin, dass der „Wechsel” (besser: die Ablösung) vom präödipal-narzisstischen zum ödipalen Objekt nicht so sichtbar wird, weil dieses Objekt zumeist in beiden Fällen die Mutter ist.

9 Es ist sehr die Frage, ob die Entwicklungsschritte, die der kleine Junge zur Auflösung der ödipalen Triangulierung durchlaufen muss, beim Mädchen wirklich in die Pubertät verschoben werden. Nach meiner Ansicht muss man auch beim Mädchen davon ausgehen, dass in der ödipalen Phase zwei große emotionale Konflikte bewältigt werden müssen: zum einen die bereits genannte Verarbeitung der Kränkung (nicht omnipotent zu sein) und dann, im Beziehungskonflikt aus Begehren und Rivalität, die Verarbeitung der Kastrationsangst mit dem Ergebnis, das inzestuöse Objekt aufzugeben. Denn erst diese Anerkennung der Generationsschranke bildet die Basis für ein reifes Über-Ich. Damit bleibt für die Pubertät bei beiden Geschlechtern noch genug übrig. Auch wenn es in der analytischen Literatur nur selten angesprochen wird, ist doch die Wahl eines eigenen Objekts gegen die Eifersucht des ödipal bezogenen Elternteils, ein nicht zu unterschätzender Konflikt.

10 Zumeist wird das Spielen mit den Positionen erst im Erwachsenenalter möglich.

11 Gewiss legt ein erheblicher Teil des Fallmaterials frühe Störungen nahe. Das ist jedoch auch bei heterosexuellen Patientinnen der Fall.

12 Poluda-Korte hat zwar Recht, dass der Begriff des „negativen Ödipus” - wie alle anderen Begriffe Freuds - an der männlichen Entwicklung orientiert und mithin für die Beschreibung der weiblichen Entwicklung wenig geeignet erscheint, aber ihre Alternative ist in der psychoanalytischen Terminologie aus den genannten Gründen noch weniger brauchbar.

13 Poluda-Korte ist auch in ihrem späteren Aufsatz „Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklung” in Volkmar Siguschs Lehrbuch „Sexuelle Störungen und ihre Behandlung” (2001) nicht auf die von mir hier genannten Schwierigkeiten eingegangen.

14 Eisenbud bezieht sich ja auch auf klinisches Fallmaterial und erklärt lediglich, dass die Patientin nach therapeutischer Durcharbeitung eine nunmehr nicht mehr pathologische Sexualität leben.

15 Man könnte einwenden, dass das Mädchen von der Frigidität der Mutter nichts weiß, was dem Begriffe nach sicher richtig ist. Das Phänomen selbst jedoch teilt sich ganz sicher mit: als Unlust der Mutter, auf die Werbung des Vaters einzugehen, als allgemeine Unzufriedenheit und Aura des Verzichts.

16 Eine vergleichbare lesbische Objektwahl kann natürlich auch noch nach einem späteren, traumatischen Erlebnis getroffen werden, z. B. nach einer Vergewaltigung. Obwohl eine solche Konsequenz gesellschaftlich nicht selten abqualifiziert wird, ist diese Wahl auch später auf der Basis eines ödipalen Objektbeziehungsniveaus getroffen, d. h. die Frau ist in ihrer Liebesfähigkeit nicht notwendig beeinträchtigt - abgesehen natürlich von den sonstigen Folgen eines solchen Traumas.

Dr. S Castendyk

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