Z Sex Forsch 2005; 18(1): 39-40
DOI: 10.1055/s-2005-836415
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung und die psychoanalytische Kulturtheorie

M. Erdheim
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Publikationsdatum:
14. April 2005 (online)

Von damals an, als ich zum ersten Mal Freuds Text zu verstehen begann, bis zum heutigen Tag beeindruckt mich seine Theorie von der Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung, und zwar deshalb, weil sie einen Zusammenhang zwischen der frühen Kindheit und der Pubertät bzw. Adoleszenz herstellt. Obwohl Freud an der These der Zweizeitigkeit bis in sein Spätwerk festhielt und sich auch noch 1938 im „Abriss der Psychoanalyse” darauf bezog, wurde ihre theoretische Relevanz verkannt. Eine Folge dieser Verkennung war die Hypertrophie der frühen Kindheit sowohl auf der Ebene des Forschungsinteresses als auch in der Metatheorie. Pubertät und Adoleszenz verschwanden bis auf wenige Ausnahmen aus dem Diskurs der Psychoanalyse. Noch in den Sechzigerjahren war es deshalb möglich, dass Janine Chasseguet-Smirgel mit anderen Psychoanalytikerinnen ein Buch über weibliche Sexualität veröffentlichen konnte, in dem die Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung der Frau nicht berücksichtigt wurde. Auch das Phänomen der Menstruation fand in diesem Buch keine Beachtung: Kleine Mädchen menstruieren nicht, also kann die Menstruation nicht relevant für die weibliche Sexualität sein.

Die Verkennung der These der Zweizeitigkeit führte aber auch zu einer ans Absurde grenzenden Verzerrung der psychoanalytischen Kulturtheorie. Kultur konnte nur noch aus der Sicht des Kleinkindes und der Familie untersucht und beschrieben werden. In einer auf diese Weise theoretisch lädierten Psychoanalyse konnte Gesellschaft nur als eine Art erweiterte Familie gedacht werden, und die kulturelle Bedeutung der Ablösung des Heranwachsenden von seiner Ursprungsfamilie entzog sich der psychoanalytischen Reflexion. Die These der Zweizeitigkeit ist vielleicht nicht so spektakulär wie die Todestriebhypothese und weckte aus diesem Grunde keine leidenschaftlichen Kontroversen, aber sie birgt in sich ein großes Potenzial an neuen Fragestellungen und rechtfertigt schon allein deswegen eine gründliche neue Lektüre der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie”.

Zum ersten Mal las ich die „Drei Abhandlungen” als Gymnasiast. Was ich damals erfahren wollte, erfuhr ich natürlich nicht, und ich legte das Taschenbuch enttäuscht weg. Viele Jahre später griff ich erneut zu diesem Buch und war fasziniert von dem Gedanken, dass es der Trieb ist, der sich sein Objekt schafft. In den Sechzigerjahren fiel Freuds Überzeugung, dass Sexualität nicht mit Fortpflanzung, sondern mit Lust zu tun hat, auf fruchtbaren Boden. Sie fegte all die moralisierenden Vorstellungen (etwa von Max Scheler) über das, was Liebe sei, vom Tisch und warf einen auf die Frage zurück, was denn Lust wäre.

Die damals gelehrte psychoanalytische Theorie erwies sich allerdings als nicht sehr hilfreich in dieser Hinsicht. Freuds Zugang zum Phänomen der Perversion und zu der der Lust ausgelieferten frühkindlichen Sexualität war dafür sehr viel bedeutsamer. Aber da stolperte man bald über die bekannte These, die etwas von einem Verdikt hatte, nämlich dass Kultur auf Triebverzicht beruhe. Merkwürdigerweise schien diese These allen einzuleuchten, und sowohl die Angehörigen der katholischen Kirche als auch die Vertreter der kritischen Theorie waren in dieser Frage einig mit Freud. Auch mit der aus dem Gegensatz von Trieb und Kultur abgeleiteten Sublimationstheorie konnten sich Kirchengläubige und Kulturkritiker ohne weiteres einverstanden erklären. Auf einen anderen Ansatz im Freudschen Denken, wonach Kultur ein Prozess im Dienste des Eros sei, der die Menschen libidinös miteinander verbindet, gingen sie dagegen nicht ein. Diesem Gedanken zufolge beruhte Kultur also nicht auf Triebverzicht, sondern auf Trieberfüllung. Las man die „Drei Abhandlungen” unter diesem Vorzeichen, so ergab sich eine andere Lesart als die kanonisierte, für die der Gegensatz von Trieb und Kultur bzw. von Zivilisation und Lustverbot grundlegend ist. Während man das Inzestverbot immer nur als Verzicht auf die familiären Liebesobjekte interpretiert hatte, konnte man es nun als ein Gebot verstehen, durch das das Fremde zum Liebesobjekt wurde. Die Lust am Fremden ist die Prämie für die Abwendung von den familiären Lüsten. Das Fremde kann nur deshalb zum Liebesobjekt werden, weil der Trieb eben nicht ein für alle Mal auf ein Objekt festgelegt ist, sondern sich sein Objekt selbst erschaffen kann.

Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” heute zu lesen eröffnet erstaunlich viele neue Perspektiven, und ich würde sie deshalb als einen durchaus aktuellen Text bezeichnen. Probleme habe ich allerdings mit Freuds Ausführungen über Weiblichkeit. Verglichen mit den Theorien von Otto Weininger, August Strindberg oder Karl Kraus wirken sie zwar geradezu „vernünftig”. Gleichwohl haben sie etwas merkwürdig Abstruses, zum Beispiel wenn Freud von der „riesigen Anzahl der prostituierten Frauen und solcher, denen man die Eignung zur Prostitution zusprechen muss, obwohl sie dem Berufe entgangen sind”, spricht. Oder wenn er meint, das Phänomen der Sexualüberschätzung lasse sich vor allem am Manne beobachten, weniger an der Frau, und zwar wegen ihrer „Kulturverkümmerung” einerseits und ihrer „konventionellen Unaufrichtigkeit” andererseits. Solche Sätze erstaunen den an die Aufrichtigkeit von Freuds Patientinnen sich erinnernden Leser, so wie sie in den „Studien über Hysterie” erscheint. Auf was für Erfahrungen hat Freud sich da nur bezogen oder, anders gefragt, was für Erfahrungen musste er verleugnen, um zu solchen Ansichten zu kommen?

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