Z Sex Forsch 2005; 18(1): 56-61
DOI: 10.1055/s-2005-836421
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Paralipomena zur Sexualtheorie[*]

R. Green
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Freuds „Drei Abhandlungen” sind in die Jahre gekommen - wie ich, zeitverschoben.

1962, während meiner psychiatrischen Assistentenzeit, habe ich die „Drei Abhandlungen” zum ersten Mal gelesen. Ich fand die erste faszinierend; die zweite und die dritte beeindruckten mich etwas weniger. Von den psychoanalytischen Autoren schrieb Freud am klarsten und flüssigsten, abgesehen - Dekaden später - von Robert Stoller, der allerdings ungleich humorvoller war. Schon in meinen College-Jahren hatte mich Freud am Haken seiner Schriften, als ich im Fach Psychologie die „Psychopathologie des Alltagslebens” las. Bis mich die Herausgeber dieser Zeitschrift um einen Beitrag zu ihrem Sonderheft baten, hatte ich die „Drei Abhandlungen” nicht wieder gelesen. Nachdem ich vier Jahrzehnte sexualwissenschaftlicher und klinischer Arbeit hinter mich gebracht habe, denke ich nun wieder über sie nach.

Freuds Lieblingssohn, Anna, schrieb die Einführung zu dem Band seiner Schriften, der auch die Fassung der „Drei Abhandlungen” enthält, auf die ich mich hier beziehe [5]. Sie untersucht den wissenschaftlichen Beitrag, den ihr Vater mit diesen drei Aufsätzen leistete, und diskutiert deren (für die damalige Zeit) kontroverses Potenzial und deren überdauernde Bedeutung. Obwohl sie nicht gerade eine unvoreingenommene Beobachterin genannt werden kann, sind ihre Kommentare von großem Interesse.

Miss Freud schrieb: „That Freud [nicht: mein Vater; R. G.] questioned his neurotic patients about the details of their sexual life offended the conventions of the bourgeois world in which he lived and worked, without sharing its hypocritical denials. What he himself regarded as resolute exploration others construed to be perverse pruriency. The situation grew worse with the publication of ‘Three Essays on the Theory of Sexuality’. This work contributed considerably to Freud's social and scientific isolation” [2: S. 271].

Miss Freud setzt sich dann mit der feministischen Kritik an ihrem Vater auseinander, die sie als unfair ansieht: Den Feministinnen passte das Diktum „Anatomie ist Schicksal” nicht. Für Anna Freud hingegen ist dieser Satz nicht inkompatibel mit den Konzepten weibliche Gleichheit, Kompetenz und weiblicher Erfolg. „They deny the existence of any inherited difference between man and woman and explain the appearance of early unlikeness as the exclusive result of social influences on upbringing which push the girl to play with dolls and propel the boy toward interest in motors, soldiers and war games. The anatomical difference between penis and vagina, between impregnation and giving birth, and its decisive impact on psychic development are pushed aside in the passionate efforts to free women from the subjugation in which they have in fact been held for centuries” [2: S. 275].

Zu der Zeit, als Anna Freud ihren Kommentar schrieb, waren die Sexualphysiologen und Sexualtherapeuten William H. Masters und Virginia E. Johnson auf der Höhe ihres Erfolges. Auch sie werden von Anna Freud in die Schranken verwiesen: „It was Freud's effort and merit that in the creation of his libido concept he welded together somatic and psychic processes into an inseparable unit. In contrast, Masters and Johnson […] attempt to demonstrate that physical processes in isolation are amenable to therapeutic interventions. Thus, they once again divorce the sexual and the love life from each other and put the stamp of a purely physical process on the former. In this way they undo what Freud accomplished with his ‘Three Essays’” [2: S. 276].

Psychoanalytiker bestanden darauf, dass der klitoridale Orgasmus psychosexuell weniger reif sei als der vaginale. Masters und Johnson fanden keine physiologischen Unterschiede, und ihre Untersuchungspersonen berichteten auch nicht über Unterschiede im Erleben. Judd Marmor war übrigens einer der wenigen Psychoanalytiker, die Masters und Johnson Beifall zollten.

Eine Reihe von grundlegenden Beobachtungen Freuds haben den Test der Zeit überstanden, ich fand und finde sie von Interesse. Seine positiven Äußerungen zur männlichen Homosexualität munitionierten mich in den frühen 1970er-Jahren, als ich darum kämpfte, dass „Homosexualität” aus der Liste der psychiatrischen Erkrankungen im DSM gestrichen wurde. Freud [3: S. 50] schrieb: „Dass die Invertierten nicht Degenerierte […] sind, geht aus mehreren Tatsachen hervor: (1) Man findet die Inversion bei Personen, die keine sonstigen schweren Abweichungen von der Norm zeigen; (2) desgleichen bei Personen, deren Leistungsfähigkeit nicht gestört ist, ja, die sich durch besonders hohe intellektuelle Entwicklung und ethische Kultur auszeichnen.” Diese Salve feuerte ich auf die traditionellen Psychiater und Psychoanalytiker und schickte den Brief an die Mutter eines amerikanischen Homosexuellen hinterher, in dem Freud [4] der Mutter versicherte, dass Homosexualität weder eine Krankheit noch ein Laster sei.

Die von Freud beschriebene Kindheitsamnesie, ein neuropsychologisches Entwicklungsphänomen, wurde während der Blütezeit der „recovered memory”-Bewegung lautstark vergessen. In den 1990ern wollten brillante Ausgrabungstherapeuten die Erinnerung lang vergessener früher sexueller Missbräuche ihrer Patienten zutage fördern. Mit ein wenig Hilfe von ihren (professionellen) Freunden erinnerten die Patienten horrende sexuelle Traumen in den Lebensjahren, in denen Erinnerung nicht möglich ist, bis hin zu satanischen Zeremonien, an denen ihre Eltern teilgenommen hatten. Das zentrale Nervensystem hat die Fähigkeit des Erinnerns zu dieser Zeit noch nicht entwickelt. Angesichts dieser neurologischen Tatsache erfanden die „recovered memory”-Therapeuten unverzagt das Konzept der Körpererinnerungen, dem zufolge auch andere als Nervenzellen, zum Beispiel die Haut, das Reservoir frühester Erinnerungen sein können, die darauf warteten, von den modernen dermatologischen Psychiatern wachgeklopft zu werden.

Die Behauptung, dass die sexuelle Objektwahl in zwei Lebensabschnitten besonders dynamisch ist, bleibt ungeklärt. Dies führte zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Kontakte puberaler Kinder mit sexuell untypischen Eltern. Wenn ich in Gerichtsverfahren gutachtete, dass ein dreizehnjähriger Sohn oder eine dreizehnjährige Tochter eines Vaters, der transsexuell ist, oder einer Mutter, die transsexuell ist, nicht in psychosexuelle Konfusion verfalle, wenn er oder sie Kontakt mit ihr oder ihm hat, wurde ich von den Gutachtern der anderen Seite mit dem psychoanalytischen Mantra der Reaktivierung ödipaler Konflikte in der frühen Adoleszenz konfrontiert. Die gleiche Konfrontation vor Gericht erlebte ich in Verfahren über das Sorgerecht homosexueller Eltern. Wenn dieses Mantra mangels Evidenz untergeht, dient das der Eltern-Kind-Bindung.

Freuds hydraulisches theoretisches Konzept, dem zufolge es zu einer psychischen Erkrankung kommt, wenn „der Libido auf normalem Wege die Befriedigung versagt wird” und sie sich „wie ein Strom [verhält], dessen Hauptbett verlegt wird”, indem sie „die kollateralen Wege aus[füllt], die bisher vielleicht leer geblieben waren” [3: S. 78], ist eine große Metapher, aber keine große Wissenschaft. Seine klassisch gewordene Annahme, Neurosen seien das Negativ der Perversion [3: S. 74], ist ein eingängiger Slogan, aber kein Glanzlicht der Psychologie. Er argumentierte, dass Psychoneurosen auf blockierten sexuellen und Triebkräften gründen und Symptome die sexuelle Aktivität des Patienten konstituieren. Wahrscheinlich nicht.

Freuds Erklärung der Inversion bezog sich auf das damalige Wissen über die embryologische oder anatomische bisexuelle Disposition des Menschen, die er dann als psychischen Hermaphroditismus missverstand. Eine nette Metapher, die immer noch in Gebrauch ist, befürwortet von solchen, die sich der Befunde weiblicher Gehirnteilchen in einem sonst männlichen Körper sicher sind.

Freuds Annahme, dass der männliche Homosexuelle eine Mutterfixierung hat, sich mit Frauen identifiziert und sich selbst zum sexuellen Objekt nimmt, war vordergründig einleuchtend, hat aber das zunehmende Verständnis der Homosexualität nicht überlebt. Wie weise war es von Freud [3: S. 56, Fn. 1] zu notieren: „Im Sinne der Psychoanalyse ist […] auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem”. Wir wissen immer noch wenig über die Ursprünge der Heterosexualität, es sei denn, wir begnügen uns mit dem Hinweis auf ihre Bedeutung für das Überleben der Art.

Die Anlage-Umwelt-Kontroverse war schon damals nicht neu, sie besteht bis heute fort und ist nach wie vor ungelöst. Der weise Mann weigerte sich, menschliches Verhalten als ausschließlich angeboren oder erlernt zu beschreiben. Treffend und beinahe humorvoll wies er darauf hin, dass die Genetik eher an den Ursprüngen der Vorfahren als an den Ursprüngen der Lebensgeschichte eines Individuums interessiert sei. In einer ergänzenden Fußnote zu den „Drei Abhandlungen” sagte er 1915: „Es ist ja auch nicht möglich, den der Erblichkeit gebührenden Anteil richtig zu erkennen, ehe man den der Kindheit zugehörigen gewürdigt hat” [3: S. 81].

Ein klinischer Forscher der Extraklasse ist dieser Mann: „Die Endgestaltung des Sexuallebens [ist] vor allem das Ergebnis der angeborenen Konstitution”. „[…] in solchem Zusammenwirken von Faktoren [bleibt] auch Raum für die modifizierenden Einflüsse des akzidentell in der Kindheit und späterhin Erlebten […]. Es ist nicht leicht, die Wirksamkeit der konstitutionellen und der akzidentellen Faktoren in ihrem Verhältnis zueinander abzuschätzen. In der Theorie neigt man immer zur Überschätzung der Ersteren; die therapeutische Praxis hebt die Bedeutsamkeit der Letzteren hervor. Man sollte auf keinen Fall vergessen, dass zwischen den beiden ein Verhältnis von Kooperation und nicht von Ausschließung besteht. Das konstitutionelle Moment muss auf Erlebnisse warten, die es zur Geltung bringen, das akzidentelle bedarf einer Anlehnung an die Konstitution, um zur Wirkung zu kommen” [3: S. 141 f]. Toll, Sigmund, einfach toll.

Aus späteren Quellen [1] [6] wissen wir, dass Freud sich einer so genannten Steinach-Operation unterzogen hat, um seine körperliche und sexuelle Vitalität zu stärken. Der Eingriff bestand im Wesentlichen aus einer Vasoligatur. In einer Fußnote aus dem Jahre 1920 überbewertet Freud den Beitrag, den Steinach mit seinen Keimdrüsenimplantationen geleistet hat [3: S. 58]. Er verweist auf die Fallgeschichte eines Mannes, dem nach dem Verlust seiner Hoden durch eine Tuberkulose zunächst Eierstöcke überpflanzt wurden und der daraufhin zu einem passiven Homosexuellen mit weiblichen Brüsten und Hüften wurde; nachdem ihm die Hoden eines Gestorbenen implantiert wurden, sei er wieder heterosexuell geworden. Das ist Quatsch, frei heraus gesagt. Ich bitte meine deutschen Leser, Freuds Bemerkung zu lesen und zu beurteilen, ob mein Verdikt angemessen ist.

Die sexuelle Fetischisierung fehlender Gliedmaßen, Amputophilie, zog schon vor hundert Jahren Freuds Aufmerksamkeit auf sich: „Selbst Körperfehler”, so schreibt er, können sexuell erregend sein [3: S. 63]. Freuds Beobachtung, dass Hysterie und Zwangsneurosen oft bei Patienten auftreten, deren Väter schon vor der Ehe an Syphilis erkrankt waren, wirkt im Nachhinein ein wenig kauzig. Die „französische Krankheit”, wie die Deutschen sie nannten, und die „deutsche Krankheit”, von der die Franzosen sprachen, kann hiervon freigesprochen werden.

Ich mag das deutsche Sprichwort „Junge Hure, alte Betschwester”, das Freud [3: S. 140] benutzte, um die Umwandlung dessen, was er frühe perverse sexuelle Wünsche nannte, in neurotische Symptome zu beschreiben. Durch Verdrängung und noch vor der Pubertät ersetzt die Neurose die Perversion, ohne dass die alten Impulse ausgelöscht werden.

Freud sprach von psychoanalytischer Forschung, aber als Wissenschaftler anerkannte er ihre methodischen Besonderheiten und Begrenzungen im Vergleich zu den harten Wissenschaften. Er sprach von „unserer Wissenschaft”, ein Terminus, den Robert Stoller ein wenig selbstironisch und oft apologetisch benutzte, wenn er seine eigenen sexualwissenschaftlichen Beobachtungen vortrug. Die Vorstellung, dass die Zivilisation durch Sublimierung der Libido hervorgebracht wird, war für mich immer eine wenig zündende Idee (abgesehen von der Aufrichtung des Eiffelturms).

Wenn man sich durch die Revisionen der „Drei Abhandlungen”, die durch die Fußnoten zu rekonstruieren sind, hindurchkämpft, dann gewinnt man einen Einblick in den freudianischen Prozess. Manchmal ändert sich durch diese nur die Anzahl der Engel, die auf einer Stecknadelspitze Platz haben, manchmal jedoch sind diese von großer Tragweite.

Freud legitimierte Generationen potenzieller Sexualforscher, Psychiater und Psychologen, in einer sexualwissenschaftlichen Karriere Futter zu suchen. Hätte ich selbst dies ohne sein Vermächtnis versucht? Ich vermute, dass ohne die „Drei Abhandlungen” meine akademischen Mentoren, John Money und Robert Stoller, kognitive Störungen und Schizophrenie erforscht hätten.

Ich kann nicht sagen, dass die „Drei Abhandlungen” viel zu meiner eigenen Psychoanalyse beigetragen haben. Ich habe mich jahrelang vor Hanna Fenichel, der Witwe Otto Fenichels, niedergelegt und entblößt. Einen Einfluss der „Drei Abhandlungen” habe ich nicht gespürt, von subtilen Tarnungen abgesehen.

Gerade während ich hierüber nachdenke, lebt die Kontroverse über einen anderen Pionier der Sexualität, nämlich Alfred Kinsey, wieder auf. Obwohl sich seine Forschungsmethode von der Freuds grundsätzlich unterschied, waren seine Ergebnisse und seine Schlussfolgerungen genauso aufregend, Konventionen sprengend und für einige „unmoralisch”.

Freud betonte die „sexualisierte” Beziehung des Kindes zu den Eltern und stellte die „Unschuld” des Kindes infrage. Wir sollten uns wieder klar machen, dass Kinder sexuell sind, wenn auch nicht genau in dem Sinn, den Freud meinte. Das sexuelle Interesse der Kinder wird von Pädophilen oft überbetont, von den Gesetzeshütern und Sozialarbeitern wird es oft unterschätzt.

Kinsey verließ sich nicht auf detaillierte klinische Fallstudien, sondern auf die Erfahrungen tausender Befragter, die in Zeilen und Spalten tabelliert wurden. Seine Kritiker sind im letzten halben Jahrhundert nicht weniger geworden und die Flut der Biografien, Bücher, Filme, ja Musicals hat die antisexuelle, extremistische Randgruppe (oder die Mehrheit?) revitalisiert. Und die provokantesten und kontroversesten Passagen seiner beiden schwergewichtigen Wälzer beschäftigen sich mit der kindlichen Sexualität. Er teilt einzigartige Daten über die genital-sexuelle Reaktionsfähigkeit von Kindern mit, die er bei einem aktiven Pädophilen gesammelt hat; damit hat sich dieser bodenständige Buchhalter der Sexualität Vorwürfe der Unmoral, der kriminellen Aktivität und der Pädophilie eingehandelt.

Beide Forscher haben die öffentlichen Einstellungen zur Sexualität verändert. Beide waren im Grundsatz nicht wertend. Der eine war ein Wiener jüdischer Arzt, der andere ein protestantischer Biologe aus dem amerikanischen Mittelwesten. Freuds Jahrhundert, Kinseys Halbjahrhundert - ist das fair?

Ich frage den Leser und die Leserin dieses Aufsatzes: Finden Sie in Ihrer Publikationsliste eine Arbeit, von der Sie glauben, dass sie im Jahr 2105 Gegenstand eines Kommentars sein wird?

1 Aus dem Amerikanischen von Gunter Schmidt, Hamburg

  • 1 Benjamin H. Der transatlantische Pendler. Ein Interview mit Harry Benjamin [von E. J. Haeberle].  Sexualmed. 1985;  14 44-47
  • 2 Freud A. Introduction [zu: Three essays on the theory of sexuality]. In: Freud S. 1986; 271-276
  • 3 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe. Bd. 5: Sexualleben. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145
  • 4 Freud S. Brief an Mrs. N. N. (1935). In: Freud S. Briefe 1873-1939. Ausgewählt und hrsg. von Ernst und Lucie Freud. 2., erweit. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1968; 438 und 520-521 (dt. Übersetzung des Briefes)
  • 5 Freud S. Three essays on the theory of sexuality. In: Freud S. The essentials of psycho-analysis. Selected, with an introduction and commentaries by Anna Freud. London: Hogarth Press and The Institute of Psycho-Analysis, 1986
  • 6 Gay P. Freud: A life for our time. New York: Norton, 1987 (dt.: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/M.: Fischer, 1989)

1 Aus dem Amerikanischen von Gunter Schmidt, Hamburg

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