Z Sex Forsch 2005; 18(1): 88-90
DOI: 10.1055/s-2005-836428
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexuelles Begehren als Einschreibung

I. Quindeau
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Die Freudsche Sexualtheorie bildet eine unverzichtbare Grundlage für psychoanalytisches Denken und birgt ein nach wie vor unausgeschöpftes Theorie-Potenzial, das in hervorragender Weise anschlussfähig ist an gegenwärtige Diskurse in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie regt dazu an, das komplexe Verhältnis von Somatischem, Psychischem und Gesellschaftlichem zu überdenken und neu zu bestimmen. Mit dieser kleinen Schrift stellt Freud das herkömmliche Verständnis von menschlicher Sexualität als instinkthaftem Verhalten oder biologischem Programm infrage und beschreibt zugleich Grundzüge einer Anthropologie. Das Begehren, das Streben nach Lust und Befriedigung wird zu einer zentralen Antriebskraft menschlichen Handelns, die sich nicht nur auf sexuelle Aktivitäten im engeren Sinne bezieht, sondern jeder menschlichen Tätigkeit zugrunde liegt. Diese Antriebskraft - von Freud als Sexualtrieb oder Libido bezeichnet - stellt keine biologische, organisch bedingte Anlage dar; sie entwickelt sich vielmehr im Verlauf einer individuellen Lebensgeschichte in der Beziehung zwischen dem Kind und einem/r Erwachsenen. Mit dieser Konzeptualisierung lassen sich die Ebenen des Sozialen, des Psychischen und des Somatischen miteinander verbinden. Freud überwindet mit seiner Sexualtheorie den traditionellen und bis heute wirksamen Leib-Seele-Dualismus und bietet darüber hinaus - wenngleich dies auch sicherlich nicht in seiner Absicht lag - Ansatzpunkte für die Formulierung einer gesellschaftlichen Konstituierung der Sexualität. Dieses Gedankenspiel einer radikalen Dekonstruktion dessen, was uns so naturhaft und unmittelbar gegeben erscheint - die Ebene des Körpers, des Somatischen -, kann ich hier nicht differenziert entfalten, sondern ich kann nur andeuten, in welche Richtung sich eine konstruktive und weiterführende Auseinandersetzung mit Freuds Texten entwickeln könnte.

Nach wie vor ist es üblich, körperlichen Prozessen die zentrale, konstitutive Bedeutung für die Sexualität zuzuschreiben; sie bilden die Grundlage, zu der psychische Aktivitäten wie Fantasien hinzukommen und so der menschlichen Sexualität ein spezifisches Gepräge verleihen. Mit der Freudschen Sexualtheorie lässt sich dieser Primat des Körperlichen erset-μzen durch den Primat des Psychischen, das den Körper konstituiert.[*] Freud selbst folgt seinem eigenen Perspektivenwechsel nicht konsequent und fällt in seiner Argumentation immer wieder auf die traditionelle Sichtweise zurück, etwa indem er zeitlebens vergeblich den Ursprung der Sexualität in endogenen, somatischen Prozessen sucht, statt das Ursprungsdenken gänzlich zu verwerfen. Mit dem Konzept der erogenen Zonen bahnt Freud jedoch einen anderen Weg und beschreibt, wie der Körper eines Neugeborenen zu einem sexuellen, einem sexuell erregbaren Körper wird. Die Sexualität, das Streben nach Lust und Befriedigung wird dem Körper gleichsam eingeschrieben. Die Pointe der freudschen Sexualtheorie liegt dabei in der Konzeption der Nachträglichkeit, mit der diese Einschreibung erfolgt.

Als „erogene Zonen” bezeichnet Freud „eine Haut- oder Schleimhautstelle, an der Reizungen von gewisser Art eine Lustempfindung von bestimmter Qualität hervorrufen” [1: S. 83 f]. Entscheidend ist, dass diese Lustempfindung nicht primär an der Körperstelle haftet, d. h. nicht vom Körper ausgeht und in irgendeiner Weise ausgelöst wird, sondern durch das Einwirken einer anderen Person erst entsteht. Als Beispiel dient die Stillsituation: Durch das Saugen an der Brust der Mutter werden die Lippen und der Mund des Kindes zu einer erogenen Zone. Die Erfahrung von Befriedigung bildet den kindlichen sexuellen Körper, sie stattet ihn mit einer spezifischen Reizbarkeit oder Erregbarkeit aus. „Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet” [1: S. 82]. Diese „Anlehnung” stellt ein wesentliches Merkmal der infantilen Sexualität dar und prädestiniert bestimmte Körperstellen als erogene Zonen. Gleichwohl löst sich die sexuelle Aktivität von diesen Stellen und so kann „ganz wie beim Ludeln jede beliebige andere Körperstelle mit der Erregbarkeit der Genitalien ausgestattet und zur erogenen Zone erhoben werden” [1: S. 84 f]. Die erogenen Zonen bilden sich somit durch die sexuelle Aktivität, durch die Erfahrung von Lust und Befriedigung, die ihren Ausgang bei den Pflegehandlungen der Erwachsenen nimmt. Sie sind Spuren der Erinnerung an frühere Befriedigungen, die in den Körper eingeschrieben sind. Sexuelle Erregbarkeit gründet nach dieser Sichtweise nicht in besonderen physiologischen Bedingungen von einzelnen Körperzonen, sondern in unbewussten Erinnerungen, die bei der Stimulierung der erogenen Zonen aktiviert werden können, aber dieser perzeptiven Stimulierung nicht notwendig bedürfen. In der prinzipiellen Unabhängigkeit der sexuellen Erregung von sinnlicher Wahrnehmung, in dem Umstand, dass sie ebenso von Fantasien und Erinnerungen ausgelöst werden kann, liegt m. E. das zentrale Kriterium menschlicher Sexualität.

Weiterführend in dieser Hinsicht scheinen mir Freuds Ausführungen zum primären Befriedigungserlebnis des Säuglings in der „Traumdeutung” zu sein.[*] Aus diesem Erlebnis leitet Freud sein Konzept der halluzinatorischen Wunscherfüllung ab: Der Wunsch geht auf eine Erinnerung zurück; er besteht in der Besetzung eines Erinnerungsbildes von einer Befriedigungssituation und dem damit verbundenen Streben nach erneuter Befriedigung. Insofern gilt der Wunsch - das Begehren - als Motor jeglicher psychischer Aktivität. Mit dem Konzept der halluzinatorischen Wunscherfüllung fokussiert Freud in der „Traumdeutung” ausschließlich mentale Prozesse und lässt die körperliche Dimension außer Acht. Nachzutragen wäre daher eine Verbindung der beiden Schriften an diesem Punkt, indem aus dem primären Befriedigungserlebnis des Säuglings nicht nur das Konzept der Wunscherfüllung abgeleitet wird, sondern auch die Entstehung der sexuellen Erregbarkeit, der erogenen Zonen.

Betrachtet man die Sexualität nicht als etwas, das dem Körper „von Natur aus” anhaftet, sondern als leibliche Einschreibung lustvoller Erfahrungen, lassen sich auch die Umgestaltungen in der Pubertät und die „Zweizeitigkeit” der Sexualentwicklung anders beleuchten. Das Konzept der Nachträglichkeit kommt dabei noch einmal besonders zur Geltung.[*] Während die Partialtriebe als (nachträgliche) Nieder- und Umschriften der infantilen Befriedigungserfahrungen aufgefasst werden können, stellt die Pubertät einen zentralen Knotenpunkt dieser Umschriften dar, an dem diese Erfahrungen unter dem Primat des Genitalen neu strukturiert und zur Erwachsenen-Sexualität umgeschrieben werden. Die Partialtriebe erhalten so nachträglich neue Bedeutung. Zentral für den Begriff der Nachträglichkeit ist die Auflösung linearer Zeitvorstellungen; frühere Erfahrungen werden demnach ebenso bedeutsam für spätere wie spätere für frühere. Solch ein konstellativer Zeitbegriff scheint mir gerade zum Verständnis menschlicher Sexualität sinnvoll, da in jeder sexuellen Aktivität Erinnerungsspuren aus den unterschiedlichsten Lebensepochen zusammentreffen und in einer neuen Umschrift verarbeitet werden.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 2 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe, Bd. 5. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145
  • 3 Quindeau I. Spur und Umschrift. München: Fink, 2004

1 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, das Verhältnis von Psychischem und Gesellschaftlichem näher zu bestimmen. Anmerken möchte ich jedoch, dass sich m. E. die psychische Struktur des Einzelnen in sozialen Interaktionszusammenhängen entwickelt; dem Psychischen liegt somit konstitutiv die gesellschaftliche Dimension zugrunde [3].

2 Interessanterweise nahm Freud nur an einer Stelle der „Drei Abhandlungen” auf dieses Buch Bezug, obwohl er seine Sexualtheorie Wilhelm Fließ gegenüber als „Nachfolgerin des Traumbuches” bezeichnete (vgl. die editorische Vorbemerkung in der Studienausgabe [2: S. 41]). Diese Bezugnahme auf die „Traumdeutung” erfolgte im Übrigen auch zu einem anderen Thema, nämlich bei der Erörterung des Ödipuskomplexes [1: S. 128].

3 Auch dieses Konzept, dem in Freuds anderen frühen Schriften zentrale Bedeutung zukommt, findet in den „Drei Abhandlungen” erstaunlicherweise keinerlei Berücksichtigung.

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