Z Sex Forsch 2005; 18(1): 51-55
DOI: 10.1055/s-2005-836447
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bekehrung missglückt[*]

J. H. Gagnon
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Ich beziehe mich im Folgenden auf die englische Übersetzung der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” [2]. Ich habe die Abhandlungen in den letzten 50 Jahren vier- oder fünfmal gelesen. Meine Interpretationen des Werkes veränderten sich mit meinen Interessen.[*] Ich bin sicher, dass die meisten Freud-Leser sein Werk in den unterschiedlichen englischen Versionen gelesen haben und dass auf Englisch mehr über Freud geschrieben wurde als in jeder anderen Sprache. So viel zur Rechtfertigung, dass ich des Deutschen nicht kundig bin (schon gar nicht Freuds jiddisch gefärbtem Austro-Deutsch des 19. Jahrhunderts).

Die Bedeutung von Übersetzungen, auf die ich hier rekurriere, wird bald noch deutlicher hervortreten, denn die Ära, in der englische Übersetzungen von Freuds Arbeiten durch das Copyright der Freud-Erben kontrolliert wurden, neigt sich dem Ende zu. Gegenwärtig sind neue englische Übersetzungen von Freuds Werken in Arbeit und einige sind schon publiziert. Das ehrgeizigste Projekt sind die bei Penguin Press in England erscheinenden neuen Übersetzungen. Der Herausgeber dieser Ausgabe hat sie bei sehr unterschiedlichen Übersetzern in Auftrag gegeben, von denen sich nur wenige einer konsistenten, kohärenten und wissenschaftlichen Repräsentation von Freuds Arbeiten verpflichtet fühlen. Die wissenschaftliche Repräsentation wird man in den neuen Übersetzungen des Gesamtwerks, also in der neuen englischen Ausgabe der „Standard Edition” wiederfinden.

Die Flut der neuen Übersetzungen wird zweifellos den Perspektivenwechsel beschleunigen, Freud weniger als Wissenschaftler denn als literarischen Essayisten zu sehen. Eingeläutet wurde dieser Wechsel schon früh, und zwar durch das große Lob, das Nichtwissenschaftler Freud als deutschem Literaten zollten. Die neuen, nichtkanonischen Versionen von Freuds Arbeiten auf Englisch werden damit Schluss machen, die therapeutische Praxis und den wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse zu betonen und sie zu Werken machen, die zu einer modernen Welt gehören, welche sich der Polysemie verschrieben hat. Mit den neuen Übersetzungen verlagert sich das Gewicht der Bedeutungsgebung von Freud (oder den Freud-Erben) auf die neuen Übersetzer und von diesen auf ihre Leser. Es wird so sein wie mit den anderen kanonischen Werken, die jüngst in neuen Übersetzungen oder Ausgaben erschienen sind, wie zum Beispiel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”), Camus („Der Fremde”) oder Joyce („Ulysses”): Die neuen Texte führen zu neuen Interpretationen. Wenn man Freud eher als einen Literaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts denn als einen Mann der Wissenschaft sieht, dann wird auch eine neue Lesart seiner deutschen Originale üblich werden.

Während ich noch darüber nachdenke, wie Freuds „Drei Abhandlungen” (seine vielleicht „wissenschaftlichste” Arbeit) mein Denken beeinflussten, wird mir deutlich, dass die Rolle Freuds als Wissenschaftler sogar durch die Ersetzung der alten „Standard Edition” weiter unterminiert werden wird, zumindest im englischsprachigen Raum. Die neue „Standard Edition”, die den fortwährenden kanonischen wissenschaftlichen Status von Freuds Werk betonen wird, wird einen Interpretationsstreit hervorrufen, wenn sie von der älteren Ausgabe in Stil und Akzentsetzung abweicht. Eine neue Fülle von Freud-Interpretationen wird sich den vielen alternativen „Freuds” hinzugesellen, die von den energiegeladenen und leidenschaftlichen Schreibern unter seinen Anhängern und Kritikern geschaffen wurden. Aber noch sehr viel zahlreicher als die „Freuds”, die von seinen Lesern und seinen Kommentatoren kreiert wurden, sind die Nutznießer oder Opfer jener, die „Freud” in ihrer alltäglichen Arbeit angewendet haben (zum Beispiel die Myriaden von Gesundheitspraktikern, Sozialarbeitern, Literaturkritikern oder Hollywood-Drehbuchautoren, die von der einen oder anderen Version Freuds beeinflusst wurden). Freuds zerquälte Beziehung zu vielen seiner engsten Kollegen und Schüler ist ein Zeichen seines verzweifelten und vergeblichen Versuches, wenigstens zu seinen Lebzeiten die Interpretationen seines eigenen Werks zu kontrollieren.

Der veränderte Status von Freud als „Wissenschaftler”, den ich oben angesprochen habe (der Teil des generellen Wandels ist, wie Wissenschaft und wissenschaftlich begründetes Wissen betrachtet werden), macht mir klar, dass Freuds Perspektiven auf die menschliche Entwicklung und die Rolle der Sexualität in der Kindheit, die er in den „Drei Abhandlungen” vertritt, das Streiten nicht mehr lohnen.[*] Schon bei meiner ersten Lektüre der „Drei Abhandlungen” hatte ich Zweifel an dem Anspruch Freuds, einen universellen, Zeit und Raum transzendierenden Entwurf der Charakterentwicklung formuliert zu haben. Meine Zweifel wurden nur noch größer, als mir klar wurde, dass sein Anspruch jeder klinischen oder anderen Forschungserfahrung mit Kindern entbehrte, einmal abgesehen, vielleicht, von seinen eigenen Kindheitserinnerungen oder seinen Beobachtungen an seinen sechs Kindern (Anna, die Jüngste, war 1905 zehn Jahre alt). Zu der Zeit, als er die „Drei Abhandlungen” schrieb, war seine klinische Erfahrung auf Erwachsene beschränkt, und seine Ansicht, dass ihre Schwierigkeiten ihren Kindheiten zuzuschreiben waren, kann nur als außergewöhnlicher Schritt zum Bekenntnishaften (oder Ehrgeiz; auf diese Möglichkeit komme ich unten zurück) beschrieben werden. Freuds Anspruch auf Universalität ähnelt dem von Piaget, der mit einer kleinen Anzahl von Schweizer Schulkindern ein wichtiges psychologisches Modell der moralischen Entwicklung in der westlichen Welt begründete (obgleich zur Verteidigung Piagets gesagt werden muss, dass es wirkliche Kinder waren, die er untersuchte).

Schon bei dieser ersten Lektüre überzeugte mich Freuds Entscheidung nicht, die kritische Periode der menschlichen Entwicklung in die Kindheit zu verlagern und sie auf die Besetzungen einer mysteriösen Energie (die „Libido”) auf ihrem unberechenbaren Weg von einem Körperorgan des Kindes zum anderen (vom Mund zum Anus zu den Genitalien) zu gründen. Es schien mir unwahrscheinlich, dass durch diesen Prozess die Charakterstruktur des Individuums zu einer fest gefügten Blaupause wird, die die Erfahrung aller zukünftigen Ereignisse des Lebenslaufs bestimmt. Freuds Annahme, dass alle individuellen Reaktionen auf alle Kontingenzen der Zukunft letztlich auf die Erfahrungen der frühen Kindheit zurückgeführt werden könnten (E. H. Erikson hat 1950 in seinem Buch „Childhood and Society” [1] versucht, diese Annahme abzumildern), war nach meiner Ansicht schon zu dem Zeitpunkt falsch, als sie niedergeschrieben wurde. In unseren früheren Arbeiten haben William Simon und ich ausgeführt, dass eine der Hauptschwierigkeiten solcher Bedeutungszuschreibungen der „Sexualität” von Kindern darin bestand, dass die Motive und Skripte der Sexualität von Erwachsenen einfach auf Kinder übertragen werden [4]. Heute denke ich, dass wir damals die Komplexität der Freudschen Erklärungen zur kindlichen Sexualität unterschätzten, dennoch halte ich sie nach wie vor für falsch. Freud postulierte eine Serie bio-sozialer Erfahrungen in der Kindheit, die vom Fluss einer biologischen sexuellen Energie von einem Organ zum anderen abhängig waren und die zu einer psychologischen und biologischen „Anlage” der zukünftigen sozialen, sexuellen und körperlichen Erfahrungen und Handlungen wurden. Kindersexualität war nicht das Gleiche wie Erwachsenensexualität, aber die der Erwachsenen war vollkommen abhängig von der der Kindheit.

In den letzten Jahren habe ich Freuds Entscheidung, die Ursachen der Probleme und Schwierigkeiten von Erwachsenen auf den problematischen Verlauf der frühen kindlichen Sozialisation zurückzuführen, zunehmend rätselhaft gefunden. Schon zur Zeit der Niederschrift der „Drei Abhandlungen” gab es keine Evidenz für diese Interpretation. Auch mit seiner Entscheidung, die Beteuerungen seiner Patienten, in der Kindheit sexuelle Kontakte mit Erwachsenen gehabt zu haben, zugunsten seiner Theorie zurückzuweisen, dass diese Erinnerungen Ausdruck universeller Fantasien von Kindern seien, wies Freud die frühe kindliche Entwicklung als Ursprung der Psychopathologie Erwachsener aus. Das wirft zwei Fragen auf: zum einen, warum Freud diese Entscheidung traf, und zum anderen, warum sie so eifrig akzeptiert wurde, vor allem auch von jenen, die Freud nicht als Lehrer oder Therapeuten kennen gelernt hatten.

Freud hätte andere, weniger verwegene theoretische Optionen wählen können. Das Wien Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war ein sexuelles Treibhaus, die Werke der Wiener Schriftsteller, Maler, Psychoanalytiker, Musiker und Librettisten kann man als Ausdruck hierfür nehmen. Die „perverse” Sexualität dieser Erwachsenen hätte sehr leicht ihnen selbst und ihrer unmittelbaren sozialen und kulturellen Umgebung zugeschrieben werden können (solche Zuschreibungen wären aber natürlich im Ton „moralischer” und unwissenschaftlicher gewesen). Die alltägliche Psychopathologie hätte als das Ergebnis des Alltagslebens in der Gesellschaft, in der jene lebten, die die Pathologie zeigten, verstanden werden können. Ebenso hätte man der Gültigkeit der Behauptung von Patienten, als Kind sexuelle Kontakte mit Eltern, Verwandten oder Bediensteten gehabt zu haben, mit mehr Sorgfalt respektieren und untersuchen können. Freuds Formulierungen verschieben die Gründe sexueller Störungen von der sozialen Situation derjenigen, die solche Störungen zeigen, auf die Kümmernisse ihrer Kindheit und die universellen Probleme der individuellen Entwicklung. Eine solche Theorie lenkt unser Verständnis von einer sozialen und politischen Analyse der gegebenen soziosexuellen Situation ab (in diesem Falle die komplexe soziale und kulturelle Struktur des Fin de Siècle im multiethnischen österreichisch-ungarischen Kaiserreich) und rückt stattdessen das sexuell agierende Individuum und dessen Biografie in den Mittelpunkt.

Doch diese Verschiebungen verweisen auch auf eine besondere Art theoretischen Ehrgeizes. Die Aussage, dass sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen vorkommen, hätte nicht viele Wiener überrascht, und die Annahme, dass sexuelle Probleme der Erwachsenen lediglich das Ergebnis individueller Abwegigkeiten oder kollektiver Benachteiligungen seien, hätte Freud als Sexualtheoretiker nicht aus der Menge der anderen österreichischen und deutschen Sexualreformer vor dem Ersten Weltkrieg hervorgehoben. Universelle und dramatische theoretische Postulate waren gefordert, die alle Aspekte des kulturellen Lebens erklärten und die das Sexuelle im Zentrum der menschlichen Entwicklung lokalisierten.

Das heißt nicht, dass Freud ein Heuchler war, der seine Theorien bewusst und gezielt so lange manipulierte, bis sie seinem Ehrgeiz entsprachen. Es heißt nur, dass auch Freud den narzisstischen Wünschen nach Besitz und Ruhm unterworfen war, die für Männer seiner Art, seines Ortes und seiner Zeit typisch waren. In diesem Sinne gibt es für mich nur einen Platz für die Idee eines „Unbewussten”: Was uns unbewusst ist, sind nicht die verdrängten Inhalte eines löchrigen mentalen Magazins, sondern unser Mangel an Bewusstsein dafür, dass unser Selbst durch den Ort und die Zeit, an dem und in der wir leben, erworben und konstituiert wird. Es ist der Glaube daran, dass wir unabhängig davon sind, wer wir sozial sind, der uns „unbewusst” macht.

Ich habe in den letzten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA gelebt und gearbeitet. Freud ist eine Art intellektueller Großvater (Kinsey vielleicht eine Art intellektueller Vater) für meine Arbeit. Sich von ihnen abzusetzen war eine Aufgabe meines Lebens und meiner Zeit. Ich glaube nicht an universalistische Theorien über irgendeinen Aspekt des menschlichen Lebens (nicht nur des sexuellen). Ich glaube an den Wandel des historischen Charakters des Menschlichen. Zeit und Raum und endlose Interpretation sind die entscheidenden Aspekte des modernen Lebens. Dieser Einsicht hat sich Freud in seinen „Drei Abhandlungen” am meisten widersetzt.

1 Aus dem Amerikanischen von Gunter Schmidt, Hamburg

  • 1 Erikson E H. Childhood and society. New York: Norton, 1950
  • 2 Freud S. Three essays on the theory of sexuality. Standard edition of the complete works of Sigmund Freud, Vol. 7. Transl. by James Strachey. London: Hogarth Press, 1962
  • 3 Gagnon J H. “Who was that girl?”. In: Gagnon JH. An Interpretation of desire: Essays in the study of sexuality. Chicago: The University of Chicago Press, 2004
  • 4 Gagnon J H, Simon W. Sexual conduct: The social sources of human sexuality. Chicago: Aldine, 1973 (Neuaufl.: Piscataway, NJ: Transaction Books, 2005)

1 Aus dem Amerikanischen von Gunter Schmidt, Hamburg

2 Das erste Mal las ich Freud als College-Student an der University of Chicago. Mein Lehrer war Philip Reiff. Als ich sagte, dass ich anderer Meinung sei als Freud, wies er mich darauf hin, dass ich erst dann die Freiheit einer eigenen Meinung haben würde, wenn ich Freud verstanden hätte. Das war eine Lektion in Heiligsprechung.

3 Dies betrifft nicht meine Differenz zu Freud im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Sexualität, Masturbation, die Ursprünge des Erogenen und anderes. Diese Differenzen sind an anderer Stelle ausgeführt [3] [4].

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