Z Sex Forsch 2005; 18(1): 91-92
DOI: 10.1055/s-2005-836449
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vom Triebgeschehen bei Mensch und Tier

H. Richter-Appelt
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Zur Zeit meines Psychologiestudiums an der Universität Wien Ende der 1960er-Jahre wurde die Psychoanalyse nicht als Wissenschaft angesehen und daher auch nicht gelehrt. Sexualität, genau genommen menschliche Sexualität, war mit einem Tabu belegt und galt nicht als Bestandteil des psychischen Erlebens, sondern nur eines Triebgeschehens, allerdings nicht im psychoanalytischen Sinn. In der Hauptvorlesung der Allgemeinen Psychologie von Prof. Hubert Rohracher (1903-1972) kam zwar der Geschlechtstrieb vor. Das Triebgeschehen bei Menschen und Tieren wurde jedoch in einem Atemzug abgehandelt: „Bei Mensch und Tier ist die Reifung dieser Drüsen [Keimdrüsen] notwendig, damit der Trieb in seiner normalen Stärke zustande kommt. Die Reifung erfolgt allmählich […]. Von den psychischen Begleiterscheinungen der Reifezeit ist hier nicht zu sprechen” [1: S. 383]. Ausführlich wurden die Tierexperimente von Katz u. a. zum Triebgeschehen der Hühner dargestellt. Aus Deutschland eingewanderte Studenten, die bereits angefangen hatten, sich mit der Psychoanalyse und mit Wilhelm Reich auseinander zu setzen, gaben sich mit dieser Darstellung der Sexualität nicht zufrieden und fragten in der Vorlesung nach der Sexualität des Menschen. Daraufhin verließ Rohracher ohne weiteren Kommentar das Auditorium Maximum. Er setzte die Vorlesung in der nächsten Stunde fort, ohne den Vorfall zu erwähnen, und die Studenten insistierten auch nicht weiter.

An der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien gab es eine Veranstaltung, in der Sexualität vorkam, und zwar die „Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse” von Wilhelm Solms. In dieser wurde über Inversion, kindliche Sexualität und die Bedeutung der Triebe für die Psyche gesprochen. Mit großer Neugier verfolgte eine kleine Gruppe von Studentinnen und Studenten diese Vorlesung, die in alter Tradition Samstag früh um 8.00 Uhr stattfand (Freud hatte in demselben Gebäude um diese Uhrzeit seine Vorlesung gehalten).

In dieser Vorlesung habe ich zum ersten Mal von den „Drei Abhandlungen” gehört. In der Zwischenzeit habe ich dieses Werk immer wieder gelesen und von StudentInnen und angehenden TherapeutInnen lesen und referieren lassen. Je nachdem womit ich mich in der therapeutischen Arbeit oder in der Forschung gerade beschäftige, finde ich immer wieder neue wichtige Gedanken in diesem Werk. Viele der Ausführungen sind ganz aktuell, wie an der Anlage-Umwelt-Debatte, den Diskussionen über die Unterschiede der Geschlechter aus biologischer und psychologischer Sicht oder der Frage nach der kindlichen Sexualität abgelesen werden kann.

Auch in meiner aktuellen Forschung zum Thema Intersexualität geht es u. a. die Frage: Was ist angeboren, was erworben? Der Wunsch vieler Betroffener, nicht als krank angesehen zu werden, ist ganz eng mit der Frage verknüpft, inwiefern die Unterschiede im sexuellen Erleben und Verhalten quantitativer oder qualitativer Natur sind.

Akzeptiert man den Ansatz, dass frühe Lebenserfahrungen unser Erleben und Verhalten sehr weit reichend bestimmen, dann ist die Betonung der kindlichen Sexualität ein weiteres Thema von großer theoretischer Bedeutung. In jedem Kassenantrag für eine psychodynamische Therapie tauchen beim Beschreiben des zentralen Konflikts Gedanken aus den „Drei Abhandlungen” auf. Viele Psychotherapie-AusbildungskandidatInnen wissen aber gar nicht mehr, von wem die Phasenlehre und die Idee, der zufolge Fixierungen von frühen Eindrücken zu einer dauerhaften Störung führen, stammen.

Gedanken aus den „Drei Abhandlungen” sind, wenn auch mit jahrzehntelanger Verspätung und zum Ärgernis vieler in der Ausbildung Tätiger, aus dem Studium der klinischen Psychologie nicht mehr wegzudenken und wurden zu Grundbausteinen psychodynamisch denkender Psychotherapeuten.

  • 1 Rohracher H. Einführung in die Psychologie. 9. Aufl. Wien, Innsbruck: Urban & Schwarzenberg, 1965
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