PPH 2005; 11(4): 181-182
DOI: 10.1055/s-2005-858520
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gut, aber nicht ausreichend - der Gleichstellung seelisch Kranker einen Schritt näher?

H. Schädle-Deininger
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Publikationsdatum:
12. August 2005 (online)

Ambulante psychiatrische Pflege ist jetzt verordnungsfähig, die Richtlinien sind geändert worden. Psychisch kranke Menschen, die zu Hause leben, haben seit dem 1.7.2005 Anspruch auf spezielle Leistungen der häuslichen Pflege. Bisher wurde die ambulante psychiatrische Krankenpflege, wenn es entsprechende Verträge gab, nur ausnahmsweise in wenigen Bundesländern genehmigt. Damit ist den meisten psychisch kranken Menschen eine spezielle häusliche Pflege versagt geblieben, die Krankenhausaufenthalte hätte vermeiden können. In der Neufassung der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von „häuslicher Pflege” wird die Dauer und die Genehmigung durch die Krankenkassen sowie die Zusammenarbeit der Vertragsärzte mit den die häusliche Krankenpflege durchführenden ambulanten Pflegediensten in Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern geregelt.

Als wesentliche Aussage kann in der zugrunde liegenden Argumentation festgehalten werden, dass übereinstimmenden Informationen aus internationalen und deutschen Studien ein höherer Zeitaufwand für die Pflege psychisch Kranker als für die Pflege rein somatisch Kranker zu entnehmen ist. Dies ist jedoch nach übereinstimmender Auffassung des Unterausschusses „Häuslicher Krankenpflege” eine vergütungsrechtliche und keine ordnungsrechtliche Feststellung.

Die Voraussetzung für die Verordnung ist, dass der Versicherte über eine ausreichende Behandlungsfähigkeit verfügt, um im Pflegeprozess die aufgelisteten verordnungsfähigen Maßnahmen der genannten Fähigkeitsstörungen positiv beeinflussen zu können, und zu erwarten ist, dass das mit der Behandlung verfolgte Therapieziel von dem Versicherten manifest umgesetzt werden kann. Die verordnete ambulante psychiatrische Krankenpflege beinhaltet die Erarbeitung der Pflegeakzeptanz und den Beziehungsaufbau, Durchführung von Maßnahmen zur Bewältigung von Krisensituationen und das Entwickeln kompensatorischer Hilfen bei krankheitsbedingten Störungen. Zur Erarbeitung der Pflegeakzeptanz und zum Beziehungsaufbau ist zunächst eine Erstverordnung über einen Zeitraum bis zu 14 Tagen möglich. Gegenstand der Leistung kann dabei auch die Anleitung der Angehörigen des Patienten im Umgang mit dessen Erkrankung sein. Eine Folgeverordnung ist nicht möglich, wenn sich nicht in diesem Zeitraum abzeichnet, dass Pflegeakzeptanz und Beziehungsaufbau erreicht werden können. Die Medikamentengabe ist nur verordnungsfähig bei Patienten mit einer starken Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit, bei Realitätsverlust und wenn die medikamentöse Therapie nicht sicher gestellt ist. Dies muss aus der Verordnung hervorgehen.

Die Verordnung erfolgt durch einen Vertragsarzt des Fachgebietes, deren Bestandteil ein vom Arzt erstellter Behandlungsplan ist, welcher die Indikation, die Fähigkeitsstörungen, die Zielsetzung der Behandlung und die Behandlungsschritte, d. h. die Behandlungsdauer und Behandlungsfrequenzen umfasst. [1]

Verordnungsfähig ist psychiatrische Pflege bei nach dem ICD 10 diagnostizierten Erkrankungen wie Demenzformen, organisch bedingten psychischen Störungen, allen Formen der Schizophrenie und schizophrenen Störungen, manischen Episoden und bipolaren affektiven Störungen sowie depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen, Panikstörungen und generalisierten Angststörungen. Wenn aus der Krankheit resultierend eine oder mehrere der folgenden Fähigkeitsstörungen in einem Maß vorliegen, dass das Leben im Alltag nicht mehr selbstständig bewältigt oder koordiniert werden und das Krankheitsbild durch Medikamentengaben allein nicht ausreichend therapiert werden kann, ist häusliche psychiatrische Pflege indiziert. Die folgenden Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt:

Störungen des Antriebs oder der Ausdauer und der Belastbarkeit in Verbindung mit der Unfähigkeit der Tagesstrukturierung oder der Einschränkung des planenden Denkens oder des Realitätsbezugs, Einbußen in der Kontaktfähigkeit, den kognitiven Fähigkeiten wie Konzentration, Merkfähigkeit, Lernleistung und problemlösendes Denken und Einbußen beim Zugang zur eigene Krankheitssymptomatik, dem Erkennen und Überwinden von Konfliktsituationen und Krisen.2

Ambulante psychiatrische Pflege kann in der Regel nicht gleichzeitig mit Soziotherapie in Anspruch genommen werden, da die Leistungen in einigen Aspekten inhaltlich gleichzusetzen sind. Falls sich beide Leistungen aufgrund einer spezifischen Zielsetzung ergänzen, besteht sowohl im Behandlungsplan der psychiatrischen Krankenpflege als auch im soziotherapeutischen Betreuungsplan die Notwendigkeit, die Dauer sowie die Abgrenzung der Leistung zueinander darzulegen. Unzulässig ist die Verordnung inhaltsgleicher Leistungen.

Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass bei der Soziotherapie eher Methoden des Casemanagements, der Koordination und des Motivationstrainings im Vordergrund stehen, sie soll schwerpunktmäßig dem psychisch kranken Menschen neue Wege eröffnen, so dass der Klient als Ziel diese selbstständig nutzen kann, wie beispielsweise im Bereich der Beschäftigung, der Rehabilitation und der regelmäßigen Behandlung. Beispielsweise können Allgemeinärzte drei Probestunden Soziotherapie verordnen.

Die ambulante psychiatrische Pflege hingegen übernimmt die basale Unterstützung, das Wahrnehmen, Beobachten und Unterstützen im Hinblick auf die Erkrankung und deren Entwicklung sowie den Umgang damit im Alltag. „In der psychiatrischen Pflege steht der Mensch im Mittelpunkt. Eine der Hauptaufgaben der Pflege ist es, den ihr anvertrauten Menschen in seinem Anpassungsprozess zu begleiten und zu unterstützen, in einem psychisch, physisch und sozialen Gleichgewicht zu bleiben und/oder ein neues zu finden (wenn er mit der Behinderung leben muss).”[3] In der Ausübung ambulanter psychiatrischer Pflege sind weitere Hilfsangebote einbezogen, wie beispielsweise Haushaltshilfen, Zivildienstleistende, die wiederum bestimmte unterstützende Aufgaben übernehmen. Die Verknüpfungen und vielfältigen haltenden und unterstützenden Hilfen, die beispielsweise ein chronisch psychisch kranker Mensch braucht, erfordern unterschiedliche (fachliche) Kompetenzen. Nicht umsonst ist im Zuge der Psychiatriereform ein vernetztes Denken gefordert, das sich am individuellen Hilfebedarf des einzelnen psychisch kranken Menschen und an den Versorgungssträngen (Wohnen, Beschäftigung/Arbeit, Freizeit, Hilfen/Behandlung/Pflege) orientiert und nicht so sehr an Einzelleistungen.

Bleiben am Ende doch Fragen wie:

Ist die Ausgestaltung der Richtlinien ausreichend? Sind alle psychischen Erkrankungen genügend berücksichtigt worden? Ist die Gleichstellung von somatisch Kranken mit psychisch erkrankten Menschen hinreichend erreicht? Wie sieht eine Vernetzung in einem gemeindepsychiatrischen Verbund aus? Sind die Erkenntnisse aus der Expertenkommission4 der Notwendigkeit eines multiprofessionellen Ansatzes in der psychiatrischen Versorgung erfüllt, ebenso wie die Vernetzung, Kooperation, Koordination und Zusammenarbeit sowie die Durchlässigkeit der Einrichtungen und Strukturen, um eine gute Gesamtversorgung zu gewährleisten?

Und es bleibt noch eine weitere Frage vornehmlich berufspolitischer Natur: Sind niedergelassene Ärzte dazu geeignet, Art und Umfang ambulanter psychiatrischer Pflege festzulegen, zu beschreiben und damit zu verordnen?

Schon in den 38 europäischen Regionalzielen der Weltgesundheitsorganisation in den 1980er-Jahren „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000” wurde als ein Ziel formuliert, dass die Pflegeberufe formal und real in ihrer beruflichen Autonomie mit allen Konsequenzen anerkannt werden. Dies bedeutet u. a., dass Pflegende selbst den Pflegebedarf erheben und Art und Umfang pflegerischer Interventionen festlegen. Davon sind wir weit entfernt.

Die damalige Stellungnahme der drei größten Pflegeverbände (DBfK, ADS und ÖTV) zur Europäischen Pflegekonferenz in Wien im Juni 1988 wurde vom zuständigen Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit mit unterstützt und unterschrieben (die erste Stellungnahme, die die drei Verbände gemeinsam herausgegeben haben). Dabei wurde festgestellt, dass vor allem eine Umsetzung des WHO-Programms für die Pflegenden eine direkte Aufforderung zum politischen Handeln und zur Kooperation sowohl mit den Betroffenen als auch mit den anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen beinhaltet und dass dies natürlich eine formale und reale Gleichberechtigung mit anderen Gesundheitsberufen voraussetzt. Deutlich angesprochen wurde, dass die traditionelle Omnipotenz der Mediziner, die anweisungsgebundene Hilfstätigkeit der Pflege zugunsten einer wirklich zeitgemäßen Teamstruktur und Praxis endlich fallen müsse.

Wie weit sind wir davon heute entfernt? Auch bei den gerade verabschiedeten Richtlinien kann man sich als in der psychiatrischen Versorgung Tätiger des Gedankens nicht erwehren, dass die Verfasser die Wirklichkeit eines psychisch kranken Menschen, der pflegerische Unterstützung braucht, nicht kennen. Ist die zeitliche Einschränkung und Verordnung von Beziehungsaufnahme nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, geht sie nicht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei und berücksichtigt nicht den langen Atem, den psychiatrisch Pflegende oft brauchen.

Eine differenzierte, umfassende, an der Versorgung psychisch kranker Menschen orientierte breite Diskussion ist längst überfällig. Vor allem eine, die sich nicht ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen ausrichtet, sondern Not, Leiden und Anderssein in notwendige fachliche Hilfen integriert. Vor allem aber die Situation von psychisch kranken Menschen mit allen Auswirkungen im Blick hat. Die zudem die Frage nach einem menschenwürdigen Leben stellt, fachlich erörtert und mit den Betroffenen ihre Lebensqualität und ihren Lebensraum gestaltet.

1 http://www.psynfo.de (Zugriff 07.07.2005)

2 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von „häuslicher Krankenpflege” nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Abs. 7 SGB V

3 BAPP-Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege e. V., www.bapp.info (Zugriff 7.7.2005)

4 Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich - auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung, 1988

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