Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(11): 523
DOI: 10.1055/s-2006-959098
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Onkologische Behandlung im Kindesalter - eine zweiseitige Medaille?

Hagen Sandholzer
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Publication Date:
12 December 2006 (online)

Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Diagnose einer Leukämie einem Todesurteil gleichkam. Vor ungefähr 30 Jahren wurden aggressive Therapiemethoden entwickelt, um die infauste Prognose von malignen Erkrankungen bei Kindern zu verbessern. Erfreulicherweise überleben inzwischen mehr als 80 % der Kinder eine bösartige Erkrankung dank dieser modernen Therapiemethoden. Gleichwohl fehlt es wegen der zum Teil drastischen Nebenwirkungen nicht an Kritik, vor allem von Seiten der Alternativmedizin. Nun erschien im Oktoberheft des New England Journal of Medicine eine Studie, die bei oberflächlicher Betrachtung Wasser auf die Mühlen der Kritiker schulmedizinischer, onkologischer Behandlungsmethoden sein könnte, weswegen sie Haus- und Kinderärzten bekannt sein sollte.

Mit einem Editorial von Rosoff [1] und einer großen Follow-up- Studie von überlebenden Erwachsenen, die als Kind eine Krebstherapie bekamen [2], weist das Journal auf den Preis hin, der für die Heilung der Krebserkrankung zu bezahlen ist. Oeffinger et al. [2] untersuchten in einer retrospektiven Kohortenstudie 10397 Überlebende, bei denen zwischen 1970 und 1986 als Kind Krebs festgestellt wurde und verglichen ihren Gesundheitszustand mit 3034 Verwandten ohne Krebs. Chronische Erkrankungen wurden mit einem Score von 1-4 im Schweregrad bemessen, der von leicht bis lebensbedrohlich/behindernd reichte. Von den überlebenden Krebspatienten hatten zum Zeitpunkt der Untersuchung 62 % wenigstens eine chronische Erkrankung, bei insgesamt 27,5 % war sie schwer oder lebensbedrohlich (Score 3 oder 4). Im Vergleich zur Kontrollgruppe ergab sich eine dreifache Risikoerhöhung für eine chronische Krankheit und eine achtfache für eine lebensbedrohliche Krankheit. Die Forscher berechneten auch das Risiko für den Zeitraum 30 Jahre nach Therapieende: die kumulative Inzidenz für chronische Krankheit betrug 73,4 %, während insgesamt 42,4 % lebensbedrohlich krank oder behindert waren. Damit muss fast jeder Zweite mit gravierenden Folgeschäden innerhalb von 30 Jahren rechnen. Das höchste Risiko für Dauerschäden war bei Überlebenden von Knochenkrebs, Malignomen des Nervensystems und M. Hodgkin festzustellen. Dabei waren Frauen 1,5-mal häufiger betroffen als Männer. Nach einer weiteren Studie kommen Frauen auch früher in die Menopause [3].

Natürlich muss man diese Gesundheitsstörungen vor dem Hintergrund der Tatsache sehen, dass ohne Therapie wahrscheinlich alle Patienten nie das Erwachsenenalter erreicht hätten. Der Wert der Studie liegt möglicherweise auch darin, dass weitere Forschungen zur Prävention von Folgeschäden unternommen werden müssen und Ärzte ihre Patienten besser darüber unterrichten sollten, wie chronische Krankheiten vermieden werden können.

In den USA sind bereits 270000 Erwachsene zwischen 20 und 39 Jahren Überlebende einer malignen Erkrankung im Kindesalter, die Zahl steigt jährlich um 20000 Personen an [1]. In Deutschland beträgt die Zahl der von ihrer Krebskrankheit geheilten Kinder und Jugendlichen inzwischen zirka 27000. Jährlich kommen etwa 1800 Neuerkrankungen hinzu [6].

Welche Konsequenzen bleiben für Haus- und Notärzte? Nun, bei einer 30 Jahre alten Frau mit Thoraxschmerz denkt man im Allgemeinen nicht an eine Koronare Herzerkrankung - nach einer Krebstherapie im Kindesalter sollte man das sehr wohl tun. Außerdem sollten die Überlebenden eine langfristige Nachbetreuung erhalten, auch wenn das Krebsleiden geheilt ist - eine wichtige Konsequenz. Vermutlich wird die Studie bald in Medienkreisen Furore machen. Daher müssen sich auch Ärzte auf die Angst von Eltern und ihren kleinen Patienten einrichten und sie vor falschen Argumenten von Alternativheilern schützen. In der Beratung müsste klar gemacht werden, dass das erste Ziel der Sieg über den Krebs ist. Wenn man an die Spätfolgen denkt, sollte man darauf hinweisen, dass die Studie aus einer Zeit stammt, in der die Therapiemethoden noch nicht so ausgefeilt wie heute und zum Teil sehr toxisch waren. Zuletzt lassen sich Spätfolgen durch eine frühzeitigere Entdeckung besser behandeln. Schließlich rückt die Studie eine hausärztliche Basiskompetenz in den Blickpunkt, an die mancher nicht mehr im Kontext von „Krebs” denkt: die gesundheitsfördernde Funktion. Nach Meinung der Autoren und des Editorials ist es extrem wichtig, dass eine gesunde Lebensweise gepflegt wird. Der Hausarzt hat vielfältige Möglichkeiten, das „Ja zum Leben” zu fördern, schädliche Verhaltensweisen zu korrigieren, präventiv zu beraten, die psychosoziale Basisbetreuung sicherzustellen, sorgfältige Aufzeichnungen über den Gesundheitszustand zu führen und den wichtigsten Spätfolgen entgegenzuwirken. So gesehen sollte man den Autoren der Studie trotz „Überbringung schlechter Nachrichten” danken, dass sie diese wichtige Aufgabe wieder in das Bewusstsein der medizinischen Öffentlichkeit gerückt haben.

Dem Interessierten sei eine lesenswerte Synopsis [4] oder eine Leitlinie der AWMF [5] zum Weiterstudium empfohlen. Leider sind die Informationen der Onkologiegegner im Internet nutzerfreundlicher als die der Protagonisten.

Literatur

  • 1 Rosoff PM. The two-edged sword of curing childhood cancer.  N Engl J Med. 2006;  355 1522-1523
  • 2 Oeffinger KC. et al. . Chronic health conditions in adult survivors of childhood cancer.  N Engl J Med. 2006;  355 1572-1582
  • 3 Sklar CA. et al. . Premature menopause is a long-term consequence of treatment of childhood cancer.  J Natl Cancer Inst. 2006;  98 890-896
  • 4 A Summary Report Cancer Survivorship Throughout the Lifespan.  www.state.nj.us/health/ccr/survivorshiprpt.pdf
  • 5 AWMF, Leitlinien für die Diagnostik und Therapie in der Pädiatrischen Onkologie und Hämatologie: Nachsorge von krebskranken Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen - Erkennen, Vermeiden und Behandeln von Spätfolgen.  www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/025-003.htm
  • 6 www.krebsgesellschaft.de/arbeitsgemeinschaft_paediatrische_onkologie,18722.html

Prof. Dr. med. Hagen Sandholzer

Leipzig

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