Der Klinikarzt 2006; 35(12): 485
DOI: 10.1055/s-2007-968034
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Alterungsprozess oder krankhafte Veränderung?

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Januar 2007 (online)

Es klingt banal, wenn man feststellt, dass der Lebensablauf zwischen Geburt und Tod ein hoch dynamischer Prozess ist, der möglichst ohne Störungen ablaufen soll. Auf die Medizin übertragen bedeutet es, dass der Arzt Abweichungen des physiologischen Lebensablaufs als Störungen und Krankheiten diagnostizieren muss, um in wirksamen Verfahren mit adäquaten und effizienten Therapien den ungestörten Ablauf sicherzustellen. Beim Bewerten solcher „Krankheiten” richtet sich seine Ausbildung in der Regel auf eine statische Beschreibung, ohne das jeweilige Lebensalter mit in die Bewertung einzubeziehen. Die Krankheiten werden in statischer Betrachtungsweise durch einen Symptomenkatalog beschrieben, der sich heute in der bestehenden Zeitnot zunehmend auf technische Messverfahren mit überwiegend bildgebenden Verfahren konzentriert. So effizient diese auch sind, bergen sie doch ein erhebliches Gefahrenpotenzial, da bei der Interpretation der gewonnenen Daten häufig keine genauen Festlegungen über ungestörte, altersentsprechende Prozesse vorliegen.

Selbst wenn Bezugsdaten in Form sogenannter Referenzwerte vorliegen, besteht das Problem, dass diese in der Regel aus Publikationen stammen und sich in den meisten Fällen als unzutreffend erweisen. Manche sind beispielsweise mit inzwischen veralteten Methoden erstellt bzw. gemessen oder sie stammen aus Probandengruppen, die selten oder fast nie in den Dokumentationen zu den Referenzwerten präzisiert werden. Unwahrscheinlich ist zudem, dass die Kenngrößen zur Definition von Krankheiten altersunabhängig auf jede Population und jeden Lebensabschnitt übertragen werden können. Insbesondere gibt es keine Methoden und Verfahren, mit zunehmendem Alter zwischen speziellen Krankheiten und allgemeinen Erscheinungen der Alterungsprozesse selbst zu differenzieren. Wenn es sich dabei aber zunehmend darum handelt, chronische Erkrankungen zu diagnostizieren und deren Verlauf und therapeutische Veränderung zu bewerten, sieht man sich sehr schnell mit der ungelösten Problematik der sich überschneidenden Symptomenvielfalt von Alterungsprozessen und den sich in diesem Lebensabschnitt entwickelnden Krankheiten konfrontiert.

Wie gefährlich die Fehlinterpretation pathologischer Veränderungen im höheren Alter sein kann und wie komplex und eng verwoben mit den Alterungsvorgängen krankhafte Veränderungen ablaufen, zeigt ein Beispiel aus dem klinischen Alltag: Ein Diabetes mellitus wird in klassischer Weise in einer wiederholten Untersuchung des nüchternen Patienten am Morgen mit einer Glukosekonzentration über 110 mg/dl im Blut als hoch verdächtig diagnostiziert. Im höheren Alter reicht diese Entscheidungsgrundlage sicher nicht aus, da zusätzliche Einflussgrößen die Homöostase der Glukose entscheidend beeinflussen. So ist durch den eingeschränkten Durstreiz älterer Menschen die Flüssigkeitszufuhr häufig inadäquat, sodass vor allem sozial isoliert lebende Menschen Exsikkosezustände entwickeln, die für die meisten gemessenen klinisch-chemischen Kenngrößen physiologische Werte anzeigen. Nur als Ausdruck des eingetretenen metabolischen Stresses werden die gemessenen Werte von einer Hyperglykämie dominiert. Nach kontrollierter Reduktion mit Elektrolytlösungen normalisiert sie sich jedoch in der Regel ohne spezielle Therapie. Dann lassen sich nicht selten schwerwiegendere Krankheitszustände erkennen, wie zum Beispiel zuvor nicht bekannte chronische Anämien, die zusätzliches Potenzial für die Verwirrtheitszustände und eingeschränkte Lebensqualität der Patienten hergeben.

Die Konsequenz aus dieser Problematik für uns Ärzte ist sicher schwerwiegend, da sich nicht einfach Referenzbereiche für physiologische Lebensabläufe für das Alter erarbeiten lassen, um gemessene Daten in ihrer Relevanz und Bedeutung für die Festlegung von Krankheiten interpretieren zu können. Es ist eine Verpflichtung des Arztes, über funktionelle diagnostische Untersuchungen sicherzustellen, dass präzise gemessene physikalisch-chemische Messgrößen nicht im Bezug auf unzutreffende Referenzbereiche zu falschen diagnostischen und auch therapierelevanten Entscheidungen führen.

Prof. Dr. Dr. Dr. A. Grünert

Ulm

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