Gesundheitswesen
DOI: 10.1055/a-2369-1175
Originalarbeit

Reha-Empfehlungen nach § 31 SGB XI: Empirie, Diskussion und gesundheitspolitische Implikationen

Rehabilitation Recommendations According to § 31 SGB XI: Empiricism, Discussion and Health Policy Implications
1   Universität Osnabrück, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik, Osnabrück, Germany
2   DAK-Gesundheit, Innovations- und Versorgungsforschung, Hamburg, Germany
,
3   Katholische Universität Eichstätt Ingolstadt, Fakultät für Soziales und Arbeit, Management in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens, Eichstätt, Germany
,
Jonas Hammer
1   Universität Osnabrück, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik, Osnabrück, Germany
,
1   Universität Osnabrück, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Fachgebiet für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik, Osnabrück, Germany
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Zusammenfassung

Hintergrund Das Prinzip „Rehabilitation vor Pflege“ ist ein sozialrechtlicher Grundsatz. Einen wichtigen Stellenwert bei den Rehabilitationsempfehlungen nimmt die Empfehlung des Medizinischen Dienstes (MD) im Rahmen der Begutachtung (§ 31 SGB XI) ein. Bei rund drei Prozent seiner Begutachtungen empfiehlt der MD die Durchführung einer Rehabilitation. Nur bei jeder vierten bis fünften Empfehlung folgt der Empfehlung eine tatsächliche Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme.

Ziel der Arbeit Diskutiert werden soll anhand einer Versichertenbefragung der Aspekt, ob die rehabilitativen Potentiale genutzt und ausgeschöpft werden, die aus der Rehabilitationsempfehlung entstehen.

Material und Methoden Diese Arbeit untersucht insbesondere die Perspektive der Versicherten, die einer Rehabilitationsmaßnahme zugestimmt haben und deren Rehabilitation auch durchgeführt wurde. Nach Auswertung von 586 228 Routindatensätzen mit Pflegebegutachtungen des MD wurden im März 2023 1972 Befragungsbögen versandt, 1116 auswertbare Fragebögen konnten in die Datenauswertung einbezogen werden. In sieben Fragen wurden die Befragten gebeten, retrospektiv den Erfolg und die Zufriedenheit mit der Rehabilitation insgesamt und der Wirksamkeit der durchgeführten Therapien einzuschätzen.

Ergebnisse Die Auswertung der Ergebnisse zeigt dabei, dass 87 Prozent der Studienteilnehmer eine Rehabilitation wiederholen würden. Auch die Einschätzung zum Reha-Erfolg in Bezug auf den längeren Verbleib in der eigenen Häuslichkeit hat Gewicht. Auf der anderen Seite werden nach wie vor nur rund 10 Prozent der durchgeführten Rehabilitationen ambulant durchgeführt.

Schlussfolgerungen Als eine Begründung für die geringe Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen wurde bisher angenommen, dass Pflegebedürftige im Jahr vor der Reha-Empfehlung schon Maßnahmen der Rehabilitation erhalten hätten. Die Ergebnisse der Auswertung der Routinedaten einer Krankenkasse können diese Annahme jedoch widerlegen. So richtet sich der Blick auf die angebotenen und dann wahrgenommen Möglichkeiten, Reha-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Es gilt zu diskutieren, ob die in Deutschland noch starke Ausrichtung auf stationäre Rehabilitation sowohl medizinisch als auch mit Blick auf die Präferenzen der Rehaberechtigten zeitgemäß sind. Aspekte für individuelle, ambulante und ggf. mobile Rehabilitationsangebote können daher geeignetere Mittel der Wahl sein, die auch den Ansprüchen an individuelle Mobilität und Autonomie und dem Wunsch, Reha in ein häusliches Umfeld einzupassen, gerecht werden.

Abstract

Background The principle of “rehabilitation before care” is a principle of social law. The recommendation of the Medical Service (MD) as part of the assessment (§ 31 SGB XI) plays an important role in rehabilitation recommendations. In around 3% of its assessments, the MD recommends implementation of rehabilitation. Only every fourth to fifth recommendation is actually carried out. The aim of the study was to find out if rehabilitation recommendations are utilized and exploited.

Materials and methods This study aimed to examine the perspective of insured persons whose recommended rehabilitation was actually carried out. After evaluating 586,228 routine data records with care assessments by the MD, 1,972 survey questionnaires were sent out in March 2023, and 1,116 analyzable questionnaires were included in the data analysis. In seven questions, the respondents were asked to retrospectively assess the overall success and satisfaction with rehabilitation procedures carried out.

Results The evaluation of the results showed that 87% of the study participants would be ready to undergo repeat rehabilitation. The assessment of the success of rehabilitation in terms of remaining at home for a longer period of time also carried weight. On the other hand, only around 10% of rehabilitation was carried out on an outpatient basis.

Conclusions One previously assumed reason for the low rate of patients taking advantage of recommended rehabilitation was that those in need of care had already received rehabilitation in the previous year. In this study focussing on whether recommended rehabilitation is taken advantage of, this assumption was found not to be correct. The question needs to be raised whether the strong focus in Germany on inpatient rehabilitation is up-to-date, both medically and with regard to the preferences of those entitled to rehabilitation. In contrast to inpatient rehabilitation, individual, outpatient and, if necessary, mobile rehabilitation offers might be more suitable, and these would also take into consideration issues of individual mobility and patient autonomy. The offer of different modes of rehabilitation also enables meeting the wish of those patients who prefer to have rehabilitation carried out in a home environment.



Publication History

Received: 01 June 2024
Received: 18 July 2024

Accepted: 18 July 2024

Accepted Manuscript online:
18 July 2024

Article published online:
26 August 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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