ergoscience 2009; 4(3): 127-128
DOI: 10.1055/s-0028-1109582
Veranstaltungsberichte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Blick durch die kulturelle Brille – Michael Iwama stellt das KAWA-Modell vor

H. Becker1
  • 1Alice Salomon Hochschule Berlin
Further Information

Publication History

Publication Date:
15 July 2009 (online)

Am 12. und 13. Mai 2009 war der kanadische Ergotherapieprofessor, Michael Iwama, der Universität Toronto zu Gast in Berlin. Eingeladen zu Vorträgen und Workshops in Deutschland hatten ihn die Fachhochschulen ASH Berlin und HAWK Hildesheim sowie die Ergotherapieschulen in Berlin (Wannseeschule) und Osnabrück (ETOS).

Bisher haben sich weltweit vor allem nordamerikanische Ergotherapiemodelle verbreitet, so das MOHO und das CMOP. Sie werden auch in Japan für Praxis, Ausbildung und Forschung verwendet. Iwama, der selbst japanische Wurzeln hat, stellte im Austausch mit japanischen Kollegen und Studierenden jedoch fest, dass eine Übertragung der westlichen konzeptionellen Modelle in die japanische Berufspraxis mit erheblichen Problemen verbunden ist, da Grundkonzepte wie z. B. Occupation und die Zielsetzungen der Therapie voneinander abweichen. Auch die Entwicklung und Verbreitung von wissenschaftlichen Theorien unterliegt kulturellen Einflüssen. Unter Kultur versteht Iwama „Bereiche geteilter Erfahrungen und die Zuschreibung von Bedeutung und Sinn zu Objekten und Phänomenen in der Welt”. Nach dieser sozialkonstruktivistischen Sicht konstruieren wir unsere Vorstellung von der Welt, von dem, was wir für normal, richtig und gut halten, in der Gemeinschaft und in Interaktion mit unserem sozialen Umfeld. Diese Normen, Werte und Bedeutungen formen unseren Blick auf die Welt. In den westlichen Kulturen sieht man den einzelnen Menschen als im Mittelpunkt stehend und als ein eigenständiges System. Es bestehen vielfältige Verbindungen zwischen Individuum, anderen Menschen und der Umwelt, aber jedes dieser Konstrukte gilt als separates System. Der Mensch muss sich mit der Umwelt erst verbinden, z. B. über Kommunikation. Östliche Kulturen und indigene Gemeinschaften nehmen hingegen die Welt als eine untrennbare Einheit war, in der alles miteinander verbunden und Teil der Natur ist. Aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen entstehen auch unterschiedliche Werte und Ziele, die in der Ergotherapie verfolgt werden, wie z. B. Unabhängigkeit, Mobilität und Produktivität in den westlichen Kulturen oder Gemeinschaft, Pflichterfüllung und Respekt in nicht-exzentrischen Kulturen.

Auch die Annahmen, wie Veränderungen zustande kommen, weichen stark voneinander ab. Während wir geprägt sind von der Überzeugung, selbst zu kontrollieren, welche Ziele wir auf welche Weise erreichen werden, geht man in nicht-exzentrischen Kulturen davon aus, dass viele Faktoren und Menschen dazu beitragen, dass ein Ereignis zustande kommt, dass wir eine Fertigkeit erlernen, dass sich ein Traum oder Wunsch erfüllt.

Als eine ihrer Kultur angemessene Alternative zu den westlichen konzeptionellen Modellen entwickelten japanische Ergotherapiepraktiker mit Iwama das Kawa( = Fluss)-Modell, um die beeinflussenden Faktoren, Probleme und Möglichkeiten des Klienten zu erfassen. Der Fluss dient dabei als eine Metapher für das Leben des Klienten. Mithilfe der Therapeutin entsteht eine Zeichnung, die zeigt, als wie stark der Klient seinen Lebensfluss empfindet, welche Blockaden und Beschleuniger er sieht, wie sein Umfeld beschaffen ist. Die Zeichnung dient als Medium für das Gespräch zwischen Therapeutin und Klient. Das gemeinsame Ziel in der Therapie ist es, den Lebensfluss des Klienten stärker werden zu lassen – ausgehend von den Werten, die ihm wichtig sind. Das Modell kann verwendet werden als

gedankliches Rahmenwerk der Therapeutin Assessment zur Therapievereinbarung, -planung und -evaluation gestalterisches Medium, das tiefe Einsichten und Veränderungen bewirken kann.

Dabei kommt es nicht darauf an, wie ein Klient das Bild malt oder ob die Therapeutin das Malen übernimmt, sondern auf die Geschichten, die der Klient über sich erzählt. Auch die Metapher kann verändert werden, angepasst an die Bedürfnisse der Klienten und Therapeuten. So wurde z. B. in der Diskussion deutlich, dass deutsche Therapeuten mit dem Bild des Treibholzes etwas anderes assoziieren als japanische.

Die nordamerikanisch geprägte Ergotherapie bevorzugt aus Iwamas Sicht das biomedizinische Modell und vernachlässigt kulturelle Verschiedenheit sowie Machtstrukturen in Theoriebildung und Praxis. Es sei aber wichtig, nicht einfach einem Trend zu folgen (auch keinem japanischen), sondern eigene kultursensible Lösungen für jeden einzelnen Klienten und die Berufsgruppe als solche zu finden. Iwama ermutigt deutsche Ergotherapeuten deshalb zum Experimentieren und Modifizieren des Kawa-Modells und zum Austausch. Nicht zuletzt ruft er Studierende auf, sich in ihrer Bachelor- oder Masterarbeit mit dem Modell und seiner Anwendung auseinanderzusetzen. Das Kawa-Modell wird bereits in vielen Ländern praktisch erprobt und z. B. in der Neurorehabilitation als ein Mittel zum interdisziplinären Austausch verwendet.

Iwamas anschaulicher Vortrag bot viel Anregung und Gesprächsstoff für Diskussionen, besonders über die Weiterentwicklung einer klientenzentrierten Ergotherapie in der kulturellen Vielfalt einer globalisierten Welt.

Eine genauere Beschreibung des Modells in Deutsch finden Sie in ergoscience 3 / 2007, ein Praxisbeispiel in ergopraxis 1 / 2008. Eine ausführliche Beschreibung bietet das Buch: Iwama M K, The Kawa Model: Culturally Relevant Occupational Therapy, Oxford UK: Churchill Livingstone, 2006. Auf der Website www.kawamodel.com können Sie Fragen stellen, Ihre Erfahrungen mit anderen austauschen und darüber diskutieren.

Prof. Michael Iwama

Heidrun Becker

Email: heidrun.becker@ash-berlin.eu