Zusammenfassung
Die erfolgreiche Haltungskontrolle setzt eine effektive und effiziente Interaktion aller posturalen Systeme voraus, die sowohl aktiv als auch reaktiv mittels muskulärer Kräfte den Körper im Gleichgewicht halten. Eine Störung dieses komplexen Posturalsystems auf sensorischer, zentraler oder motorischer Ebene führt in der Folge zu einer zunehmenden Instabilität und zu einer erhöhten Sturzneigung. Insofern scheinen die zuverlässige Erhebung der posturalen Kontrolle und die damit verbundene Sturzprävalenz ein wichtiges Element der ambulanten und stationären Versorgung zu sein. Die motorisch-funktionellen Assessments, die sich aus verschiedenen Gleichgewichts- und Stabilitätsaufgaben ergeben, stellen noch immer den Goldstandard zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle dar. Diese Verfahren sind jedoch oftmals nicht in der Lage, die Gleichgewichtsfähigkeit eines Patienten vollumfänglich abzubilden, oder sind aufgrund der subjektiven Bewertung oder unzureichender Standardisierung nur bedingt vergleichbar.
Das Ziel der vorliegenden Studie war daher die Entwicklung eines quantitativen Messverfahrens zur Überprüfung der posturalen Kontrolle, basierend auf dem neuroorthopädischen Therapiegerät Posturomed®. Das Messsystem wurde in Form eines reaktiven Screeningverfahrens ausgeführt. Bei diesem werden mechanische Perturbationen erzeugt mittels Elektromagneten, die an der Unterstützungsfläche des Probanden appliziert werden. Der Eignungsnachweis dieses Systems für eine Quantifizierung der posturalen Kontrolle erfolgte durch eine zweiarmige Querschnittsstudie mit 115 gesunden Probanden (Referenzgruppe) und 149 neurologischen Patienten.
Die Gruppe der neurologischen Patienten setzte sich zusammen aus
– 69 Patienten mit zerebraler Mikroangiopathie (ZMA) mit in den letzten 12 Monaten klinisch eher leichter, aber chronisch progredienter Symptomatik,
– 31 Patienten mit Morbus Parkinson Stadium I bis III nach Hoehn & Yahr als chronisch progrediente, multilokuläre Netzwerkerkrankung und
– 49 Patienten mit klinisch vordergründig restierender Hemiparese bei Zustand nach zerebraler Embolie (Kraftgrad des betroffenen Beins 4/5 oder latente Parese) außerhalb der Subakutphase.
Die Ergebnisse der Studie belegen, dass Perturbationsversuche zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle für ein breites Spektrum neurologischer Patienten geeignet sind.
Die Validität des Verfahrens konnte durch eine hohe inhaltliche Übereinstimmung zwischen der dynamischen Posturografie und den konvergenten Maßen der Motorik (Berg Balance Scale; Dynamic Gait Index) nachgewiesen werden.
Das vorgestellte System erscheint folglich geeignet, das reaktive Gleichgewicht als eine Eigenschaft der motorischen Standkontrolle zu bestimmen. Die dynamische Posturografie auf Basis eines Perturbationsversuchs kann im klinischen und therapeutischen Umfeld zur Quantifizierung der posturalen Kontrolle eingesetzt werden. Zielgruppenlimitationen und damit verbundene Einschränkungen der Generalisierbarkeit von motorisch-funktionellen Testverfahren werden mit ihm überwunden.
Darüber hinaus können auf der Basis der reaktiven posturalen Kompetenz individuelle Rückschlüsse auf das Sturzrisiko gezogen werden. Die Prognosegüte dieser Sturzrisikobewertung entspricht denen der motorisch-funktionellen Testverfahren und ist je nach Zielgruppe teilweise sogar besser. Für Patienten mit Morbus Parkinson konnte für den Dämpfungskoeffizienten bei einem Grenzwert von Δτ = − 0,45 s die höchste Güte ermittelt werden. Eine Sensitivität von 79 % und Spezifität von 78 % lassen eine gute Verwendung als sturzbezogenes Assessment erkennen. Der routinemäßige klinische Einsatz zur Quantifizierung der Sturzgefährdung, z. B. im Rahmen einer Krankenhausaufnahme, erscheint auf Grundlage der Ergebnisse empfehlenswert.
Eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich ein Assessment für eine Verlaufsbestimmung im Rahmen von Behandlungen einer Erkrankung eignet, ist seine ausreichende Reliabilität.
Die laterale Perturbation und dann die Wertung von mittlerer Schwingungsgeschwindigkeit und Schwingungsdistanz sind geeignet für die Beurteilung der posturalen Stabilität im Verlauf neurologischer Erkrankungen und damit auch für eine quantitative Erfassung auftretender Therapieeffekte.
Abstract
A successful postural control requires an effective and efficient interaction of all postural systems that both coactively and reactively ensure the body’s balance by means of muscular forces. Despite lacking verification of quality criteria and insufficient standardisation, motor-functional methods continue to remain the gold standard of quantifying postural competence. Therefore, the present study aimed to develop and validate a quantitative method to examine postural control. The measuring system was conducted in form of a reactive screening procedure, where mechanic perturbations were applied to the support surface of the test person (Utilisation of the neuro-orthopaedic device Posturomed®). Verification of the system’s adequacy for a quantification of postural control was performed by means of a two-branched cross-sectional study with 115 healthy test persons and 149 neurologic patients.
The group of neurological patients was composed
– 69 patients with cerebral microangiopathy (ZMA) with clinically rather mild but chronically progressive symptoms in the last 12 months,
– 31 patients with Parkinson's disease stage I to III according to Hoehn & Yahr as a chronically progressive, multilocular network disease, and
– 49 patients with clinically superficial restraining hemiparesis in the state after cerebral embolism (strength of the affected leg 4 /5 or latent paresis) outside the subacute phase.
The results of the study prove that perturbation trials as a method of quantifying postural competence, are suitable for a broad spectrum of neurologic patients.
The validity was proven through high substantive conformity between the dynamic posturography and convergent measures of motor functions (BBS; DGI).
The system is both valid and adequate to objectively determine reactive balance as a characteristic of motoric stance-control. Dynamic posturography on the basis of a perturbation trial can therefore be applied both in a clinical and therapeutic environment as a quantification of postural control and overcome target group limitations as well as the accompanying restrictions on generalisation.
Based upon postural competence, individual conclusions can be deduced, concerning the risk of falling. The forecasting quality of such a fall-risk assessment is equivalent to those generated by motor-functional testing methods and potentially even more pronounced, depending on the respective target group. The highest quality was determined for patients with Parkinson’s disease at a threshold value of Delta TAU = − 0,45 s. A sensitivity of 79 % and a specificity of 78 % indicate a good use as a fall-risk assessment. Thus, a routine clinical deployment in order to quantify the risk of falling, e. g. during the course of hospitalisation, can be recommended.
A basic requirement for an assessment to be suitable for the course of treatment in the treatment of a disease is its sufficient reliability. The lateral perturbation and then the evaluation of the mean vibration velocity and the vibration distance are suitable for the assessment of the postural stability in the course of neurological diseases and thus also for a quantitative recording of occurring therapeutic effects.
Schlüsselwörter
posturale Kontrolle - reaktives Gleichgewicht - Sturzgefährdung - zerebrale Netzwerkstörungen
Keywords
postural control - reactive balance - danger of falling - cerebral network disorders