Methoden
Zur Exploration und Priorisierung der Determinanten wurde ein Mixed-Methods Design
gewählt. Im ersten Schritt wurden Determinanten für die Nutzung von
Versorgungsangeboten zur ausschließlichen Fernbehandlung aus Patientensicht,
mithilfe von qualitativen Einzelinterviews, exploriert. Diese wurden
anschließend in einem zweiten Schritt durch quantitative Befragungen
priorisiert.
Bei der Evaluation von „docdirekt“ wurde sich dabei am „Model
for Assessment of Telemedicine Applications“ (MAST) orientiert, ein im
europäischen Raum etabliertes Instrument zur Bewertung telemedizinischer
Anwendungen [11].
Einzelinterviews
In der qualitativen Phase wurden telefonisch Einzelinterviews mit Probanden aus
BW von einem Medizinstudenten und Doktoranden des Instituts für
Allgemeinmedizin der Universität zu Lübeck (MS) im Zeitraum von
November 2018 bis März 2019 durchgeführt. Die Rekrutierung fand
durch insgesamt 42 Ärzte, zusammengesetzt aus an
„docdirekt“ beteiligten Telemedizinern sowie niedergelassenen
Ärzten aus den ursprünglichen Projekt-Modellregionen Stuttgart
und dem Landkreis Tuttlingen in BW, statt, die gebeten wurden jeweils 5
zufällig ausgewählte Probanden für ein Telefoninterview
zu rekrutieren.
Die Befragung der Probanden, u. a. nach Erwartungen, fördernden Faktoren
und Barrieren bei der Nutzung von Versorgungsangeboten zur
ausschließlichen Fernbehandlung, wurde mithilfe eines zuvor
entwickelten, teilstandardisierten Interviewleitfadens durchgeführt.
Ziel war es, die subjektiven Blickwinkel und Standpunkte der Teilnehmer zu
erfassen sowie gezielt auf Antworten eingehen zu können [12]. Zudem boten die Einzelinterviews einen
geschützten Rahmen und somit die Chance, persönliche Meinungen
unbefangen äußern zu können [13].
Es erfolgte eine Transkription der aufgenommenen Gespräche und eine
qualitative Auswertung nach Mayring [14].
Zwei Forscher (MS, CS: Gesundheitsökonom) codierten unabhängig
voneinander das Material. Eine Konsensus-Version der Codes wurde gemeinsam mit
einem in der qualitativen Methodik erfahrenen Wissenschaftler (JS: Facharzt
für Allgemeinmedizin) erstellt.
Fragebogen
In der anschließenden quantitativen Untersuchung wurde auf Grundlage der
Ergebnisse aus den Einzelinterviews ein Fragebogen erstellt. Dieser beinhaltete
29, aus den vorangegangenen Interviews ausgewählte, explorierte
Determinanten, welche die Befragten jeweils mittels einer 6-stufigen
Likert-Skala (von „sehr unwichtig“ bis „sehr
wichtig“) bewerten konnten. Zusätzlich wurden neben den
soziodemografischen Daten der Probanden auch allgemeine Fragen zur
ärztlichen Behandlung, Versorgungssituation und generellen Einstellung
zur ausschließlichen Fernbehandlung erhoben.
Der postalische Versand der Fragebögen erfolgte an 2000 zufällig
ausgewählte Bürger aus der Region Stuttgart und dem Landkreis
Tuttlingen, im Zeitraum von Juli bis November 2019. Der Dienstleister
für kommunale Informationsverarbeitung in BW (ITEOS) sowie die Stadt
Stuttgart stellten hierfür die benötigten Adressen zur
Verfügung.
Für die bewerteten Determinanten wurden Mittelwerte berechnet, auf deren
Basis für alle Teilnehmer eine Rangordnung der Determinanten erstellt
wurde. Zusätzlich wurde, mithilfe von Ordinalen Logistischen
Regressionen, der Zusammenhang für jede Determinante, separat mit der
Absicht die Videosprechstunde in Zukunft zu nutzen (nein, vielleicht oder ja),
geschätzt.
Außerdem wurden zu den einzelnen Determinanten in den separaten
Regressionen jeweils Kontrollvariablen berücksichtigt, und zwar zur
Soziodemografie (Geschlecht, Alter, Stadt), medizinischen Versorgung
(Einschätzung der medizinischen Versorgung, fester Hausarzt
ja/nein) und digitalen Affinität, welche mit der Anzahl
digitaler Endgeräte approximiert wurde. Zur Vergleichbarkeit der
geschätzten Zusammenhänge wurde die Stichprobe auf Teilnehmer
begrenzt, die zu jeder Determinante und Kontrollvariable verwertbare Angaben
gemacht haben. Die statistischen Analysen im quantitativen Studienteil wurden
mit MATLAB, Version 9.4 (R2019b) (The MathWorks, Natick, MA, USA) und mit STATA
15 (StataCorp LLC, College Station, TX, USA) durchgeführt.
Ergebnisse
Qualitative Ergebnisse
Insgesamt willigten 34 Probanden in die Teilnahme an einem Interview ein. Sieben
Probanden zogen ihr Einverständnis jedoch ohne Angabe von
Gründen zurück oder waren aufgrund einer fehlerhaften
Kontaktadresse nicht mehr erreichbar, sodass 27 Interviews geführt
wurden. Aufgrund der inhaltlichen Sättigung konnte auf eine weitere
Rekrutierung von Probanden verzichtet werden. Das durchschnittliche Alter der
Teilnehmer betrug 51 Jahre (SD=18,67; min: 23 J., max: 86 J.), der
Anteil der weiblichen Teilnehmer betrug 63%.
Anhand der Interviewleitfragen konnten 47 Determinanten den drei explorierten
Hauptkategorien „Erwartungen an ein Fernbehandlungsangebot“,
„fördernde Faktoren“ und „Barrieren“ bei
der Nutzung eines Fernbehandlungsangebots zugeordnet werden ([Tab. 1]).
Tab. 1 Ergebnisse der Telefoninterviews.
Kategorien
|
|
Determinanten
|
Erwartungen
|
Ersteinschätzung
|
Schneller Kontakt zu ärztlichem Personal
|
Erste Therapieempfehlung erhalten
|
Empfehlung zur Weiterbehandlung
|
Beruhigung *
|
Komfort
|
Bequemlichkeit
|
Örtliche Flexibilität
|
Wegersparnis
|
Zeitersparnis
|
Zeitliche Flexibilität
|
Zugang
|
Anonymität (unbekannter Arzt)
|
Ansteckungsvermeidung
|
Niedrige Hemmschwelle
|
Fördernde Faktoren
|
Dienstleistung
|
E-Rezept
|
E-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
|
Infos über Medikamente
|
Spezialistentermin
|
Abschließend lösbares Problem
|
Ärztliche Zweitmeinung
|
Vertrauen
|
Vertrauter Arzt
|
Qualität
|
Geschulter Arzt
|
Standardisierte Vorgehensweise des Telearztes
*
|
Vernetzung
|
Integration von Gesundheits-Apps
|
Datenaustausch mit Hausarztpraxis
|
Zugriff des Telearztes auf e-Akte
|
Zugang
|
Erweiterte Sprechzeiten
|
Kurze Hotline-Nummer
|
Eigenes Gerät
|
Hilfe bei Bedienung
|
Datenschutz
|
Info über Datenschutzkonzept
|
Patientensouveränität über eigene
Daten *
|
Anreize
|
Bonussystem bei Nutzung *
|
Bekanntheitsgrad
|
Werbemaßnahmen *
|
Erfahrungsberichte / Nutzerbewertung einrichten
*
|
Barrieren
|
Technik
|
Datenschutz
|
Technische Qualität
|
Überforderung mit der Technik im Alter
*
|
Zugang
|
Verbindungskosten *
|
Neophobie *
|
Qualität
|
Fehlende körperliche Untersuchung *
|
Begrenzte Untersuchungsmöglichkeiten
*
|
Fehlendes Wissen über Krankenvorgeschichte
*
|
Vertrauen
|
Fremder Arzt *
|
Bedarf
|
Ausreichende Versorgung vor Ort *
|
Informationsvermittlung
|
Unklares Angebot *
|
Befürchtungen / Sorgen
|
Mehraufwand *
|
Arztersatz *
|
Fehldiagnosen durch Ferndiagnose *
|
* Determinanten, die nicht in den Fragebogen für die
Priorisierung mitaufgenommen wurden.
Erwartungen an ein Fernbehandlungsangebot
Die Interviewpartner erwarteten von einem Fernbehandlungsangebot eine schnelle
Erreichbarkeit von medizinischem Fachpersonal oder Ärzten, die dann
Empfehlungen für die ersten therapeutischen Maßnahmen und
Entscheidungshilfen für die richtige Weiterbehandlung bzw.
Weitervermittlung geben können:
„Ja, und auch die Möglichkeit, [...], schon ohne
überhaupt einen Besuch, also ohne Zeitaufwand, schon eine Diagnose
zu bekommen. Und auch eventuell einen Therapievorschlag, ohne, dass man viel
Zeit investieren muss“ (TN 5).
Ein Nutzen liegt laut der Teilnehmer auch im Komfort. Genannt wurden
z. B. die örtliche und zeitliche Flexibilität, Wege- und
Zeitersparnis, aber auch die Bequemlichkeit bei einer Erkrankung das Haus nicht
verlassen zu müssen. Zudem könne durch eine Videosprechstunde
auch eine potenzielle Ansteckung in Arztpraxen vermieden werden.
„Ich finde das eine tolle Idee, man ist unabhängig, man kann
es von zu Hause aus machen, muss nicht einen Termin ausmachen, dann vor
Ort“ (TN 8).
Fördernde Faktoren für die Nutzung eines
Fernbehandlungsangebots
Als für die Nutzung förderlich, empfanden die Teilnehmer
v. a. eine Erweiterung der Sprechzeiten auf das Wochenende oder eine
24/7-erreichbare Hotline sowie die Möglichkeit elektronische
Rezepte (e-Rezept) und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (e-AU)
ausgestellt zu bekommen.
„Ja, also wenn das mit so Rezepten und Attesten funktionieren
würde [...], dann würde ich das auf jeden Fall
nutzen“ (TN 6).
Anforderungen gab es von den Teilnehmern auch an die Ärzte, die die
Videosprechstunde durchführen (Teleärzte). Diese sollten
speziell für eine telemedizinische Behandlung geschult sein und bei der
Anamnese eine standardisierte Vorgehensweise befolgen. Eine Zuweisung immer an
denselben Telearzt, sollte es vom Patienten gewünscht werden,
könne hierbei ebenso nützlich sein.
„Also von daher wäre es vielleicht auch ganz gut, ja, dieser
Arzt wäre vielleicht irgendwie besonders geschult. Um das
Gespräch mit mir zu führen. Weil es ist ein fremder Arzt und
ich vergesse vielleicht was und er vergisst vielleicht was, was wichtig
wäre“ (TN 20).
Als vorteilhaft wurde der Zugriff des Telearztes auf eine elektronische
Patientenakte (e-Akte) genannt, mit der sich der Telearzt über die
Krankenvorgeschichte und eine eventuelle Dauermedikation des Patienten
informieren könne. Jedoch solle der Patient selbst darüber
entscheiden können, welche Informationen in dieser Akte gespeichert
werden.
„[...] ich habe das auch nicht so mit verfolgt, aber die Kassen und
andere wollen ja auch auf den Patienten Ausweis auch Daten speichern. Und
das wäre natürlich gut, diese Daten, so sie dann irgendwann
mal gespeichert sind, auch eben dem Telearzt zu
übertragen“ (TN 16).
Eine pharmakologische Beratung, als Teil des Angebots, wurde ebenfalls als
förderlich für die Nutzungsabsicht genannt. Generell sei ein
hoher Bekanntheitsgrad eines Angebots wichtig, wie z. B. durch
Werbemaßnahmen und Bereitstellung von Erfahrungsberichten.
„Was vielleicht spannend wäre, wäre auch so eine
pharmakologische Verbindung. [...] Die Medikamente haben ja nicht nur
Wirkung, die haben ja auch irgendwelche Nebenwirkungen und
Wechselwirkungen“ (TN 26).
Barrieren bei der Nutzung eines Fernbehandlungsangebots
Viele Teilnehmer äußerten ihre Besorgnis über die
medizinische Qualität eines solchen Angebots. Z. B., dass der
Telearzt weder eine körperliche Untersuchung durchführen noch
über die Krankenvorgeschichte des Patienten Bescheid wissen
könne und insgesamt nur eingeschränkte
Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung stünden.
„Ja, das denke ich schon, weil letztendlich bleibt ein bisschen die
körperliche Untersuchung wahrscheinlich auf der Strecke. Die
Diagnostik ist vielleicht für den Arzt auch schwierig, der mir da am
Bildschirm gegenübersitzt“ (TN 20).
Teilnehmer nannten auch, dass, aufgrund einer bestehenden guten medizinischen
Versorgung vor Ort, eine Konsultation eines Telearztes überhaupt nicht
notwendig sei und v. a. ältere Patienten mit der Technik
überfordert sein könnten bzw. sind.
„Also ich denke, in einem gewissen Alter, so wie ich jetzt bin, dass
man [überlegendes Geräusch] das vielleicht auch gar nicht
mehr so versteht am Telefon, wie wenn ich jetzt persönlich mit dem
Arzt sprechen kann“ (TN 18).
Neben einer allgemeinen Datenschutzproblematik wurde auch eine Unwissenheit
beklagt, in welchen medizinischen Fällen dieses Angebot
überhaupt genutzt werden könne.
„Gut die Frage ist für mich dann so ein bisschen, die sich
stellt, vielleicht ganz grundsätzlich, wann rufe ich bei dieser
Hotline an. Also wenn ich jetzt eine Erkältung habe und ein Attest
brauche oder so. Oder wenn ich tatsächlich, [überlegendes
Geräusch] weiß ich nicht, so ein bisschen mehr in Richtung
Notfall, oder [überlegendes Geräusch] ja, also weiß
ich nicht“ (TN 12).
Es bestand die Befürchtung, dass eine vorherige Konsultation eines
Telearztes, aufgrund einer medizinischen Problematik, letztendlich Mehraufwand
bedeuten würde, da man meistens dennoch in einer Arztpraxis vorstellig
werden müsse.
„Also dann, ja, bringt es zwar insofern etwas, dass man dann das
weiß, dass man dann auf jeden Fall jetzt doch zum Arzt muss, aber es
erleichtert es halt insofern dann ja doch nicht ganz, weil man den Weg ja
dann trotzdem wiederhat“ (TN 3).
Aus der qualitativen Analyse konnten insgesamt 29 Determinanten
ausgewählt und exploriert werden, deren Priorisierung im Folgenden
beschrieben wird.
Deskriptive Ergebnisse
Von den 2000 postalisch verschickten Fragebögen wurden 217
zurückgesandt (Rücklaufquote: 10,9%). Alle
Rückläufer waren gültig und konnten in die Analyse
eingeschlossen werden. Das durchschnittliche Probandenalter betrug 53 Jahre
(SD=17,2; min: 19 J., max: 88 J.). [Tab. 2] zeigt u. a. die soziodemografischen Merkmale der
Studienteilnehmer, die Nutzungsabsicht der ärztlichen Behandlung per
Videotelefonie, Einschätzungen zur medizinischen Vesorgung und zu ihrer
digitalen Affinität.
Tab. 2 Deskriptive Statistiken.
|
alle
|
<35 J.
|
35–65 J.
|
>65 J.
|
Stichprobenumfang
|
|
|
|
|
Anzahl Beobachtungen
|
217 **
|
39
|
113
|
60
|
Anteil Beobachtungen (%)
|
100,0
|
18,0
|
52,1
|
27,7
|
Anteil der ausgeschlossenen Teilnehmer
(%)*
|
17,1
|
7,7
|
9,7
|
30,0
|
Soziodemografie
|
|
|
|
|
Alter
|
53,4
|
28,4
|
51,1
|
73,8
|
weiblich (Anteil in %)
|
54,4
|
48,7
|
55,8
|
55,0
|
Region Stuttgart (Anteil in %)
|
53,5
|
69,2
|
50,0
|
51,7
|
Stadt (Anteil in %)
|
67,8
|
71,8
|
60,7
|
78,3
|
chronische Erkrankung (Anteil in %)
|
28,4
|
5,1
|
23,2
|
53,5
|
Nutzung der ärztlichen Behandlung per
Videotelefonie (Anteile in %)
|
|
|
|
|
Ich beabsichtige in Zukunft Videotelefonie zu nutzen
|
|
|
|
|
Nein
|
34,6
|
12,8
|
29,2
|
60,0
|
Vielleicht
|
30,9
|
28,2
|
39,8
|
18,3
|
Ja
|
32,7
|
59,0
|
31,0
|
16,7
|
Ich habe bereits Videotelefonie genutzt
|
1,4
|
0,0
|
1,8
|
1,8
|
Medizinische Versorgung
|
|
|
|
|
Wie lange sind Sie bereits Patient/in bei Ihrem
Hausarzt? (Anteile in %)
|
|
|
|
|
Ich habe keinen festen Hausarzt
|
8,5
|
15,4
|
9,7
|
1,8
|
weniger als 5 Jahre
|
19,8
|
35,9
|
20,4
|
8,3
|
5 Jahre oder länger
|
69,6
|
48,7
|
69,9
|
83,3
|
Wichtigkeit einen festen Hausarzt zu haben (1–6)
|
5,4
|
4,6
|
5,4
|
5,9
|
Wichtigkeit des unmittelbaren persönlichen Kontakts
zum Hausarzt vor Ort (1–6)
|
5,2
|
4,6
|
5,2
|
5,7
|
Wichtigkeit, dass der Arzt auch auf die Körpersprache
eingehen kann (1–6)
|
4,9
|
4,3
|
5,0
|
5,2
|
Bewertung der medizinischen Versorgung im Allgemeinen
(1–6)
|
4,7
|
4,7
|
4,6
|
5,1
|
Bewertung der Wartezeit beim Hausarzt (1–6)
|
4,8
|
4,8
|
4,7
|
4,8
|
Bewertung der Wartezeit beim Spezialisten (1–6)
|
3,2
|
3,0
|
2,9
|
3,7
|
Wartezeit im Wartezimmer beim Hausarzt (ohne Termin)
(min)
|
46,6
|
45,4
|
47,0
|
46,5
|
Wegezeit zum Hausarzt (min)
|
13,7
|
15,4
|
13,2
|
13,7
|
Digitale Affinität
|
|
|
|
|
Internetzugang (Anteil in %)
|
90,7
|
100,0
|
97,4
|
71,7
|
Anzahl digitaler Endgeräte
|
2,4
|
2,8
|
2,7
|
1,7
|
Anzahl der Internetrecherchen innerhalb eines Jahres zu
Gesundheitsfragen
|
17,6
|
15,0
|
17,5
|
20,6
|
*Anteil in den jeweiligen Altersklassen. Teilnehmer
wurden in den weiteren Analysen „Bewertung der
Determinanten“ und „Zusammenhang der Determinanten mit
der Nutzungsabsicht“ ausgeschlossen, wenn sie nicht zu jeder
Determinante und Kontrollvariable verwertbare Angaben gemacht haben.
** Fünf Teilnehmer haben kein Alter
angegeben.
Die Teilnehmer wurden nach ihrer zukünftigen allgemeinen Nutzungsabsicht
der ärztlichen Behandlung per Videotelefonie befragt ([Tab. 2]). Insgesamt schlossen
34,6% die Nutzung für sich aus. Am geringsten war das Interesse
bei der Altersgruppe >65 Jahren, in der 60% der Teilnehmer
angaben, Videotelefonie nicht nutzen zu wollen. In dieser Altersgruppe haben
71,7% einen Internetzugang. Umgekehrt beabsichtigte die Mehrheit
(59%) innerhalb der Altersgruppe <35 Jahren, das Angebot zu
nutzen. Für die weiteren Analysen wurden 37 Teilnehmer ausgeschlossen,
da sie nicht zu jeder Determinante und Kontrollvariable verwertbare Angaben
machten.
Bewertung der Determinanten
Von den in den Interviews ausgewählten, explorierten 29 Determinanten zu
den Themenbereichen „Erwartungen“, „fördernde
Faktoren“ und „Barrieren“ bei der Nutzung eines
Fernbehandlungsangebots, welche die Befragten jeweils mittels einer 6-stufigen
Likert Skala (von 1 „sehr unwichtig“ bis 6 „sehr
wichtig“) bewerten konnten, sind die Mittelwerte berechnet worden. Auf
dieser Basis wurde für alle Teilnehmer eine Rangordnung der
Determinanten erstellt ([Tab. 3]).
Tab. 3 Regressionsanalyse: Nutzungsabsicht Telemedizin.
Rang
|
Determinanten
|
MW
|
Ordinales Logitb
|
Kontroll- variablen (KV)
|
Ordinales Logita
|
|
|
|
(KV + Det.)
|
|
(nur KV)
|
1
|
schneller Kontakt
|
5,37
|
0,46**
|
|
|
2
|
Spezialistentermin
|
5,10
|
0,34**
|
weiblich
|
− 0,46
|
3
|
Therapieempfehlung
|
5,02
|
0,43***
|
Alter
|
− 0,04***
|
4
|
ärztliche Empfehlung zur Weiterbehandlung
|
4,95
|
0,34**
|
medizinische Versorgung
|
− 0,28**
|
5
|
Datenschutz
|
4,93
|
0,01
|
Stadt
|
0,57*
|
6
|
geschulter Arzt
|
4,88
|
0,11
|
kein Hausarzt
|
0,73
|
7
|
Zeitersparnis
|
4,55
|
0,51***
|
Anzahl digitaler Endgeräte
|
0,61***
|
8
|
niedrige Hemmschwelle
|
4,50
|
0,17
|
9
|
eigenes Gerät
|
4,49
|
0,48***
|
Schwellen-werte
|
− 2,29**
|
− 0,42
|
10
|
technische Qualität
|
4,48
|
0,58***
|
11
|
zeitliche Flexibilität
|
4,44
|
0,52***
|
12
|
ärztliche Zweitmeinung
|
4,39
|
0,24**
|
13
|
Zugriff des Telearztes auf E-Akte
|
4,37
|
0,68***
|
Beobachtungen
|
180
|
14
|
örtliche Flexibilität
|
4,28
|
0,47***
|
15
|
Vernetzung mit Hausarztpraxis
|
4,27
|
0,44***
|
16
|
vertrauter Arzt
|
4,26
|
0,14
|
|
|
17
|
Erreichbarkeit am Wochenende
|
4,15
|
0,34***
|
|
|
18
|
elektronisches Rezept
|
4,08
|
0,55***
|
|
|
19
|
abschließend lösbares Problem
|
4,08
|
0,30***
|
|
|
20
|
Info über Datenschutzkonzept
|
4,06
|
− 0,03
|
|
|
21
|
Ansteckungsvermeidung
|
4,01
|
0,04
|
|
|
22
|
Hilfe bei der Bedienung
|
3,98
|
0,14
|
|
|
23
|
Infos über Medikamente
|
3,86
|
0,50***
|
|
|
24
|
Wegersparnis
|
3,84
|
0,49***
|
|
|
25
|
kurze Hotline-Nummer
|
3,81
|
0,30***
|
|
|
26
|
Bequemlichkeit
|
3,69
|
0,44***
|
|
|
27
|
elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
|
3,27
|
0,18*
|
|
|
28
|
Integration von Apps
|
3,02
|
0,26***
|
|
|
29
|
Anonymität
|
2,97
|
0,07
|
|
|
Signifikanzniveaus:* 10%,**5%, *** 1%;
a
nur Kontrollvariablen wurden bei der Schätzung
berücksichtigt.
b
Für jede Determinante wurde ein eigenes Ordinales
Logit Modell geschätzt, in dem die Kontrollvariablen
berücksichtigt wurden. Die Koeffizienten der Kontrollvariablen
werden aus Platzgründen hier nicht gezeigt.
Am persönlich wichtigsten bei einer ärztlichen Behandlung per
Videotelefonie wurde von den Teilnehmern der „schnelle ärztliche
Kontakt“ (MW 5,37 von 6) empfunden. Gefolgt von der Möglichkeit
einen „Spezialistentermin“ vermittelt zu bekommen (MW 5,1) und
„eine erste Therapieempfehlung“ (MW 5,02) zu erhalten. Auch der
„Datenschutz“ (MW 4,93) und „geschulte
Teleärzte“ (MW 4,88) wurden als wichtig empfunden. Einen
mittleren Rang belegten die Aspekte „Erreichbarkeit am
Wochenende“ (MW 4,15) und „die Ausstellung von elektronischen
Rezepten“ (MW 4,08). Die Aspekte „Ausstellung von elektronischen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen“ (MW 3,27) und „die
Bequemlichkeit, z. B. nicht das Haus verlassen und im Wartezimmer sitzen
zu müssen“ (MW 3,69) wurden insgesamt als weniger wichtig
bewertet.
Zusammenhang der Determinanten mit der Nutzungsabsicht
Die Ergebnisse der Ordinalen Logistischen Regression sind ebenfalls in [Tab. 3] abgebildet. Je älter
die Probanden waren und je geringer die digitale Affinität (gemessen
an der Anzahl der Endgeräte), desto geringer war auch die
Nutzungsabsicht. Diese nahm auch ab, je besser die medizinische Versorgung
vor Ort beurteilt wurde. Personen, die ihren Wohnort als städtisch
charakterisierten, zeigten eine höhere Nutzungsabsicht von
Fernbehandlungsangeboten. Jedoch war dieser Effekt nur auf dem 10%
Niveau signifikant.
Der stärkste Zusammenhang zeigte sich zwischen Nutzungsabsicht und
dem Zugriff auf eine elektronische Patientenakte durch den behandelnden
Telearzt. Je höher die Teilnehmer diesen Aspekt bewertet haben,
desto höher war deren Nutzungsabsicht. Weitere Determinanten, die
von Probanden mit einer Nutzungsabsicht von Videosprechstunden als wichtiger
bewertet wurden, sind überwiegend Komfort-Aspekte, wie die
„Zeit- und Wegeersparnis“, die
„Bequemlichkeit“, die „örtliche und
zeitliche Flexibilität“, aber auch die Integration von
Dienstleistungen, wie die Ausstellung von „e-Rezepten“,
„elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen“
und „Informationen über Medikamente“.
Diskussion
Anhand der Auswertungen der qualitativen Interviews und anknüpfenden
Fragebogenerhebung wurde ein Meinungsbild über die ärztliche
Behandlung per Videotelefonie in BW sowie die Relevanz einiger Aspekte, die ein
Fernbehandlungsangebot bieten sollte, untersucht.
Die Ergebnisse passen weitgehend zu den Ergebnissen der Versichertenbefragung der KBV
von 2019 und zeigen, dass mit 34,6% der Anteil derjenigen, die ein solches
Angebot nicht nutzen wollen, eher gering ist [15]. Das bestätigt wiederum die Vermutung von Ärzten,
die, laut einer Umfrage im Auftrag der Bundesärztekammer (BÄK), die
Bedeutung der Telemedizin im Gesundheitswesen als zunehmend beurteilten [16]. Unter den besonderen Umständen der
Corona-Pandemie erlebt die Bereitschaft, Videotelefonie zu verwenden, zudem aktuell
eine erhebliche Steigerung [17]. Als
Zugehörige der „digital natives“ wollen besonders die
Teilnehmer unter 35 Jahren mit 87,2% in Zukunft telemedizinische Leistungen
in Anspruch nehmen oder können es sich zumindest vorstellen. Die Nutzung
technischer Geräte und des Internet ist in dieser Altersgruppe eine
Selbstverständlichkeit, weswegen die vermehrte Akzeptanz der Videotelefonie
bestehen könnte [16]. Die Kluft der
digitalen Affinität im Vergleich zu den über 65-jährigen ist
in unserer Befragung auch vorhanden, es gibt jedoch Hinweise, dass diese insgesamt
schwindet [18].
Von den Teilnehmern der Umfrage haben 1,4% eine Videosprechstunde genutzt und
einigen Interviewteilnehmern war nicht genau bekannt, für welche Situationen
die Nutzung der Fernbehandlung überhaupt gedacht sei. Bei dem Projekt
„docdirekt“ wurde zu Beginn bewusst auf Werbekampagnen verzichtet
[19]. Laut Studien, die das mit
„docdirekt“ vergleichbare englische Fernbehandlungsangebot
„NHS Direct“ evaluierten, ist aber, gerade für die
Akzeptanzsteigerung, ein flächendeckender Bekanntheitsgrad des Angebots und
eine Kenntnisvermittlung der konkreten Nutzungsmöglichkeiten von
großer Bedeutung [20].
Die Aspekte „schneller Kontakt mit einem Arzt“ und
„Therapieempfehlung“ wurden von den Teilnehmern als am wichtigsten
eingestuft. Eine Studie zum Nutzungsverhalten von Notaufnahmen von 2017 zeigte, dass
mehr als die Hälfte der Patienten ihre Behandlung als nicht dringend
einschätzen [21]. Die
Möglichkeit, dass Patienten im Vorhinein ihre Beschwerden telemedizinisch
abklären und eine fachliche Einschätzung über die
Behandlungsdringlichkeit bzw. -notwendigkeit von einem Telearzt erhalten
können, könnte daher Ressourcen in Notfallambulanzen und
möglicherweise auch Kosten einsparen. Einige Interviewteilnehmer
äußerten, dass alleine der Kontakt mit medizinischem Personal bei
vielen Beschwerden häufig für ausreichende Beruhigung und damit
Linderung der Beschwerden sorge. Das bestätigen die Ergebnisse aus einer
Studie, die zeigen, dass mit der ausschließlichen Fernbehandlung ca.
50% der Anrufe abschließend geklärt werden können
und dies zur Entlastung medizinischer Einrichtungen beitragen kann [22].
Bisher ist „docdirekt“ von Montag bis Freitag zwischen 9–19
Uhr erreichbar, wird jedoch in über 25% der Fälle am
Wochenende versucht zu erreichen [23]. Dies
spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Interviews wider, in denen eine
Erweiterung der Erreichbarkeit bzw. eine 24/7-Hotline als förderlich
für die Nutzung beschrieben wurde.
Seit November 2019 besteht die Möglichkeit im Rahmen von
„docdirekt“ e-Rezepte auszustellen. Ein Faktor, der als
förderliche Determinante identifiziert wurde. Dies passt auch zu der
politischen Einschätzung, dass der Erfolg telemedizinischer Projekte
abhängig von der Integration eines e-Rezeptes ist [24].
Der Datenschutz wurde von den Probanden als wichtig eingestuft. Ein Zusammenhang mit
der Nutzungsabsicht von Videosprechstunden konnte jedoch nicht gefunden werden. Dies
ist daher bemerkenswert, da in Deutschland die Sorge über Sicherheit, sowohl
bei der Datenverarbeitung als auch -übermittlung, gesellschaftlich sonst
einen großen Stellenwert hat [25]. Ein
Dienstleister muss selbstverständlich hohe Anforderungen an den Schutz der
persönlichen und medizinischen Daten stellen und das Konzept mit den
Anwendern kommunizieren. Länder wie Estland, das zu den Spitzenreitern der
Digitalisierung zählt, zeigen schon seit Jahren, dass sich der medizinische
Datenaustausch zwischen allen Akteuren im Gesundheitswesen auch mit einem sicheren
Datenschutz vereinbaren lässt [26].
Die Teilnehmer bewerteten, unabhängig von deren Nutzungsabsicht, auch die
Schulung des telemedizinischen Personals als wichtig. Dies könnte
für eine mögliche Barriere bei Probanden ohne Nutzungsabsicht
sprechen, die fehlende Kenntnisse telemedizinischer Fertigkeiten bzw. mangelnde
Erfahrung des Personals mit telemedizinischen Behandlungen befürchten. Das
bestätigt das Vorhaben der BÄK, die Qualität einer
Fernbehandlung zukünftig sicherstellen zu wollen. Beispielsweise mit einer
Heranführung der Ärzte an telemedizinische Methoden mittels
Fortbildungen oder durch die Aufnahme telemedizinischer Fertigkeiten in das
Curriculum des Medizinstudiums [27]
[28].
Stärken und Schwächen
Diese ist die erste wissenschaftliche Arbeit über das Thema
„Akzeptanz von ausschließlichen
Fernbehandlungsangeboten“ in Deutschland. Ein Selektionsbias der
Studienprobanden, insbesondere bei der quantitativen Befragung, kann aufgrund
des geringen Rücklaufs nicht ausgeschlossen werden. Die Ergebnisse
müssen daher vorsichtig interpretiert werden und sind nicht
verallgemeinerbar.