Psychiatr Prax 2022; 49(05): 234-236
DOI: 10.1055/a-1809-8461
Editorial

Das Recovery-orientierte Modell der psychosozialen Versorgung

Ein Ausblick auf die 3. Auflage der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“The Recovery-Oriented Model of Psychosocial CareAn Outlook on the 3rd Edition of the S3 Guideline “Psychosocial Therapies for Severe Mental Illnesses”
Uta Gühne
1   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
,
Stefan Weinmann
2   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum Am Urban, Berlin
,
Thomas Becker
3   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II am Bezirkskrankenhaus Günzburg, Universität Ulm
,
Steffi G. Riedel-Heller
1   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
› Institutsangaben
 
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Uta Gühne

Hintergrund

Ende 2023 verliert die aktuelle S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) [1] ihre Gültigkeit. Der ersten, im Jahre 2013 erschienenen Leitlinie soll nun eine zweite Aktualisierung folgen. Den Empfehlungen der ersten beiden Auflagen liegen systematische Literaturrecherchen zur Wirksamkeit verschiedener psychosozialer Therapien zugrunde. Unter Einbindung von Betroffenen- und Angehörigenvertreter*innen, Expert*innen und führenden Praxisvertreter*innen des Feldes erfolgte ein formalisiertes, im nominalen Gruppenprozess auf Konsens zielendes Prozedere, um die Empfehlungen auf breite Füße zu stellen. In vielen Bereichen konnten aufgrund der umfangreichen Evidenz klare Behandlungsempfehlungen formuliert werden.


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Diagnoseübergreifender Ansatz

Eine Besonderheit dieser Leitlinie bleibt ihr diagnoseübergreifender Ansatz. Zielgruppe der Leitlinie sind Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Gemeinsam ist den Betroffenen, dass sie über eine lange Zeit mit ihren Symptomen, den Auswirkungen ihrer Erkrankung und den erlebten Einschränkungen in verschiedenen Funktions- und Lebensbereichen zurechtkommen müssen [2]. Aufgrund des frühen Beginns vieler psychischer Erkrankungen werden Lebensbiografien schon frühzeitig beeinflusst. Die Behandlungsbedarfe sind in aller Regel komplex und mit einer intensiven Inanspruchnahme psychiatrischer, psychotherapeutischer und psychosozialer Hilfen verbunden [3]. Die Risiken sozialer Exklusion gegenüber der Allgemeinbevölkerung sind hoch. Viel zu häufig sind die Betroffenen von der Teilhabe an Bildung und beruflicher Beschäftigung ausgeschlossen [4] [5] und die sozioökonomischen Bedingungen unbefriedigend [6]. Die Stigmatisierung gegenüber psychischen Erkrankungen ist nach wie vor hoch und für die Betroffenen und ihre Angehörigen auf vielfältige Weise spürbar [7]. Auch hinsichtlich der somatischen Gesundheit sind Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung deutlich schlechter gestellt. Die Komorbidität und Mortalität sind vergleichsweise hoch [8].


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Vielfalt psychosozialer Interventionen

Die verschiedenartigen psychosozialen Therapien, die neben den somatischen und psychotherapeutischen Ansätzen eine bedeutende Rolle in der Behandlung psychischer Erkrankungen spielen, zielen darauf ab, die individuellen Möglichkeiten der Betroffenen für ein selbstbestimmtes Leben zu erweitern sowie Gesundheit, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern. In der Leitlinie wurden diese erstmals für den deutschsprachigen Raum systematisiert. Folgte man in der Leitlinie bisher einem pragmatischen Ansatz, mit dem zwischen System- und Einzelinterventionen, den Ansätzen der Selbsthilfe und den grundlegenden Aspekten psychosozialen Handelns unterschieden wurde, wird man in der 3. Auflage dem Recovery-Gedanken (noch) stärker gerecht und rückt den Menschen mit seinen individuellen Bedarfen, Zielen und Teilhabebestrebungen in den Mittelpunkt.


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Das Recovery-orientierte Modell

Ausgehend vom Recovery-Ansatz und seinen verschiedenen Dimensionen [9] [10] werden die psychosozialen Interventionen in einem Recovery-orientierten Modell der psychosozialen Versorgung verortet. Im Zentrum steht der Recovery-Prozess, der hier als ein „Prozess von persönlichem Wachstum und Entwicklung“ gesehen wird ([11] S. 45). Hierbei wird die persönliche, subjektive, personenzentrierte oder auch rehabilitative Perspektive von Recovery betont [11] [12]. Die äußeren Dimensionen, die sich um das Zentrum gruppieren (vgl. [ Abb. 1 ]), stehen in enger Beziehung mit dem Recovery-Prozess und die hierunter subsumierten Interventionen können diesen Prozess unterstützen. Neben der sozialen und kulturellen sowie der beruflichen Teilhabe werden hier die Dimensionen Gesundheit und Wohlergehen sowie Gesundheitskompetenz und Selbsthilfe adressiert. Mit konzeptionellen Ansätzen wie der partizipativen Entscheidungsfindung, einer multiprofessionellen teambasierten Behandlung oder einem Case-Management in der Gemeinde, können Behandlungsergebnisse und -koordination verbessert werden. Innerhalb der verschiedenen Dimensionen, lassen sich die psychosozialen Interventionen jeweils auf einer strukturellen und einer individuellen Ebene einordnen. Bezogen auf die Dimension Gesundheit und Wohlergehen wird im Modell deutlich gemacht, dass neben der individuellen Förderung von Sport und Bewegung und einer gesundheitsförderlichen Haltung und Lebensweise durch geeignete und evidenzbasierte Interventionen auch auf struktureller Ebene Interventionen erforderlich sind, um die Gesundheit und das Wohlergehen schwer psychisch kranker Menschen zu verbessern. Erforderlich ist dabei vor allem eine integrierte, koordinierte und umfassende Gesundheitsversorgung, die alle notwendigen Behandlungselemente, einschließlich der somatischen Behandlung umfasst.

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Abb. 1 „Recovery-orientiertes Modell der psychosozialen Versorgung“.

Psychosoziale Interventionen können in den verschiedenen Dimensionen unterschiedliche spezifische Ziele und Funktionen haben und sind deshalb dimensionsübergreifend relevant. Im Modell werden diese Interventionen mit einem Sternchen hervorgehoben. Das trifft beispielsweise auf die Künstlerischen Therapien zu. Hierbei können die Schwerpunkte sowohl auf der therapeutischen Beziehungsgestaltung als auch in der Erweiterung von Möglichkeiten sozialer und kultureller Teilhabe, beispielsweise durch künstlerische Angebote im Museumsraum, liegen. Spezifische Ansätze – wie Biografiearbeit und Tanz – können beispielsweise auf ein stärkeres Empowerment bzw. auf eine Verbesserung von Gesundheit und Wohlergehen zielen. Auch die in der Literatur weit verbreitete Einteilung der ergotherapeutischen Zielbereiche in Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit macht deren dimensionsübergreifende Bedeutung deutlich. Exemplarisch verwiesen werden soll hier auf den Bereich der Produktivität, der nach ergotherapeutischem Verständnis zweckgebundene Betätigungen umfasst, die den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit sichern (Dimension berufliche Teilhabe) oder beispielsweise durch Kindererziehung oder Ehrenamt einen Beitrag für andere Personen oder die Gesellschaft leisten (soziale Teilhabe). Ebenso ließen sich für die Genesungsbegleitung zahlreiche unterschiedliche Ziele benennen, die beispielsweise in einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse durch die Bereicherung von Peer-Mitarbeiter*innen in multiprofessionellen Teams, in einer verbesserten sozialen Teilhabe durch eine Stärkung sozialer Netzwerke oder in einer verbesserten somatischen Gesundheit durch eine Unterstützung beim Navigieren durch das Gesundheitssystem liegen können.


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Fazit

Das Recovery-orientierte Modell der psychosozialen Versorgung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr gehen die Autor*innen davon aus, dass es weitere Therapien und Ansätze gibt und geben wird, die sich hier verorten lassen. Das Modell ist auf Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung angelegt. Bereits jetzt verdeutlicht es die große Relevanz psychosozialer Therapien für den individuellen Recovery-Prozess. Dabei wird verschiedenen Ansätzen, wie beispielsweise denen des Supported Employment und des Supported Housing oder dem Trialog und Peer Support ein besonderes Potenzial zugeschrieben, persönliches Recovery zu unterstützen [13]. Recovery ist auf das Engste mit gesellschaftlicher Teilhabe verknüpft, die spätestens mit der Ratifizierung der UN-BRK durch Deutschland im Jahre 2009 als eines der wesentlichsten Ziele in der Versorgung dieser Menschen definiert wird. In der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ wird internationale wissenschaftliche Evidenz zusammengetragen, die aufzeigt, welche Möglichkeiten sich in wissenschaftlichen Studien als wirksam erwiesen haben, die gesellschaftliche Teilhabe schwer psychisch kranker Menschen, aber auch deren Gesundheit und Gesundheitskompetenz sowie Behandlungsergebnisse durch innovative Ansätze zu verbessern. In der geplanten Neuauflage der Leitlinie werden sich die Empfehlungen zu psychosozialen Therapien und zur Förderung von Selbsthilfe stringent an den im Modell definierten Recovery-Dimensionen und ihren zugrunde liegenden Zielen, Wünschen und Bedarfen der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen orientieren.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Gühne U, Weinmann S, Riedel-Heller SG, Becker T. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Aufl. Berlin: Springer; 2019
  • 2 Gühne U, Becker T, Salize H-J. et al. Wie viele Menschen sind in Deutschland schwer psychisch krank?. Psychiat Prax 2015; 42: 415-423
  • 3 Parabiaghi A, Bonetto C, Ruggeri M. et al. Severe and persistent mental illness: a useful definition for prioritizing community-based mental health service interventions. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2006; 41: 457-463
  • 4 Gühne U, Pabst A, Kösters M. et al. Predictors of competitive employment in individuals with severe mental illness: results from an observational, cross-sectional study in Germany. J Occup Med Toxicol 2022; 17: 3
  • 5 Blank D, Brieger P, Hamann J. Rückkehr an den Arbeitsplatz nach psychischer Erkrankung – Ein Scoping Review. Psychiat Prax 2021; 48: 119-126
  • 6 Schreiter S, Fritz FD, Rössler W. et al. Wohnsituation von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen im akut-psychiatrischen Behandlungssetting in Berlin – eine querschnittliche Patientenbefragung. Psychiat Prax 2021; 48: 156-160
  • 7 Thornicroft G, Brohan E, Rose D. et al. Global pattern of experienced and anticipated discrimination against people with schizophrenia: a cross-sectional survey. Lancet 2009; 373: 408-415
  • 8 Schneider F, Erhart M, Hewer W. et al. Mortality and Medical Comorbidity in the Severely Mentally Ill. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 405-411
  • 9 Whitley R, Drake RE. Recovery: a dimensional approach. Psychiatr Serv 2010; 61: 1248-1250
  • 10 Leamy M, Bird V, Le Boutillier C. et al. Conceptual framework for personal recovery in mental health: systematic review and narrative synthesis. Br J Psychiatry 2011; 199: 445-452
  • 11 Schrank B, Amering M. „Recovery“ in der Psychiatrie. Neuropsychiatrie 2007; 21: 45-50
  • 12 Davidson L, Lawless MS, Leary F. Concepts of recovery: competing or complementary?. Curr Opin Psychiatry 2005; 18: 664-667
  • 13 Slade M, Amering M, Farkas M. et al. Uses and abuses of recovery: implementing recovery-oriented practices in mental health systems. World Psychiatry 2014; 13: 12-20

Korrespondenzadresse

Dr. rer. med. Uta Gühne
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
Philipp-Rosenthal-Straße 55
04103 Leipzig
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. Juli 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Gühne U, Weinmann S, Riedel-Heller SG, Becker T. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Aufl. Berlin: Springer; 2019
  • 2 Gühne U, Becker T, Salize H-J. et al. Wie viele Menschen sind in Deutschland schwer psychisch krank?. Psychiat Prax 2015; 42: 415-423
  • 3 Parabiaghi A, Bonetto C, Ruggeri M. et al. Severe and persistent mental illness: a useful definition for prioritizing community-based mental health service interventions. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2006; 41: 457-463
  • 4 Gühne U, Pabst A, Kösters M. et al. Predictors of competitive employment in individuals with severe mental illness: results from an observational, cross-sectional study in Germany. J Occup Med Toxicol 2022; 17: 3
  • 5 Blank D, Brieger P, Hamann J. Rückkehr an den Arbeitsplatz nach psychischer Erkrankung – Ein Scoping Review. Psychiat Prax 2021; 48: 119-126
  • 6 Schreiter S, Fritz FD, Rössler W. et al. Wohnsituation von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen im akut-psychiatrischen Behandlungssetting in Berlin – eine querschnittliche Patientenbefragung. Psychiat Prax 2021; 48: 156-160
  • 7 Thornicroft G, Brohan E, Rose D. et al. Global pattern of experienced and anticipated discrimination against people with schizophrenia: a cross-sectional survey. Lancet 2009; 373: 408-415
  • 8 Schneider F, Erhart M, Hewer W. et al. Mortality and Medical Comorbidity in the Severely Mentally Ill. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 405-411
  • 9 Whitley R, Drake RE. Recovery: a dimensional approach. Psychiatr Serv 2010; 61: 1248-1250
  • 10 Leamy M, Bird V, Le Boutillier C. et al. Conceptual framework for personal recovery in mental health: systematic review and narrative synthesis. Br J Psychiatry 2011; 199: 445-452
  • 11 Schrank B, Amering M. „Recovery“ in der Psychiatrie. Neuropsychiatrie 2007; 21: 45-50
  • 12 Davidson L, Lawless MS, Leary F. Concepts of recovery: competing or complementary?. Curr Opin Psychiatry 2005; 18: 664-667
  • 13 Slade M, Amering M, Farkas M. et al. Uses and abuses of recovery: implementing recovery-oriented practices in mental health systems. World Psychiatry 2014; 13: 12-20

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Uta Gühne
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Abb. 1 „Recovery-orientiertes Modell der psychosozialen Versorgung“.