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DOI: 10.1055/a-1994-8850
Der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland – eine Zusammenfassung nach über 25 Jahren der Anwendung des 1995 reformierten § 218 StGB
Am 1. Oktober 1995 trat das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz in Kraft, das bis heute in weitestgehend unveränderter Form die gesetzlichen Regeln für die jährlich in etwa 100000 erfassten Schwangerschaftsabbrüche vorgibt. Demnach können Frauen nach Beratung und einer 3-tägigen Bedenkzeit innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen (SSW) nach dem Beginn der letzten Periodenblutung einen solchen Abbruch straffrei durchführen lassen (§ 218a Absatz 1 StGB). Außerdem besteht die Möglichkeit, bei medizinischer Indikation nach § 218a Absatz 2 StGB sowie bei kriminologischer Indikation nach § 218a Absatz 3 StGB einen Abbruch durchführen zu lassen. Nicht nur in Anbetracht der Streichung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche (ehemaliger § 219a StGB) nimmt die Diskussion um das Abtreibungsstrafrecht, das aufgrund des schwer errungenen Kompromisses von 1995 fast ein Vierteljahrhundert lang als nahezu unantastbar galt, wieder neu an Fahrt auf: Eine von der seit Ende 2021 regierenden Koalition aus SPD, Grünen und FDP berufene Kommission soll die Regelung von Abbrüchen außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen [1]. In Anbetracht dieser sich anbahnenden Umbrüche soll im Folgenden eine Analyse der Entwicklungen rund um den Diskurs um diese nunmehr über 25 Jahre alte Regelung gegeben werden.
Publication History
Article published online:
04 May 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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