Klinische Neurophysiologie 2023; 54(02): 107-108
DOI: 10.1055/a-2060-4039
In der Praxis

Myasthenie in der neurologischen Praxis

Andreas Funke

Die Myasthenia gravis (MG) ist formal eine seltene neurologische Erkrankung. Mit einer Prävalenz von bis zu 40/100.000 tritt sie etwa 5-mal seltener auf als das idiopathische Parkinsonsyndrom oder die Multiple Sklerose, jedoch 5–10-mal häufiger als andere neurologische Erkrankungen, wie die Amyotrophe Lateralsklerose oder die chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie [1]. Die MG ist als paradigmatische Autoimmunerkrankung, paraneoplastisches Syndrom und Erkrankung, an der die neuromuskuläre Übertragung exemplarisch dargestellt werden kann, den meisten ÄrztInnen aus dem Studium bekannt. Trotzdem bestehen auch bei FachärztInnen für Neurologie große Unsicherheiten in der Diagnostik und Therapie der MG, insbesondere aufgrund der schweren Vorhersehbarkeit des Erkrankungsverlaufs, der Gefahr von Notfällen im Sinne von myasthenen Krisen und der häufig notwendigen intensiven Betreuung bei schweren Krankheitsverläufen.

In den letzten Jahren haben sich eine Vielzahl von Neuerungen in der Therapie ergeben, die die Therapielandschaft der MG verändert und 2023 zur Veröffentlichung neuer DGN-Leitlinien geführt haben [2].

Neben der typischen Anamnese und der klinischen Untersuchung ist diagnostisch die Bestimmung myastheniespezifischer Antikörper sinnvoll. Bei 90% der generalisierten Myasthenien und ca. 50% der rein okulären Fälle sind die Acetylcholinrezeptor-Antikörper AChR positiv, so dass sie Standard in der Diagnostik sein sollten. In etwa der Hälfte der AChR-negativen Fälle finden sich positive MuSK-Antikörper. Titin-Antikörper sind bei Jüngeren in der Regel Thymom-assoziiert und bei Älteren häufig unspezifisch erhöht, sodass in der Praxisroutine bei älteren Patienten die Bestimmung der AChR- und MuSK-Antikörper, bei jüngeren Patienten zusätzlich der Titin-Antikörper, sinnvoll ist. Die Bestimmung weiterer Antikörper, wie z. B. LPR4 sollte aktuell spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben, da sich aktuell keine therapeutische Konsequenz ergibt.

Neurophysiologisch ist die 3/s-Stimulation diagnostischer Standard. Dabei erfolgt die repetitive Reizung eines Nervs (üblicherweise N. facialis oder N. acessorius) und die Ableitung eines Muskelpotentials (üblicherweise M. orbicularis oculi oder M. deltoideus oder M. Trapezius) unter supramaximaler Stimulation. Bei einer Amplitudenreduktion von >8% über den Verlauf der repetitiven Reizung liegt ein pathologisches Dekrement und somit ein Hinweis auf eine MG vor. Die Aussagekraft hängt von der Erfahrung der Durchführenden und der Sorgfalt der Durchführung ab. Die Untersuchung wird im Vergleich zu anderen neurophysiologischen Untersuchungen in der Praxis seltener durchgeführt. In der Abrechnung durch den EBM ist sie nur unzureichend abgebildet. Angemessene zeitliche Ressourcen, die eine qualitativ hochwertige neurophysiologische Diagnostik ermöglichen, können so kaum geschaffen werden.

In der Praxis ist bei okulärer Beteiligung ein Eisbeuteltest möglich, bei dem die Patienten einen Eisbeutel oder ein Kühlakku auf das betroffene Auge legen. Bei Besserung der Muskelschwäche wird die Diagnose einer MG gestützt. Diesen Test können Betroffene auch bequem zu Hause durchführen. Ein Kühlakku ist in den meisten Haushalten vorhanden, zur Dokumentation eines Effekts kann die Kamera eines Smartphones genutzt werden. Aufgrund der häufig im Tagesverlauf zunehmenden klinischen Symptome wird durch die Möglichkeit einer abendlichen Durchführung die Aussagekraft des Tests erhöht.

Von einer intravenösen Applikation eines Parasympathomimetikums (Tensilontest) ist aufgrund der Gefahr interventionsbedürftiger Bradykardien mit Reanimationsnotwendigkeit klar abzuraten. Als Alternative kann bei Myasthenieverdacht die probatorische orale Gabe eines oralen Parasympathomimetikums, z. B. 3–4×30–60 mg Kalymin täglich über ein bis zwei Tage erfolgen. Der Effekt auf die myasthenen Symptome ist nicht so eindrücklich wie bei einem Tensilontest, die Durchführung jedoch sehr viel sicherer und die Aussagekraft im Fall einer Verbesserung hoch.

Jeder Patient mit einer MG sollte eine Diagnostik hinsichtlich eines möglichen Thymoms erhalten. Patienten im Alter von 18–65 Jahren mit AChR-positiver Myasthenie sollten eine rasche Thymektomie innerhalb von zwei Jahren nach Diagnosestellung erhalten. Außerhalb dieser Altersgrenzen und bei seronegativer MG sollte die Entscheidung individuell getroffen werden. Musk-AK-positive Patienten sollten nicht thymektomiert werden.

Es empfiehlt sich, die MG nach Schweregrad anhand der MGFA (Myasthenia gravis Foundation of America)-Klassifikation zu kategorisieren. Dabei wird zwischen rein okulärer Form, Generalisierung, Schweregrad und Notwendigkeit von unterstützender Ernährung bzw. Beatmung unterschieden. Die Einteilung ist in der Praxis ungenau und lässt subjektiven Spielraum. Allerdings ist die MGFA-Klassifikation Grundlage für die Entscheidung über das therapeutische Vorgehen. Aufgrund der wachsenden Zahl zugelassener Medikamente mit sehr hohen Therapiekosten ist eine Klassifikation des Schwergrades der MG daher aktuell unerlässlich.

Klinische Verlaufs- und Schweregrad-Scores, wie der klassische Besinger-Score und der quantitative MG-Score (QMG) sind aufgrund des hohen Zeitbedarfs in der Durchführung und wegen des Einfließens der Vitalkapazität in den Summenscore für eine neurologische Praxis nicht praktikabel. Allerdings ist in den neuen Leitlinien ein Paradigmenwechsel hin zur Evaluation der Lebensqualität der Patienten zur Erfassung des Therapieerfolges zu sehen, so dass sich als Werkzeug für die Erfassung des Therapieerfolgs Fragebögen, wie der durch den Patienten selbst auszufüllende MG-QoL15 mit 15 Fragen und der MG-ADL-Fragebogen, bei der die Patienten selbst (unter Umständen mit Unterstützung durch die MfA in der Praxis) ihre Symptome erfassen, eignet.

Die Therapie der MG ist bei leichten Verlaufsformen unproblematisch, stellt sich jedoch bei schweren und instabilen Verläufen oft als für Behandler und Patienten belastend dar.

Die symptomatische Therapie besteht aus der Gabe von Pyridostigmin, einem indirekten Parasympathikomimetikum, welches den Abbau des Acetylcholins hemmt. Die mögliche Höchstdosis von ca. 700 mg täglich wird aufgrund von Nebenwirkungen nur selten erreicht. Besonders zu erwähnen ist hier Diarrhoe, die von den Patienten oft als belastend empfunden wird. Weitere cholinerge Nebenwirkungen wie Hypersalivation, Bradykardie, Miosis sind ebenfalls möglich. Auch Albträume und Wesensveränderungen werden berichtet. Die immunmodulatorische Basistherapie besteht aus der Gabe von Prednisolon. Aufgrund der gelegentlich auftretenden initialen Verschlechterung myasthener Symptome bei Therapieinitiierung empfiehlt sich ein Therapiebeginn mit 10–20 mg Prednisolon täglich mit einer schrittweisen Steigerung um 5–10 mg tgl. bis zum Erreichen einer Remission der myasthenen Symptome. Anschließend sollte eine Reduktion der Prednisolondosis bis zur minimalen Dosis, die eine Remission gewährleistet, erfolgen. Ein Effekt ist häufig erst nach mehreren Wochen zu beurteilen, die Medikation ist oft über längere Zeiträume notwendig.

Limitierend sind die unerwünschten Wirkungen einer Cortisontherapie, die aufgrund der oft lange bestehenden Therapienotwendigkeit von großer Bedeutung sind. Die ambulante Eindosierung mit Prednisolon sollte leichteren Verläufen vorbehalten sein, bei schweren Verläufen und hoher Symptomdynamik ist eine stationäre Therapie indiziert.

Immunsuppressivum der ersten Wahl mit einer Zulassung für die Therapie der MG ist Azathioprin, welches als Purinanalogon die DNA-Synthese hemmt. Durch diesen Wirkmechanismus ist mit dem Eintreten eines klinischen Effekts der Therapie erst nach etwa 6–12 Monaten zu rechnen. Insbesondere bei generalisierten Verläufen mit hoher Beeinträchtigung ist diese Latenz für die Patienten nur schwer zu akzeptieren. Weiterhin nötig sind häufige Praxisbesuche durch die notwendigen Blutbildkontrollen. Bei Nebenwirkungen oder Therapieversagen kann ein Wechsel auf Myocphenolat, Mofetil oder Methotrexat erfolgen. Auch hier ist mit einer ähnlichen Dauer bis zum Ansprechen auf die Therapie wie bei Azathioprin zu rechnen. In der Praxis ist Methotrexat eine Therapieoption, allerdings haben Studien bisher keine Hinweise auf einen signifikanten Nutzen ergeben, wobei festzuhalten ist, dass die Studienlage zur Therapie für alle etablierten Therapien sehr dürftig ist [3].

In den letzten Jahren hat sich die Therapielandschaft der MG deutlich verändert.

Seit 2017 existiert mit Eculizumab eine spezifische und rasch wirksame Therapie. Eculizumab ist ein monoklonaler Antikörper gegen das Protein C5 des Komplementsystems und wird bei therapierefraktärer generalisierter MG im Zweiwochenturnus intravenös appliziert. Die Verträglichkeit der Substanz ist hoch, jedoch liegen die jährlichen Therapiekosten im mittleren sechsstelligen Bereich. Die Definition einer therapierefraktären MG war bislang eher unscharf und es existierten keine klaren Algorithmen zur Therapieentscheidung. Dadurch wurde Eculizumab in der Niederlassung nur selten eingesetzt.

Diesem Problem wird mit den neuen Leitlinien Rechnung getragen, indem klar definiert wird, welche Patientengruppen für die neuen Therapien in Frage kommen. Als hochaktiv und somit für die neuen Therapien geeignet gelten Patienten mit einem MGFA-Score von größer und gleich IIa mit mindestens zwei myasthenen Krisen innerhalb eines Jahres nach Diagnosestellung, die eine Intervention mit Immunglobulinen, Plasmapherese oder Immunadsorbtion notwendig machen oder eine Krise unter ausreichender Standardtherapie oder eine fehlende ausreichende Symptomkontrolle für 2 Jahre trotz adäquater Basistherapie. In diesem Fall wäre leitliniengerecht eine Therapie mit einem komplementinaktivierenden Antikörper möglich, wobei seit 2022 Ravulizumab als Weiterentwicklung des Eculizumab mit deutlich längeren Intervallen zwischen den Therapiezyklen zur Verfügung steht. Weiterhin ist ebenfalls seit 2022 mit Efgartigimod ein Antikörperfragment, welches IgG bindet, für die Therapie der hochaktiven MG zugelassen. Gemeinsam ist diesen Präparaten die rasche Wirksamkeit bei einer insgesamt guten Verträglichkeit und relativ unkomplizierte Verabreichung. Es handelt sich jedoch um Medikamente mit sehr hohen Therapiekosten.

Aufgrund der hohen Beeinträchtigung der Patienten bei generalisierter MG und aufgrund der oft unbefriedigenden medikamentösen Standardtherapie ist jedoch zu erwarten, dass diese Präparate einen festen Platz in der MG-Therapie einnehmen werden, nicht zuletzt auch wegen des raschen Wirkeintritts. Weiterhin befinden sich etliche neue Substanzen in der klinischen Prüfung, so dass zu erwarten ist, dass sich die Landschaft der Myastheniebehandlung auch in Zukunft weiter verändern wird.

Zusammengefasst kann die Diagnostik und Therapie von Patienten mit MG gut in einer neurologischen Praxis erfolgen und sollte keine Bedenken verursachen. Eine Zusammenarbeit mit einem spezialisierten Zentrum ist aufgrund der Besonderheiten im Erkrankungsverlauf und in der Therapie sinnvoll.



Publication History

Article published online:
31 May 2023

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  • Literatur

  • 1 Mevius A, Jöres L, Biskup J. et al. Epidemiology and treatment of myasthenia gravis: a retrospective study using a large insurance claims dataset in Germany. Neuromuscul Disord 2023; 33: 324-333
  • 2 Wiendl H., Meisel A. et al. Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie, 2022, DGN, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 12.03.2023)
  • 3 Verschuuren JJ, Palace J, Murai H. et al. Advances and ongoing research in the treatment of autoimmune neuromuscular junction disorders. Lancet Neurol 2022; 21: 189-202