CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen
DOI: 10.1055/a-2342-4453
Review

ICD-11 Einführung in Deutschland: Gemeinsam die Chance nutzen

Article in several languages: English | deutsch
Karl Broich
1   Leitung, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn, Germany
,
Johanna Callhoff
2   Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Programmbereich Epidemiologie & Versorgungsforschung, Arbeitsgruppe Versorgungsforschung, Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin, Ein Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Berlin, Germany
3   Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
4   Market Access, Idorsia Pharmaceuticals Germany GmbH, München, Germany
,
Christoph Kowalski
5   Zertifizierung, Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Berlin, Germany
,
Jürgen Malzahn
6   Geschäftsbereich Versorgung, Abteilung Stationäre Versorgung & Rehabilitation, AOK Bundesverband, Berlin, Germany
,
Christine Mundlos
7   Wissensnetzwerk und Beratung, Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V., Berlin, Germany
,
Christoph Schöbel
8   Schlafmedizinischen Zentrum, Ruhrlandklinik, Westdeutsches Lungenzentrum am Universitätsklinikum Essen gGmbH, Universitätsmedizin Essen, Essen, Germany
› Author Affiliations
Fundref Information Idorsia Pharmaceuticals Germany GmbH — n/a
 

Zusammenfassung

Mit der von der WHO erarbeiteten und für Deutschland durch das BfArM in deutscher Übersetzung bereitgestellten neuen ICD-11 steht dem Gesundheitssystem eine Umstellung bevor, die mehr ist als ein einfacher Wechsel eines medizinischen Kodiersystems. Die ICD-11 modernisiert die Kodiersystematik zum Beispiel dahingehend, dass neue, separate Gesundheitszustände – Schlaf-Wach-Störungen und Bedingungen im Zusammenhang mit sexueller Gesundheit – aufgenommen und die entsprechenden Erkrankungen damit besser sichtbar werden. Die ICD-11 ist präziser als die ICD-10: Sie erlaubt Querverbindungen zwischen Diagnosen, Symptomen, Funktionen und Lokalisationen und gibt die strenge Hierarchisierung der ICD-10 in Teilen auf. Außerdem werden mehr Seltene Erkrankungen mit einem eigenen, spezifischen Code abgebildet als dies bisher der ICD-10 ermöglicht hat. Schließlich ist die ICD-11 auch deutlich „moderner“ als die (noch aus vordigitalen Zeiten stammende) ICD-10. Sie ist insofern moderner, als sie neue, digital unterstützbare Prozesse ermöglicht, zum einen soweit es die Aktualisierung der Systematik – Stichworte Flexibilität und Nachhaltigkeit – betrifft, zum anderen in Bezug auf das eigentliche Kodieren am Point-of-Care. Der Umstieg auf die ICD-11 kann für das deutsche Gesundheitswesen eine große Chance sein, die gemeinsam ergriffen werden sollte. Profitieren wird die (Versorgungs-)Forschung, die im besten Fall mit sehr viel detaillierteren und korrekteren Datensätzen arbeiten kann. Aber auch die medizinische Versorgung hat einen Nutzen, weil die ICD-11 den aktuellen Stand des medizinischen Wissens abbildet. Außerdem werden bestimmte Erkrankungsentitäten aus dem bisherigen psychiatrischen Kontext herauslöst, die Betroffenen somit nicht mehr über die Zuordnung in der ICD stigmatisiert werden, und weil mit der besseren Kodierbarkeit von Diagnosen letztlich auch die Voraussetzungen für leitlinienbasierte Therapien verbessert werden. Ein Selbstläufer wird der Umstieg aber nicht. Als Herausforderungen – auch für die Versorgungsforschung – sind insbesondere die Latenz von Einführung und gleichförmiger Nutzung sowie die erforderliche Änderung von Kodiergewohnheiten zu nennen. Damit die ICD-11 in Deutschland ein Erfolg wird, müssen daher alle Anwendungsfelder gemeinsam an der Einführung arbeiten. Behörden, Ärzteschaft, Kostenträger und Betroffene müssen gemeinschaftlich über Strategien nachdenken, wie eine nicht nur zügige, sondern auch umfassende Einführung gelingt, mit der sich die Potenziale, die in der ICD-11 stecken, bestmöglich heben lassen.


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Von der ICD-10 zur ICD-11

Die internationale Klassifikation der Krankheiten, die ICD, ist die zentrale Referenzklassifikation in der Familie internationaler Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [1] . Durch sie wird die Erfassung von Erkrankungen unabhängig von der jeweiligen Landessprache möglich. Die ICD ist in vielen Ländern ein zentraler Pfeiler von Abrechnungssystemen. Sie kommt im Rahmen von Pharmakovigilanz und Qualitätssicherung zum Einsatz. Sie bildet die Grundlage für Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken auf vielen verschiedenen Ebenen. Sie dient der Versorgungssteuerung. Und sie ermöglicht Vergleiche von Morbiditäts- und Mortalitätsdaten über Einrichtungen, Regionen, Länder und historische Zeiträume hinweg.

Weltweit genutzt wurde für all diese Zwecke in den letzten Jahrzehnten die ICD-10, die Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts verabschiedet wurde. Sie hatte ihre Stärken, weil sie im Vergleich zur Vorversion umfassender war, zeigte zuletzt aber auch immer deutlicher ihre erheblichen Schwächen [2] . Sie ist nicht im digitalen Umfeld entwickelt worden, so dass sie nicht die vollen Möglichkeiten eines modernen Kodiersystems ausschöpft. Grundlegende Änderungen an der internationalen Version sind kaum mehr möglich, denn die WHO hat die Weiterentwicklung nur noch für Notfallkodes (wie z. B. zu Covid-19) vorgesehen. International ist die unkoordinierte, nicht regelkonforme Erweiterung des ICD-10-Katalogs durch einzelne Nationen ein weiteres Problem, da dies die internationale Vergleichbarkeit von ICD-kodierten Daten beeinträchtigt.

Die ICD-11 [3] tritt an, diese Defizite zu beseitigen. Es gehe um nichts weniger als einen „Reset des Systems“, so die WHO im Jahr 2018 [2] . Die ICD-11 ist angelegt als relationale Datenbank, die einerseits, wie gehabt, eine hierarchische Kodierung ermöglicht, andererseits aber vielfältige Bezüge zwischen Erkrankungen, Symptomen, Funktionen und Körperstellen abbilden kann (siehe Infokasten). Dabei kann ein Element – anders als in der ICD-10 – mehreren übergeordneten Elementen zugeordnet sein.


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Infokasten: Die ICD-11 als agiles, lernendes System mit ontologischer Infrastruktur [4]

  • Wenige Stammkodes und viele Erweiterungskodes ermöglichen genaue Kodierung via digitaler Erfassung

  • Foundation: Standardisierte Basis, die gemeinsam weiterentwickelt werden soll und aktuelle medizinische und kulturelle Entwicklungen aufnehmen kann

    • Hierarchische Gliederung in Medizinische Einheiten (mehrdimensional, also Krankheiten, Störungen, Verletzungen, äußere Ursachen, Anzeichen und Symptome), die optional mit Attributen (Körperstelle, Körpersystem und Kausalmechanismus) weiter definiert werden können

    • Ein Element kann mehreren übergeordneten Elementen zugeordnet sein (multi-parenting)

    • Komplett elektronisch, Aktualisierung in Echtzeit

  • Linearisierung : Auszüge als statistische Klassifikation mit klarer hierarchischer Baumstruktur für die Kodierung (single-parenting)

    • Jährliche Aktualisierung


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Ziele und Neuerungen der ICD-11

Bei den Zielen der ICD-11 muss zwischen formalen/

prozessualen und medizinischen/inhaltlichen Zielen unterschieden werden. Formal und prozessual zielt die WHO u. a. darauf [5] [6] ,

  • Die digitalen Möglichkeiten vom Point-of-Care bis zur statistischen Auswertung von Daten zu nutzen, um ein flexibleres und langlebigeres Klassifikationssystem zu erreichen, inklusive jährlicher Updates, wobei die etablierten Prozesse und Erfahrungen mit den jährlichen Aktualisierungen der ICD-10 ausgebaut und für Eingaben durch die breite Öffentlichkeit ergänzt wurden.

  • Die Nutzung digitaler Tools zur Unterstützung der Kodierung im Alltag zu ermöglichen,

  • Die Datenqualität zu verbessern,

  • Die internationale Vergleichbarkeit zu verbessern und

  • Die ICD-11 robuster und anpassungsfähiger zu machen, so dass keine nationalen Erweiterungen mehr nötig werden bzw. innerhalb der ICD-11 Foundation erfolgen können.

Inhaltlich und medizinisch erfolgte in der ICD-11 die Aufteilung des bisherigen Kapitel 3 des ICD-10 „Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems“ in Kapitel 3 „Krankheiten des Blutes oder der blutbildenden Organe“ sowie Kapitel 4 „Krankheiten des Immunsystems“ [7] . Besonders hervorzuheben ist jedoch die Erweiterung um zwei völlig neue Kapitel. Hierbei handelt es sich zum einen um das Kapitel 7 „Schlaf-Wach-Störungen“, was zur Folge hat, dass eine Schlaf-Wach-Störung nicht mehr als Symptom klassifiziert wird ( [Abb. 1] ) [7] .

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Abb. 1 Insomnie in der ICD-10 German Modification (-GM) sowie ICD-11 (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] ).

Zum anderen handelt es sich um das Kapitel 17 „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ einschließlich der Geschlechtsinkongruenz [7] .

Mit diesen Kapiteln erhalten Gesundheitszustände eine klassifikatorische Eigenständigkeit, die in der ICD-10 bisher den psychischen, so genannten F-Diagnosen zugeordnet wurden. Zu erwähnen ist auch die in der ICD-11 aufgenommene komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD). Diese beschreibt ein komplexeres Symptombild und wird häufig mit wiederholten oder langanhaltenden Traumata in Verbindung gebracht, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann, wie z. B. Folter, langanhaltende häusliche Gewalt oder wiederholter körperlicher oder sexueller Missbrauch in der Kindheit, sowie die chronischen Schmerzsyndrome, die erstmals in einem Kapitel (MG30) zusammengefasst worden sind ( [Abb. 2] ) [7] [9] [10] .

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Abb. 2 Chronische Schmerzsyndrome in der ICD-10 German Modification (-GM) sowie ICD-11 (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] ).

Neu sind ferner das Kapitel 26 „Ergänzendes Kapitel für Zustände der Traditionellen Medizin“ sowie Kapitel V „Ergänzender Abschnitt für die Einschätzung der Funktionsfähigkeit“ [7] . Um hier eine Übereinstimmung mit der ICF, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit zu gewährleisten, wurde die ICF in die ICD-11 Maintenance Plattform übernommen (für Beispiel Intentionale Kommunikation, siehe [Abb. 3] ) [11] .

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Abb. 3 Umsetzung der Verlinkung mit anderen Kodierungssystemen in der ICD-11 (vs. ICD-10 und ICF) am Beispiel Intentionale Kommunikation (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] [11] [12] [13] ).

Ebenfalls neu ist das Kapitel X „Zusatzkodes“. Mit den Zusatzkodes können Stammkodes der ICD-11 detaillierter beschrieben werden – zum Beispiel hinsichtlich der anatomischen Lokalisation. Es ist auch möglich, dem Stammcode assoziierte Informationen – zum Beispiel über Folgeerkrankungen – anzufügen. Die ICD-11 ist hinsichtlich ihrer diagnostischen Breite ideal für den fachärztlichen Bereich. Wichtig ist ihre Interoperabilität zu den medizinischen Terminologien in der Klinik wie SNOMED CT (siehe Beispiel Aortenaneurysma, [Abb. 4] ) [14] sowie der Primärversorgung (ICPC-3) [15] .

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Abb. 4 Beispiel Aortenaneurysma aus SNOMED CT – ICD-11 Harmonisierung, (Abb. basiert auf Daten aus [7] [16] ). Das SNOMED CT-Konzept „Aneurysma der thorakalen Aorta“ ist mit dem ICD11-Kode BD50.3Z abgeglichen („Aneurysma der Aorta thoracica, nicht näher bezeichnet“).

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Stand der Implementierung in Deutschland

Die ICD-11 ist formal seit dem 1. Januar 2022 einsetzbar, auch in Deutschland. Bis sie in der Versorgung ankommt, wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Eine wichtige Deadline für die Implementierung der ICD-11 nicht nur in Deutschland, ist das Jahr 2027: Ab dann sollten Todesfälle ICD-11-kodiert an die WHO übermittelt werden. In Deutschland gibt es die ICD-11 seit Februar 2022 als deutsche Übersetzung [7] . Der Erstübersetzungsprozess ist weitgehend abgeschlossen ( [Abb. 5] ), die Qualitätssicherung durch die wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften läuft noch weiter.

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Abb. 5 Stand der Übersetzung der ICD-11 ins Deutsche.

Für einen möglichst reibungsfreien Umstieg auf die ICD-11 hat eine vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Umstiegsanalyse stattgefunden, deren Ergebnisse aktuell in der AG ICD-11 des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) beraten werden. Zentrale Empfehlungen für die jetzt anstehende Umstiegsplanung sind

  • Die Verfügbarkeit der ICD-11 auf Deutsch zu gewährleisten,

  • Eine bidirektionale Überleitung zwischen ICD-10-GM und ICD-11 zu erstellen,

  • Weitere spezifische Umstiegsanalysen und prospektive Studien zu initiieren und

  • Eine Roadmap zur Einführung der ICD-11 in Deutschland zu erstellen.


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Chancen der ICD-11 aus Sicht von Forschung und Industrie

Die Fortschritte, die die ICD-11 für die Versorgungsforschung potenziell bringen kann, lassen sich am besten mit Beispielen illustrieren. Eine typische Versorgungsforschungsfrage im Bereich der Rheumatologie lautet: „Wie genau ist die medikamentöse Versorgung bei Rheumatoider Arthritis (RA) in der Population der GKV-Versicherten?“ Für diese Frage ist es u. a. wichtig, zu unterscheiden, ob es sich um eine seropositive oder seronegative RA handelt bzw. ob der Serostatus überhaupt bekannt ist. Es wäre interessant, zu wissen, wie sich die Medikation im Hinblick auf unterschiedliche Manifestationsorte der RA gestaltet und ob und wie sie mit Folgeerkrankungen der RA zusammenhängt. Die Möglichkeiten, die die ICD-10 für diese Analysen bietet, sind begrenzt. Zum einen kennt die ICD-10 zwar die seropositive chronische Polyarthritis, die seronegative RA taucht jedoch erst viel später in der Hierarchie und nur als Unterpunkt der 'sonstigen chronischen Polyarthritis' auf [8] . Im Alltag wird sie daher kaum kodiert [17] . Die ICD-11 bietet hier eine klarere Struktur und ermöglicht es zudem, mit Hilfe von X-Kodes die Lokalisation zu spezifizieren und mit Hilfe eines Schrägstrichs Begleiterkrankungen zu verknüpfen, die als assoziiert mit der RA anzusehen sind [7] . So beschreibt der ICD-11-Kode FA20.0&XA86T5 eine seropositive RA, bei der die Metacarpophalangeal-Gelenke betroffen sind. Und FA20.0&XA86T5/CB05.1 würde signalisieren, dass zusätzlich eine mit der RA assoziierte, interstitielle Lungenerkrankung vorliegt. Die ICD-10 würde die Kodierung einer interstitiellen Lungenerkrankung dagegen nur als parallelen Kode erlauben, ohne dass die ursächliche Verknüpfung mit der RA transparent würde [8] .

Das Beispiel zeigt, dass die ICD-11 eine Kodierung auf einer Detailebene erlaubt, die für die Versorgungsforschung einen gewaltigen Schritt nach vorn bedeuten würde. Es zeigt aber auch, wie komplex die ICD-11 sein kann und wie groß entsprechend der Bedarf nach Lösungen ist, die die Anwenderkreise in den behandelnden Einrichtungen bei der Dokumentation am Point-of-Care – gerade auch in digitaler Form – unterstützen. Eine Anwendung der ICD-11 kann praktisch nur noch im Rahmen digitaler Anwendungen empfohlen werden. Aber genau hierfür wurde dir ICD-11 ja auch entwickelt.

Aus Sicht der Gesundheitsindustrie stellen sich die Vorteile der ICD-11 im Vergleich zur ICD-10 ähnlich dar wie aus Sicht der Versorgungsforschung. Relevante Fragestellungen für Arzneimittelentwicklung und Arzneimittelvertrieb sind zumindest bei einigen Erkrankungen auf Basis von ICD-10-Daten bzw. konventionellen Abrechnungsdaten kaum zu beantworten. So ließ sich beispielsweise bei Erwachsenen mit Lungenkrebs auf Basis von deutschen Krankenkassendatensätzen in lediglich 25% der Fälle eindeutig klären, ob es sich um ein kleinzelliges oder nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom handelte, und diese Quote wurde auch nur erreicht, wenn zusätzlich zur ICD-10-Kodierung noch die Medikation ausgewertet wurde [18] . Zudem würde eine ICD-11-basierte Kodierung die Evidenzgrundlage für die Berechnung der Gesamtzahl der Betroffenen im AMNOG transparent und nachvollziehbar machen und die Planbarkeit erheblich verbessern helfen.


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Chancen aus Sicht der medizinischen Versorgung

Nicht nur die Forschung profitiert von der ICD-11, sondern auch die unmittelbare Versorgung der Betroffenen. Ein wichtiger Fortschritt sind hier die beiden neu aufgenommenen Kapitel „Schlaf-Wach-Störungen“ und „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“. Es ist vielen nicht bewusst, aber Klassifikationen können einen sehr unmittelbaren Einfluss darauf haben, wie bestimmte Erkrankungen in einem Versorgungsystem wahrgenommen werden. Im Fall der Schlaf-Wach-Störungen und der Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit führte das bisher dazu, dass Erkrankungen aus diesen Bereichen häufig nicht die Beachtung erfahren, die sie verdienen.

Verdeutlichen lässt sich dies an der Insomnie, einer Erkrankung, die rund 6% der erwachsenen Bevölkerung betrifft [19] [20] . Die chronische Form dieser Erkrankung, die chronische Insomnie, ist charakterisiert durch Einschlaf- und/oder Durchschlafstörungen mindestens dreimal pro Woche über mindestens drei Monate, die mit einem signifikanten Leidensdruck und/oder Beeinträchtigung am Tag einhergehen. Die Klassifizierung der Insomnie als eigenständige Erkrankung erfolgte erstmals im DSM-5 (engl. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) im Jahre 2013 [21] [22] und wurde in der ICSD-3 (International Classification of Sleep Disorders) übernommen [23] . Davor galt die Insomnie nicht als eigene Erkrankung, sondern wurde größtenteils als Symptom anderer Erkrankungen gesehen oder als Befindlichkeitsstörung abgetan. In der ICD-10 werden Kurzzeitinsomnien im Kapitel VI „Krankheiten des Nervensystems“ als „Episodische und paroxysmale Krankheiten des Nervensystems“ abgebildet. Hingegen wird die chronische Insomnie, wie andere Schlafstörungen, im Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ eingruppiert. Entsprechend erhalten Patienten bei der Kodierung eine F-Diagnose, konkret F51.0 „Nichtorganische Schlafstörung“ ( [Abb. 1] ) [8] .

Diese Eingruppierung als F-Diagnose ist deswegen problematisch, weil mit ihr eine Stigmatisierung der Betroffenen als „psychisch erkrankt“ einhergeht. Die Folge von Angst vor Stigmatisierung ist, dass die chronische Insomnie im Zweifel gar nicht erst kodiert wird. Dass das tatsächlich passiert, illustriert der Gesundheitsreport der Krankenkasse Barmer aus dem Jahr 2019 [24] . Dort konstatieren die Forschenden eine starke Divergenz zwischen der Häufigkeit berichteter Schlafprobleme und der tatsächlichen Dokumentation dieser Probleme in Form einer ärztlichen F51.0-Diagnose: Nur etwa jede vierte Person, die über relevante Ein- und Durchschlafstörungen berichtete, hatte in dieser Untersuchung auch eine ärztliche Diagnose erhalten [24] . Ob aber neue Systematik mit eigenständigem Kapitel „Schlaf-Wach-Störungen“ eine Verhaltensänderung katalysieren hilft, wird nur die Zeit zeigen können.

Das ist wissenschaftlich unbefriedigend, weil die chronische Insomnie dadurch in Statistiken systematisch unterrepräsentiert ist. Es ist aber auch aus Versorgungssicht hochproblematisch, weil nur bei adäquater Kodierbarkeit eine formale Diagnose vorliegt, auf deren Basis dann geeignete und vor allem erstattungsfähige Therapien eingeleitet werden können. Die ICD-11 wird bei chronischen Insomnien also zu mehr Sichtbarkeit und auf diesem Weg indirekt zu einer besseren Therapierbarkeit beitragen. Analoges gilt für die Gendermedizin [25] , die Missbrauchsproblematik [9] [10] , aber auch die Schmerzmedizin [26] .


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Die Perspektive der Betroffenen

Das Beispiel der chronischen Insomnie zeigt, dass Kodierung nicht nur ein abstraktes Abrechnungs- und Versorgungsforschungsthema ist, sondern unmittelbare Relevanz für Menschen mit Erkrankungen und deren Umfeld, also die Betroffenen besitzen kann. Ein anderes Beispiel, anhand dessen sich das verdeutlichen lässt, sind die derzeit rund 8000 bekannten Seltenen Erkrankungen, von denen in der ICD-10 lediglich etwa 500 als eigene Kodes abgebildet sind [8] . Auch hier wird die ICD-11 zu größerer Sichtbarkeit führen [7] [27] [28] , allein schon dadurch, dass – auch bedingt durch die vorgesehenen regelmäßigen Aktualisierungen – mehr Erkrankungen künftig kodierbar werden, damit zum einen in den allgemeinen Statistiken erscheinen, zum anderen besser für Versorgungsforschung zugänglich werden.

Speziell bei Seltenen Erkrankungen geht es aber nicht nur um Sichtbarkeit, sondern auch um patientenrelevante Aspekte wie eine zeitnahe, akkurate Diagnosestellung und eine bedarfsgerechte, therapeutische und pflegerische Versorgung auf unterschiedlichen Ebenen. Im unmittelbaren Versorgungskontext ist dabei oft gar nicht so sehr die ICD-Diagnose relevant als vielmehr eine adäquate Aufarbeitung von, je nach diagnostischem oder therapeutischem Kontext, Symptomen und/oder Funktionseinschränkungen. Daher sieht der 2013 durch das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) veröffentlichte Nationale Aktionsplan als Maßnahme 19 die Kodierung Seltener Erkrankungen mittels Orpha-Kennnummern vor und als Maßnahme 20 ein webbasiertes Diagnosetool für Primärversorger. Hieran schloss sich von 2013 bis 2019 ein nationales Projekt „Kodierung von Seltenen Erkrankungen“ an, in dem der nicht-klassifizierende Diagnosekode Alpha-ID, der 2005 basierend auf der ICD-10 in Deutschland eingeführt worden war [29] , um Orpha-Kennnummern ergänzt wurde. 2019 entschied der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit Beschluss zu den Zuschüssen für Zentren für Seltene Erkrankungen [30] , dass die Kodierung mit Alpha-ID und Orphakode (Alpha-ID-SE) [31] eine Qualitätsanforderung ist. Mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz [32] wurde dann die Alpha-ID-SE Kodierung stationär ab 2023 verpflichtend. Dies ist ein großer Erfolg für den Bereich der Seltenen Erkrankungen. Allerdings besteht weiterhin keine Verpflichtung zum Kodieren im ambulanten Bereich, und auch in den Kliniken ist die Medizinische Dokumentation und das Kodieren nicht miteinander gekoppelt, was eine sehr heterogene Struktur zur Folge hat. Erschwerend kommt hinzu, dass Kliniken unterschiedliche Software für einzelne Komponenten (z. B. patient administration system/ clinical workplace system/ medical coding software) benutzen, und dass die bisherige ICD-10-GM [8] weiterhin als Grundlage für die Abrechnung mittels German Diagnostic Related Groups (G-DRGs) [33] und statistische Zwecke dient. Auch handelt es sich bei der Alpha-ID um ein nationales, paralleles System zur ICD, das ständig erweitert werden muss. Die Erkenntnisse aus der Alpha-ID-SE [31] Einführung im stationären Bereich können aber als Testlauf für die Umstellung vom ICD-10 auf ICD-11 in Deutschland für den Bereich der Seltenen Erkrankungen gelten. Ein Kodierungssystem wie die ICD-11, das Seltene Erkrankungen einerseits weit umfassender abbildet als die ICD-10 und andererseits eine bessere Verknüpfung von Symptomen, Diagnosen, Funktion und Begleiterkrankungen ermöglicht, und zudem Grundlage sein kann für Tools zur symptombezogenen Diagnoseunterstützung oder auch Software-Lösungen, die therapeutische Pfade digital umsetzen, ist daher von großem Wert. Die Erwartung an die ICD-11 ist, dass sich diese künftig leichter in unterschiedliche Versorgungskontexte implementieren lässt. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Seltenen Erkrankungen ist hier die Weiterentwicklung der Kodierung in die Primärversorgung. Denn es ist die Versorgung vor Ort, die den Weg zu den derzeit 35 Zentren für Seltene Erkrankungen mit ihren Spezialambulanzen bahnen muss und die im Verlauf bei der Koordination der Versorgung eine wichtige Rolle einnimmt. Daher erscheint die Umstellung auf ein einheitliches, standardisiertes System über die Sektorengrenzen hinweg geboten. Diese Chance bietet die ICD-11.


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Die Perspektive der Kostenträger

Aus Kostenträgersicht ist die Migration aus einer ICD-10-Welt in eine ICD-11-Welt nicht zuletzt deswegen eine große Herausforderung, weil ICD-Kodes im deutschen Gesundheitswesen in großem Umfang für Zwecke der Steuerung und der Vergütung genutzt werden. Am offensichtlichsten und bekanntesten ist das bei der stationären Abrechnung über G-DRGs, die sich praktisch komplett auf die ICD-Kodierung verlässt [33] . Weniger präsent in der öffentlichen Wahrnehmung ist, dass ICD-kodierte Erkrankungen auch dem Risikostrukturausgleich der Krankenkassen im Gesundheitsfonds [34] zugrunde liegen. Entsprechend führen Veränderungen bei der Kodierung unter Umständen zu relevanten Verlagerungen von Geldströmen auf unterschiedlichen Ebenen, mit denen das System dann umgehen muss - nicht unlösbar, aber im Hinblick auf Umstiegsplanungen und ICD-11-Roadmaps frühzeitig zu beachten.

Die große Chance der ICD-11 aus Sicht der Kostenträger liegt in den besseren Differenzierungsmöglichkeiten in vielen Bereichen: Eine genauere Kodierung erleichtert nicht nur, wie oben gesehen, die Versorgungsforschung, sondern natürlich auch die Ressourcenallokation und Ausgabensteuerung mit dem Ziel einer verbesserten Versorgung über die Sektoren hinweg. Gleichzeitig liegt hier aber auch eines der größten Risiken: Die Potenziale der ICD-11 werden ungenutzt bleiben, wenn es nicht gelingt, eine Kodierung in der nötigen Qualität und Tiefe auch wirklich zu erreichen. Anreize für die Anwendenden, und insbesondere ärztliche Fachpersonen, sich mit der ICD-11 intensiv zu befassen, fehlen derzeit. Im ungünstigsten Fall droht bei einem schlecht exekutierten Umstieg sogar eine Verschlechterung der Kodierungsqualität mit dann erheblichen Folgen an vielen Stellen des Systems. Dem gilt es, aktiv und mittels digitaler Hilfen entgegenzusteuern.


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Einige Handlungsfelder

Klar scheint, dass es angesichts der Komplexität des Übergangs von einem alten auf ein neues Klassifikationssystem ratsam ist, sich frühzeitig mit den Herausforderungen einer solchen Migration zu befassen. Es gilt, mögliche Hindernisse zu identifizieren, die zu Verzögerungen bei der Implementierung der ICD-11 führen könnten. Die Potenziale der ICD-11 können nur genutzt werden, wenn die Umstellung zu einer detaillierteren, qualitativ hochwertigeren Dokumentationsqualität führt. Als Herausforderungen – auch für die Versorgungsforschung – sind insbesondere die Latenz von Einführung und gleichförmiger Nutzung sowie die erforderliche Änderung von Kodiergewohnheiten zu sehen. Es ist zu fragen, wie die ICD-11 und somit die gezieltere Kodierung zu einer besseren Versorgung über die Sektoren hinweg beitragen kann, denn bei den wenigen Erkrankungen, bei denen auch schon in der ICD-10 eine Verschlüsselung der Erkrankungsschwere möglich ist (z. B. Stadium gemäß der New York Heart Association (NYHA) bei Herzinsuffizienz oder Stadium der Niereninsuffizienz), wird diese im ambulanten Bereich in weniger als der Hälfte der Fälle genutzt [35] . Stattdessen wird oft ‚nicht näher klassifiziert‘ kodiert. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass im ambulanten Bereich – im Gegensatz zum Krankenhaus [33] – keine Verknüpfung der ICD-Kodierung mit der Vergütung besteht.

Daher sollen abschließend einige Handlungsfelder skizziert werden, die zu bearbeiten bzw. intensiver zu diskutieren ratsam erscheint. Damit sollte jetzt begonnen werden, auch wenn die geforderte Implementierung für Mortalität qua WHO-Assembly-Beschluss bis 2027 im Moment noch hinreichend weit entfernt erscheinen mag. Wie in vielen anderen Bereichen wird sich vorausschauendes Handeln auch hier auszahlen und es wird helfen, in einem derzeit ohnehin dynamischen regulatorischen Umfeld zeit- und kostenintensive Schleifen zu vermeiden.

  • Gemeinsames Verständnis bei allen Akteuren herstellen

    Im Idealfall verständigen sich alle Akteure des Gesundheitswesens darauf, den Umstieg auf die ICD-11 dazu zu nutzen, die Dokumentation im deutschen Gesundheitswesen nachhaltig voranzubringen. Auch die ambulante Versorgung, sowie die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung (ASV) sind hier einzubeziehen. Dass eine solche Verständigung gelingt, ist keineswegs selbstverständlich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die sogenannte ‚Krokodilbiss-Debatte‘ [36] bei Einführung der ICD-10 und an die Diskussionen im Zusammenhang mit der Einführung von Kodier-Richtlinien in der vertragsärztlichen Versorgung [36] . Klar ist, dass ein gemeinsames Verständnis, selbst wenn es erreicht würde, nicht ausreicht. Aber es wäre eine gute Basis für alle weitergehenden Maßnahmen.

  • Digitale Einbettung frühzeitig planen

    Ein zentraler Erfolgsfaktor für eine ICD-11-Implementierung, die über das Kodieren der für die Abrechnung zwingend erforderlichen Kodes hinausgeht, ist die digitale Einbettung der Kodierung in die Informationssysteme von Arztpraxen und Krankenhäusern. Diese muss über das Anbieten eines reinen Thesaurus hinausgehen. Stattdessen sollten aus der Standarddokumentation möglichst automatisiert Kodierungsvorschläge abgeleitet werden, die dann von den Anwendenden nur noch bestätigt oder dezent ergänzt werden müssen. Letztlich wird es nur mit einer solchen technischen Umsetzung gelingen, dauerhafte Akzeptanz für eine „tiefe“, qualitativ hochwertige ICD-11-Kodierung zu erreichen, die alle Möglichkeiten nutzt, die die ICD-11 mit Blick auf Forschung, Qualitätssicherung und Patientensteuerung bietet. Ein Selbstläufer wird die Implementierung entsprechender Tools nicht. Zudem muss diese technische Umsetzung auch den Ansatz „Dokumentiere nur einmal für alle Anwendungszwecke“ verfolgen und somit die ICD-11 im Ökosystem der Kodiersysteme für verschiedene Anwendungsfälle eingebettet werden.

  • Über Anreizsysteme nachdenken

    Der Anreiz für die Einführung der ICD-11 zum einen durch die Vorteile der neuen, aktuellen und modernen Klassifikation selbst kommen, die für die Anwendenden alleine durch die Verwendung einen Vorteil bringt, zum anderen durch die gelungene Einbettung in IT-Systemen im Zusammenspiel mit anderen Kodiersystemen wie SNOMED CT ( [Abb. 4] ) [16] , so dass die Anwendenden idealerweise den Umstieg bzw. das Kodieren nicht als Last empfinden oder es sogar gar nicht merken. So könnte es gelingen, dass die große Mehrheit der Kodierenden den Nutzen einer hochwertigeren Kodierung als erheblich einstuft, was herkömmlichen Anreizsystemen vorzuziehen wäre.

  • Fachgesellschaften stärker einbinden

    Handlungsbedarf besteht insbesondere bei der Einbindung der Fachgesellschaften und deren Dachverband, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Fachgesellschaften müssen bei der Qualitätssicherung der ICD-11 und deren Übersetzung mitwirken, ein Prozess, der bereits läuft und der vom BfArM koordiniert wird. Sie sind aber darüber hinaus auch wichtige Ansprechpartner für die Implementierung der ICD-11, zumal in Zeiten, in denen die Definition von (letztlich ICD-10/11-basierten) Qualitätsindikatoren und ihre automatisierte Analyse zunehmend versorgungspolitische Bedeutung gewinnt. Besonders wichtig ist die Rolle der AWMF auch im Hinblick auf die Leitlinien, und hier insbesondere die Nationalen Versorgungsleitlinien und das Onkologische Leitlinienprogramm von Deutscher Krebsgesellschaft, Deutscher Krebshilfe und AWMF [37] , die in der Ärzteschaft das Bewusstsein für die Umstellung bahnen helfen können. Aber auch der G-BA ist hier im Hinblick auf die Disease-Management-Programme [38] sowie die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung [39] gefragt.

  • Regulatorischen Rahmen auf ICD-11-Kompatibilität prüfen

Stichwort Politik: Generell sollte die ICD-11 bei anstehenden Reformen schon heute mitgedacht werden, um zu verhindern, dass Fakten geschaffen werden, die im Zuge der ICD-11-Einführung wieder revidiert werden müssen. Das betrifft zum einen Vorhaben im Bereich Digitalisierung wie die Neujustierung der elektronischen Patientenakte (ePA) ab Anfang 2025 [40] . Um die ICD-11 reibungslos in das Ökosystem der Kodiersysteme der ePA einzupassen, ist eine Harmonisierung mit weiteren Kodiersystemen nötig. Hier ist z. B. SNOMED CT [16] als umfangreichste internationale Gesundheitsterminologie zu nennen. Um den Anwendenden keine Mehrfachkodierung aufzubürden, ist auch für die ePA der Grundsatz „Dokumentiere nur einmal für alle Anwendungszwecke“ ein wichtiges Ziel. Auch international wird diese gemeinsame Verwendung von Kodiersystemen gefordert, wie aus einer Stellungnahme bei der letzten World Health Assembly im May 2023 ersichtlich wird [41] . Es betrifft aber auch digitalisierungsfernere Gesetzesvorhaben wie die Krankenhausreform, bei denen ein zukünftiger Übergang auf die ICD-11 zumindest angedacht werden könnte. Ein weiteres Beispiel ist das gesundheitspolitisch schon seit den Nullerjahren virulente Thema der Present-on-Admission-Indikatoren [42] . Sie dienen der Unterscheidung von bei Einweisung schon bestehenden von im Krankenhaus erworbenen Diagnosen und sind u. a. für die Bewertung von Komplikationsraten bzw. zur Risikoeinschätzung stationärer Fallkollektive relevant. Auch hier stellt sich die Frage, wie mit diesem mehrfach verschobenen und deswegen aus Sicht einiger Beteiligter mittlerweile relativ prioritären Thema angesichts des absehbaren Übergangs von der ICD-10 zur ICD-11 umzugehen ist. Es erscheint einerseits nicht zielführend, dieses wichtige Element auf die ICD-11 „zu verschieben“, da es ohnehin schon viel zu lange aufgeschoben wurde. Andererseits ist klar, dass der Übergang auf die ICD-11 Auswirkungen auf diese Indikatoren haben wird, was zumindest planerisch berücksichtigt werden sollte.


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Fazit

Die Einführung der ICD-11 kann für das deutsche Gesundheitswesen auf mehreren Ebenen eine große Chance sein. Zum einen kann sie zu einer deutlich detaillierteren Kodierung führen, die eine entsprechend umfassendere Nutzung der Daten ermöglicht. Zum anderen wird durch die ICD-11 der Erkrankungskatalog an mehreren Stellen modernisiert. Erkrankungen, die bisher gar nicht in der ICD auftauchen, darunter viele Seltene Erkrankungen, werden künftig im regulären System abbildbar und kodierbar. Zusätzlich erhalten Schlaf-Wach-Störungen und Störungen der sexuellen Gesundheit eigene Oberkapitel und verlieren dadurch das Stigma, das ihnen bisher aufgrund der historisch bedingten Eingliederung als F-Diagnosen anhaftete.

Um die medizinischen, wissenschaftlichen und versorgungspolitischen Potenziale der ICD-11 zu heben, sollte dem Thema auf Ebene der Gesundheitspolitik, der Fachgesellschaften, der Aufsichtsbehörden und auch der Softwareindustrie hohe Priorität eingeräumt werden. Mit Blick auf das vorgesehene, späteste Einführungs-Datum für Mortalität 2027 ist zu eruieren, welche Maßnahmen in welcher Reihenfolge zu ergreifen sind, um am Point-of-Care von Anfang an eine möglichst unkomplizierte Kodierung zu gewährleisten, die im besten Fall auch von den Anwendenden selbst als ein Fortschritt, und nicht als erneute zusätzliche bürokratische Zumutung, empfunden wird, die dazu beiträgt, dass im deutschen Gesundheitssystem die Ressourcen sinnvoll alloziert werden können und somit auch zukünftig eine Versorgung im Sinne der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes gewährleistet ist.


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Conflict of Interest

KB: none. The role of BfArM in the context of ICD-11 introduction in Germany includes translation and provision of the ICD-11 as well as support for the changeover process. BfArM has been a WHO Collaborating Centre since 2003. JC: Institutional grants from AbbVie, AstraZeneca, BMS, GALAPAGOS, GSK, Medac, MSD, Pfizer, UCB, Sanofi-Aventis, Lilly and grants from Pfizer, Janssen-Cilag, Idorsia Pharmaceuticals outside the submitted work. PK is an employee of Idorsia Pharmaceuticals Germany GmbH. CK is an employee of the German Cancer Society. JM is an employee of the AOK Bundesverband. CM provides institutional grants (project funding) from the Federal Ministry of Health, Federal Ministry of Education and Research and G-BA (Innovationsfonds). CS declares that he has received institutional grants from AstraZeneca, Bayer, Bristol-Myers Squibb, Idorsia Pharmaceuticals Ltd, Inspire Medical, JAZZ, Löwenstein Medical, Mementor, Nox medical, ResMed, Respicardia, Sleepiz outside the submitted work.


Correspondence

Dr. med. MBA Peter Kaskel
Idorsia Pharmaceuticals Germany GmbH
Market Access
Dachauer Straße 63
80335 München
Germany   

Publication History

Accepted Manuscript online:
11 June 2024

Article published online:
15 August 2024

© 2024. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Fig. 2 Chronic pain syndromes in the ICD-10 German Modification (-GM) and ICD-11 (Fig. based on data from [7] [8]).
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Fig. 3 Implementation of linking with other coding systems in ICD-11 (vs. ICD-10-GM and ICF) using the example of Intentional Communication (Fig. based on data from [7] [8] [11] [12] [13]).
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Fig. 4 Aortic Aneurysm from SNOMED CT – ICD-11 harmonisation (Fig. based on data from [7] [16]). The SNOMED CT concept “Aneurysm of the thoracic aorta” is matched with ICD-11 code BD50.3Z (“Aneurysm of the thoracic aorta, unspecified”).
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Fig. 5 Status of the translation of ICD-11 into German.
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Fig. 1 Insomnia in the ICD-10 German Modification (-GM) and ICD-11 (Fig. based on data from [7] [8]).
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Abb. 1 Insomnie in der ICD-10 German Modification (-GM) sowie ICD-11 (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] ).
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Abb. 2 Chronische Schmerzsyndrome in der ICD-10 German Modification (-GM) sowie ICD-11 (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] ).
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Abb. 3 Umsetzung der Verlinkung mit anderen Kodierungssystemen in der ICD-11 (vs. ICD-10 und ICF) am Beispiel Intentionale Kommunikation (Abb. basiert auf Daten aus [7] [8] [11] [12] [13] ).
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Abb. 4 Beispiel Aortenaneurysma aus SNOMED CT – ICD-11 Harmonisierung, (Abb. basiert auf Daten aus [7] [16] ). Das SNOMED CT-Konzept „Aneurysma der thorakalen Aorta“ ist mit dem ICD11-Kode BD50.3Z abgeglichen („Aneurysma der Aorta thoracica, nicht näher bezeichnet“).
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Abb. 5 Stand der Übersetzung der ICD-11 ins Deutsche.