Diabetologie und Stoffwechsel 2012; 7(5): 387-389
DOI: 10.1055/s-0032-1325425
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POCT zur Diabetes-Diagnostik mit Blutglukose – PRO

H. Kleinwechter
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Publication Date:
14 November 2012 (online)

Die patientennahe Sofortdiagnostik (Point of Care Test = POCT) ist eine laboratoriumsmedizinische Untersuchung, die ohne Probenvorbereitung (z. B. Zentrifugieren) unmittelbar neben dem Patienten als Einzelprobenmessung (mit „Unit-use“-Reagenzien) durchgeführt wird. Wesentliches Kriterium ist die unmittelbare Ableitung therapeutischer Konsequenzen aus dem Messergebnis [1]. Die Bedeutung der POCT-Messgeräte für die Überwachung eines bekannten Diabetes durch den Arzt bzw. den Patienten selbst ist unstrittig [2]. Hier geht es um die Frage, ob POCT auch für die Primärdiagnostik des Diabetes, speziell des Gestationsdiabetes (GDM), geeignet ist.

Die aktuelle Praxisempfehlung der DDG zur Diabetesdiagnostik von 2011 ist nicht evidenzbasiert und ohne konkrete Handlungsanweisungen [3]. Pauschal werden POCT-Methoden für die Diagnostik als „ungeeignet“ angesehen. Glukose soll im venösen Plasma „standardisiert“ und „qualitätsgesichert“ gemessen werden und präanalytisch soll die Probe so gelagert werden, dass eine „Glykolyse verhindert“ wird. Wie das konkret aussehen soll, wird offen gelassen. Die evidenzbasierte S3-Leitlinie zum GDM dagegen hat die Diagnostik mittels POCT-Methoden und die präanalytische Probenbehandlung zur Glykolyse-Minimierung für den Laborversand detailliert beschrieben [4].

Folgende Voraussetzungen sollen für die POCT-Primärdiagnostik des GDM/Diabetes in der Arztpraxis gegeben sein:

  • Es wird ein Qualitätsmanagementhandbuch „Labor“ gemäß Richtlinie der Bundesärztekammer (RiliBÄK) 2008 geführt.

  • Das verwendete Messgerät ist vom Hersteller sowohl zur Messung venöser Vollblutproben als auch zur primären Diagnostik vorgesehen und wird gemäß den Kriterien für das CE-Zeichen zugelassen. Diese Qualität des Messgeräts wird dabei durch geeignete Dokumente (z. B. nach DIN EN ISO 15 197 [5] in der ab 2012 überarbeiteten, verschärften Version) nachgewiesen.

  • Messungen werden nach Hersteller-Gebrauchsanweisungen von eingewiesenen und trainierten medizinischen Fachpersonen durchgeführt.

  • Die Gerätefunktion wird benutzungstäglich durch einen elektronischen oder physikalischen Standard bzw. durch eine andere integrierte Prozedur auf fehlerfreies Arbeiten geprüft.

  • Das Ergebnis der Vollblutmessung wird mit einem konstanten Faktor von 1,11 in venöses Plasma umgerechnet oder ein plasmakalibriertes Gerät verwendet [6] [8].

  • Die interne und externe Qualitätskontrolle werden gemäß RiliBÄK durchgeführt: 1) Kontrollproben-Einzelmessungen (KPEM, Toleranz ± 11 %) an jedem Arbeitstag analog zu den Anforderungen für Laborgeräte, 2) Streuungsanalyse bezüglich des Kontrollproben-Zielwerts (relativer Quadratischer Mittelwert der Messabweichung, QMDM, Toleranz ± 11 %), 3) Teilnahme an Ringversuchen in jedem Quartal (Toleranz ± 15 %).

Damit scheiden tragbare Handmessgeräte („handheld devices“) zur Selbstkontrolle der kapillären (!) Blutglukose durch Patienten mit bereits bekanntem Diabetes aus und die Qualitätsanforderungen für POCT werden denen von klinisch-chemischen Laboren angeglichen. Wer so verfährt, sei es in der Frauenarztpraxis oder der Diabetes-Schwerpunktpraxis, hat einen durch die gesetzlichen Regularien geschützten Anspruch darauf, diagnostische Blutglukosemessungen mittels POCT durchzuführen, ICD-kodierte Diagnosen zu stellen, therapeutische Maßnahmen einzuleiten und seine diagnostischen und therapeutischen Leistungen abzurechnen. Unterstrichen wird dies durch die seit 3.3.2012 geänderte Mutterschaftsrichtlinie: Für Screening und Diagnostik des GDM werden POCT-Methoden ausdrücklich erlaubt [7] ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Europäische und deutsche Regularien zur Diagnostik des Gestationsdiabetes mit POCT-Methoden.

Verfechter der Labordiagnostik führen im Wesentlichen 4 Gründe an: erstens die bessere Präzision aufeinanderfolgender Messungen anhand des Variationskoeffizienten (VK), zweitens die im Vergleich mit POCT-Methoden geringere Streuung ihrer Ergebnisse im Ringversuch, drittens das Fehlen von Vollblut als Kontrollprobe und viertens die direkte Glukosemessung im Plasma. Aber diese Argumente berücksichtigen folgende Aspekte nicht:

Erstens: Die höhere Messpräzision ist zweifelsfrei belegt – präanalytische Fehler werden aber ausgeblendet: Nur diejenige Probe wird präzise gemessen, die im Labor ankommt, in welchem Gefäß und in welchem Zustand auch immer. Der VK wurde in der RiliBÄK 2008 gestrichen und durch den relativen QMDM als Streuungsmaß mit Bezug auf den Kontrollproben-Zielwert ersetzt. Zweitens: Nicht der Methodenvergleich im Ringversuch ist entscheidend, sondern ob der einzelne Anwender innerhalb der Toleranzen bleibt und damit den Regularien entspricht. Drittens: Ringversuchslabore stellen mangels Vollblut Kontrollproben mit methodenspezifischen Zielwerten zur Verfügung, die bereits jetzt von einem Teil der POCT-Geräte im Rahmen von Sonderregelungen der RiliBÄK genutzt werden können. Viertens: DDG/diabetesDE und DGKL haben 2009 die von der IFCC empfohlene Umrechnung von Vollblut in Plasma befürwortet [8].

Unbeachtet bleibt, dass die diagnostische Blutglukosemessung im Labor auch Nachteile haben kann. Hierzu einige Beispiele:

  • falsches Entnahmegefäß

  • Entnahmegefäß nicht ausreichend befüllt

  • Entnahmegefäß falsch gekennzeichnet

  • keine zuverlässige Glykolysehemmung

  • ungekühlter Transport

  • Probenverlust

  • Probenvertauschung

  • zeitverzögerte Ergebnisübermittlung („turnaround time“)

In der Tat zeigte sich, dass Laborfehler sich in 62 % der Fälle präanalytisch abspielten [9] [10]. Von diesen präanalytischen Fehlern waren ungeeignete Gefäße, inadäquate Befüllung sowie falsche Probenbeschriftung die häufigsten. Nur wenige Labore erheben Fehleranalysen nach ISO 22 367 [11].

Die Qualitätsziele einer diagnostischen Labormessung werden nach dem „Stockholm-Konsensus“ in folgender, absteigender Hierarchiefolge beschrieben [12] [13]:

  1. Klinisches Ergebnis (hier: Diabetesprävalenz).

  2. Biologische Variation der Blutglukose.

  3. Publizierte Fachempfehlungen (z. B. Leitlinien).

  4. Gesetzliche Regularien (z. B. Mutterschaftsrichtlinie, RiliBÄK) u. externe Qualitätskontrolle (Ringversuche).

  5. Aktueller Goldstandard der Blutglukosemessung.

Danach ist die entscheidende Frage, ob sich die diagnostische Blutglukosemessung im Labor oder mit POCT-Methoden in der Prävalenzrate des Diabetes im Vergleich zur Referenzmethode signifikant unterscheiden oder nicht, wie hoch die Raten falsch negativer und falsch positiver Befunde sind. Diese hierarchisch erstrangige Frage wurde bislang kaum untersucht. Eine 2011 publizierte deutsche Studie belegte, dass im Rahmen von 176 oGTT bei kardiologischen Patienten mit dem POCT-Gerät Novo StatStrip® Blutglukosemesssystem im Vergleich zur Labormessung bei der Diagnose von IFG, IGT und Diabetes aus venösem Plasma eine sehr gute Übereinstimmung zeigte [14]. Diese Übereinstimmung wurde erstmals auch beim Nüchternwert im Rahmen der GDM-Diagnostik bei 1465 Schwangeren nachgewiesen, hier wurde AccuCheck® Active (Roche Diagnostic GmbH Mannheim) verwendet [15].

Die pauschale Ablehnung von POCT und das pauschale Loblied auf die Labordiagnostik sind nach Studienergebnissen und Regularien nicht mehr zeitgemäß. Einige POCT-Geräte erfüllen bereits die Messqualität des großmaschinellen Labors [16]. In Deutschland fallen geschätzt pro Jahr an diagnostischen Blutglukosemessungen in Arztpraxen an: 3 Millionen Personen mit Diabetesrisiken, 650 000 Schwangere zum GDM-Screening. Hinzu kommen mehrere 100 000 kritisch Kranke in Kliniken mit erstmals festgestellten Hyperglykämien und 100 000 Früh- und Neugeborene zur postnatalen Hypoglykämie-Diagnostik. Es wäre ein Realitätsverlust, bei all diesen Gruppen auf eine patientennahe Sofortdiagnostik zu verzichten. Die kategorische Forderung, alle diagnostischen Blutglukosemessungen nur im Labor zuzulassen, hat den Bezug zur bereits notwendigerweise gelebten Praxis verloren. Was fehlt sind weitere Studien, die zeigen, wie richtig oder wie falsch beide Methoden – Labor und POCT – ein relevantes klinisches Ergebnis abbilden [17].

Die Vorteile von POCT zur Primärdiagnostik von GDM/Diabetes werden hier zusammengefasst:

  • Messung unmittelbar nach Blutentnahme

  • präanalytische Fehler durch Laborversand entfallen

  • Glykolyse und damit höherer Anteil falsch negativer Befunde entfallen

  • kein Zeitverlust bis zum Ergebnis

  • OGTT wird erst nach beurteilter Nüchternglukose gestartet

  • die Schwangere/der Patient erfährt das Ergebnis sofort

  • psychosomatische Reaktionen bis zum Vorliegen des Ergebnisses entfallen

  • therapeutische Konsequenzen können sofort eingeleitet werden

  • Zusatzkosten durch Zweittermine und Arbeitsausfall entfallen

Abkürzungen

CE: Communauté Européenne (Europäische Gemeinschaft)
EG: Europäische Gemeinschaft
MPBetreibV: Medizinproduktebetreiberverordnung
EbLL: Evidenzbasierte Leitlinie
GDM: Gestationsdiabetes mellitus
MuschaRili: Mutterschaftsrichtlinie
RiliBÄK: Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer Untersuchungen
POCT: Point of Care Test (Patientennahe Sofortdiagnostik)