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DOI: 10.1055/s-0034-1392545
Der Haut eingeschrieben – Ein neuer und virtueller Speicher
Inscribed on Skin – A New and Virtual StoreKorrespondenzadresse
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
06. August 2015 (online)
- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Hautgedächtnis als ein neuer, virtueller Speicher
- Die moderne Oper „Written on Skin“
- Über Abgrenzung und Missbrauch
- Literatur
Zusammenfassung
In den vergangenen Dezennien wird der Haut als einem virtuellen Speicher große Bedeutung zugemessen. In dieses virtuelle „Hautgedächtnis“ werden ewige Wahrheiten und elementare Gefühle eingebracht. Diese mögen den Mitmenschen und der Nachwelt auf ewig präsent bleiben. Beispiele werden genannt. Abgrenzung ist nötig gegenüber „Body Art“, Tattoos und Installationen. Und vor Missbrauch muss gewarnt werden.
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Abstract
During the last decades, our skin got higher importance as a virtual store for eternal verities and elementary feelings. These impressions should be stored for all humans now and in future. Examples are quoted and misuse should be avoided.
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Einleitung
Die Haut ist uns Menschen vertraut und lieb. Sie ist unser größtes Organ und unsere Hülle. Sie gibt Form, Aussehen und Individualität. Sie ist etwas Besonderes und beschäftigt uns Tag und Nacht, übers Jahr hinweg und das ganze Leben lang; auch uns Dermatologen. Wir sind die Spezialisten für Hautkrankheiten und für die gesunde Haut. Aber die Haut ist kein isoliertes Organ unseres Körpers, sondern steht in besonderer Verbindung mit dem Magen-Darm-Trakt, sodass viele Erkrankungen beide Systeme betreffen, jedes in seiner besonderen Art. Und es wird auch betont, dass die Haut so etwas wie „der Spiegel der Seele“ sei. Unsere Psychodermatologen haben dies schon mit Erfolg vertieft. Aber auch die menschliche Kulturgeschichte gibt der Haut eine spezielle Bedeutung, die des Menschen Leben in vielen Phasen mitprägt. Unser Alltag ist davon nicht frei.
Die Haut, vorwiegend von Tieren, war und ist immer noch Schriftträger; Pergament eben [1], und sie dient nun dem Menschen als sichtbarer Platz für dauerhafte Symbole. Es sind dies Bilder oder Schriften, die eingeritzt oder in die Haut gestochen werden, oft farbig und aussagekräftig. Tätowieren und Tattoos sind altbekannt und bekennen oft Zugehörigkeit oder Elimination, oder sie sind Ausdrucksformen der persönlichen Verfassung und der Einstellung des Trägers. Auch individuelle Situationen werden ausgedrückt sowie Beziehungen und Absichten. Dies ist gut bekannt [2] und nimmt gegenwärtig enorm zu.
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Hautgedächtnis als ein neuer, virtueller Speicher
Die Haut als Schriftträger in all ihren Formen ist nicht das akute Thema. Es beschäftigt uns zunehmend ein neu zu beobachtendes Phänomen. Unsere Haut wird symbolhaft gebraucht für allgemeine Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, ja sie muss gar als Metapher für breiter ausgelegte Beziehungsgeflechte herhalten [3]. Während sich dies bisher vor allem in Sprachwendungen und Gleichnissen bewegte ([Tab. 1]), so wird die Haut neuerdings als virtueller Aufbewahrungsort für besonders wichtige und dauerhafte Festlegungen aller Art in Anspruch genommen. Was muss nicht alles „unter die Haut gehen“, in der Haut sitzen bleiben oder in, auf oder unter die Haut gehen, um dort zu verbleiben und ständig auf uns einzuwirken. Eine neue Art eines als „Hautgedächtnis“ angelegten Speicherorgans, das uns neben dem Gehirn, der Schrift- und Sprachkultur und neben den digitalen Möglichkeiten neuerdings und in virtueller Form zur Verfügung steht. Darin werden vor allem Merksätze, Grundgedanken, Gesetzmäßigkeiten und Verpflichtungen gelagert und dauerhaft zur Verfügung gehalten. Die Haut also ein virtueller Speicher für Axiome der Zwischenmenschlichkeit? Obwohl dieser auch Gefühle und Regungen einschließt, verarbeitet er solche kaum. Empathie geht ihm ab. Das ist nicht ganz neu.
Gleichsam ein Anfang wurde gemacht durch den hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer (1903 – 1968), der verantwortlich war für den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 – 1965. Er sagte über die menschlichen Grundrechte, „sie sollen nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche menschliche Haut geschrieben werden“ [1]. Dies ist nicht wörtlich als Tattoo gemeint, sondern übertragen. Die menschliche Haut diene als unverrückbarer Speicher virtueller Art, um grundsätzliche Regeln und Gesetze unabhängig von Zeit und Ort zu verewigen. Hier ist formal und ausdrücklich die menschliche Haut erstmals als Speicher für Grundsätzliches postuliert worden.
Seit Mai 2015 werben die Medien mit Schlagzeilen wie „In die Haut geschrieben“ und ähnlichen Formulierungen für die Europatournee 2015 der singenden Schauspielerin Charlotte Gainsbourg (geb. 1971) mit allein 10 Auftritten in Deutschland. Bezug wird genommen auf ein Lied „Beauty Mark“ aus dem Album 5.55 von 2006. Schönheitsfleck eigentlich, wird das Mal auch als „Leberfleck“ bezeichnet. Nun sind Schönheitsflecken, vor allem im Gesicht, als Blickfänger seit Jahrhunderten bekannt und werden zuweilen auch als „Artefakte“ an prominenter Stelle im Gesicht platziert. Sie werden so auf den ersten Blick [4] zum maßgeblichen Erstaspekt des Gegenübers und sie erhalten dabei gesteigerte Bedeutung. Das ist nicht neu. Aber hier kommt noch etwas Besonderes hinzu. Der Pigmentfleck wird wie folgt beschrieben: „dem Herzen ganz nah, von dem Liebsten in die Haut geschrieben“. Der vorbestehende Schönheitsfleck der Haut wird also vom Liebhaber angesprochen, berührt und somit markiert. Er wird zur sekundären erogenen Zone und dient der Steigerung und Verewigung. Ihm wird eine neue Qualität zugesungen. Eine Lokalisation erfolgt nur insofern, als dass die Nähe zum Herzen angesprochen wird, dem Organ, welchem seit jeher ein enger Bezug zu Emotionen zukommt.
Auch sei erinnert an den Welthit (1956) von Cole Porter: „I’ve got you under my skin“, gesungen von Frank Sinatra. Dieser wirkt fortan als musikalische Metapher [5] für die Dauerhaftigkeit persönlicher Beziehungen und von Liebe ([Abb. 1]). Eine Lokalisation erfolgt nicht, was Skeptiker nach der Kapazität der Haut als Speicherorgan fragen lässt. Diese Frage bleibt unbeantwortet und offen.
Die Wiener Literatin Katrin Bernhardt (geb. 1982) publizierte 2013 einen Lyrikband „Auf bittere Haut geschrieben“ [6]. Charakteristisch ist, dass sie intensive Gefühle und Regungen persönlicher und allgemeiner Art so eindringlich angeht, dass diese auf die Haut verewigt gehören. Die Haut wird dadurch bitter. Der angesprochene Hautspeicher verändert sich also durch den aufgebrachten Inhalt. Was wir aus der Psychodermatologie kennen, dass psychosomatische Wechselbeziehungen die Haut verändern. Diese wird glanzlos, trocken, schuppend und erscheint vorgealtert. Eine wilde Reise in die Abgründe der menschlichen Seele scheint es zu sein, was die Autorin ihren Lesern auf die Haut presst, mit Anspielungen auf mediterrane und fernöstliche Erlebniswelten.
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Die moderne Oper „Written on Skin“
Am 7. Juli 2012 fand in Aix-en-Provence die Uraufführung der modernen Oper „Written on Skin“ statt, einer Kurzoper (100 Min.) von George Benjamin (geb. in London am 31. 1. 1960) mit Texten von Martin Crimp (geb. in Dartford, GB, am 14. 2. 1956). Es war auf Anhieb ein durchschlagender Erfolg. Aufführungen folgen Schlag auf Schlag in London, Tanglewood/USA, Amsterdam, Toulouse, Florenz, Wien, München, Straßburg, Bonn, Lissabon und 2015 in Stockholm, Toronto, New York und in St. Gallen [7] ([Abb. 2]).
Die Oper geht zurück auf eine Erzählung des katalanischen Troubadours Guillem de Cabestany (1162 – 1312), eine banale, tragische Dreiecksgeschichte. Er gibt sich als Liebhaber von Seremonda, Frau des Ramon aus, der des Troubadours Herz der untreuen Gattin zum Mahl anbietet. Nach der Eröffnung der Grausamkeit nimmt sich die Gattin durch Fenstersturz das Leben. Das Motiv erscheint wiederum im Decamerone von Giovanni Boccaccio als 8. Geschichte des 2. Tages, sowie, unter anderen, auch in den „Cantos“ von Ezra Pound. Anderseits finden sich Elemente dazu schon bei Ovid in den „Metamorphosen“ und in der „Medea“ von Euripides.
Die Handlung der Oper [8]: Der Protector, ein Landlord, will seiner 14-jährigen Frau Agnes, die weder schreiben noch lesen kann, zeigen, was er hat und ist. Dazu engagiert er einen jungen Maler, Boy genannt, der die Familiengeschichte des Protectors in einem illustrierten Band darstellen soll. Darin zeichnet er auch „die Frau“, worin Agnes sich selber erkennt und die sinnliche Kraft erahnt, die sie ausstrahlt. Und sie verführt den Maler. Als er dies vor dem Hausherrn zu vertuschen versucht, ist Agnes tief verletzt, da „der Boy“ nicht zu ihr und zum Ehebruch stehen will. Dieser bekennt also und wird vom Protector getötet. Das Herz serviert der Protector seiner Gattin zum Mahl und deckt den Gräuel auf. Agnes ist entsetzt und stürzt sich aus dem Fenster zu Tode. Der Engelchor begleitet das Geschehen und agiert zugleich als Erzähler.
Die Oper ist mehrschichtig angelegt. Zum einen steht sie unter dem mächtigen Titel der Hautaufschrift. Ehebruch, Verrat und das grässliche Mahl sollen dem Auditorium, jedem Einzelnen, auf die Haut geschrieben ewig in Erinnerung bleiben. Dies wird aber nicht dargestellt, sondern auf einem Zwischenmedium, den illustrierten Zeichnungen eben, im Spiel den Akteuren vermittelt. Die Haut wird nicht gezeigt, nur genannt. Und so vermittelt die Wucht der Darstellung gleichsam die Allgewalt und Ausschließlichkeit des erotischen Erlebnisses, wenn Agnes vor dem Todessturz bekennt, dass „weder Gewalt noch Verbote die Bilder entfernen können, die der Boy ihr auf die Haut gezeichnet hat“. Und sie bestärkt dies noch durch die Versicherung, „dass der Geschmack des verspiesenen Herzens ihres Liebhabers ewig ihr im Munde verbleibe“.
Das Hautgedächtnis also als lebenslanger Speicher für tiefgreifende, auch schmerzliche Ereignisse. Verstärkt wird das Ganze durch die Verknüpfung mit dem Herzen als Metapher für die Gewalt der Gefühle. Es wird derselbe Weg dargestellt, den die erotische Erregung in das Hautgedächtnis begeht, und die Annäherung zum Herzen, wie es im Lied von Charlotte Gainsbourg mit dem in Herzensnähe liegenden Leberflecken besungen wird. Die Intention und die Richtung sind dieselben, die Intensität allerdings ist verschieden. Die Spannbreite erotischer Beziehungen wird gleichsam abgesteckt. Die zärtlich-freudige Liebe einerseits und dann ihre vernichtende Wucht im Konfliktfall.
Tatsache ist, dass ewige Wahrheiten oder elementare Gefühle, um lebenslang zu wirken, dem virtuellen Speicher „Haut“ zugeschrieben und eingearbeitet werden. Autor und Berichterstatter erachten solche Geschehnisse also als dermaßen bedeutsam, dass diese den Mitmenschen und der Nachwelt auf ewig präsent sein sollen. Dazu dient der virtuelle Speicher Haut. Dem ist eine gewisse Wirksamkeit nicht abzusprechen. Dies betrifft einzelne Personen im zwischenmenschlichen, dem psycho-sozialen Bereich. Gemeint ist aber auch die gesamte Menschheit mit den autonomen und ihren selbst gewählten Umgangsformen in Gesellschaft, Religion, Rechtswesen, Erziehung, Kultur, Wissenschaft und Politik. Die zugesprochene Wirksamkeit wird anerkannt und findet Anwendung. Darauf ist das Instrument zu beschränken. Soweit gut und recht.
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Über Abgrenzung und Missbrauch
Der virtuelle Speicher „Haut“ ist nicht zu verwechseln mit all den Formen der Bemalung, Zeichnung und Dekoration der Haut, umschrieben oder großflächig, hautbezogen oder integriert. Gemeint sind nicht die Installationen von Körper und Haut. Bodypainting, Tattoo, Piercing und dergleichen haben mit dem virtuellen Speicher nichts zu tun. Sie heben sich davon durch ihren vorwiegend individuellen Charakter auch deutlich ab [9] [10]. Allerdings beanspruchen künstlerische Ambitionen an Körper und Haut (Body Art) neben der individuellen Aussage zuweilen auch allgemeingültige Botschaften zu vermitteln [11]. Anmaßenderweise wird versucht, diese in die Nähe des virtuellen Speichers „Haut“ zu rücken [12]. Soviel zur Abgrenzung.
Allerdings beobachtet man in den letzten Jahren auch einen drastischen Missbrauch solcher Zuordnungen. Das Instrument der Haut als virtueller Speicher wird „verwässert“, indem es für Belanglosigkeiten als kurzfristige Bedeutungszumessung werbemäßig eingesetzt wird. So ist es absolut fehl am Platz, wenn beispielsweise eine lokale Vorführung derart angepriesen wird, dass diese dem einzuladenden Besucher „auf ewig“ unter die Haut gehen werde. So und ähnlich wird, vor allem durch die mediale Werbung, eine Inflation des virtuellen Speichers Haut betrieben, die groteske Züge annimmt und der jegliche Glaubwürdigkeit abgeht. Dies ist bedauerlich und gehört unterlassen.
Halten wir fest: Die Ausdeutung eines virtuellen Speichers „Haut“ ist beeindruckend, interessant und offenbar recht wirksam. Ein bemerkenswertes Phänomen in der kulturellen Entwicklung und deren Deutung. Terminus und Bedeutung werden allerdings durch Missbrauch geschwächt und sogar diskriminiert.
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Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Jung EG, Zimmermann K. Haut als Schriftträger. Akt Dermatol 2005; 31: 297-299
- 2 Jung EG. Tätowieren und Tattoo. Akt Dermatol 2005; 31: 527-531
- 3 Schipperges H. Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola, Universität Heidelberg; Bd. 43/44 1968: 3-10
- 4 Jung EG. Das Phänomen Blickdiagnose. Akt Dermatol 2011; 37: 214-219
- 5 Saurma A. Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut. Akt Dermatol 2006; 32: 536-539
- 6 Bernhardt K. Auf bittere Haut geschrieben. Oberwart/Österreich: Edition lex liszt 12; 2013
- 7 Gerber T. Wiederholte Geschichte. Rezension von „Written on Skin“, NZZ, Int. Ausgabe Nr. 101 vom 4. 5. 2015
- 8 Gazzola L. Written on Skin. Chapel Hill, NC/USA: Opera Lively Press; 2015
- 9 Wegenstein B. Getting Under the Skin. The Body and Media Theory. Cambridge/USA: MIT Press; 2006
- 10 Anzieu D. Das Haut-Ich. Frankfurt a. M: Suhrkamp; 1988
- 11 O’Reilly S. Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. Berlin: Deutscher Kunstverlag; 2012
- 12 Mewes C, Steinkraus V. Haut. Mythos und Medium. Hamburg: Revolver Publ; 2011
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Jung EG, Zimmermann K. Haut als Schriftträger. Akt Dermatol 2005; 31: 297-299
- 2 Jung EG. Tätowieren und Tattoo. Akt Dermatol 2005; 31: 527-531
- 3 Schipperges H. Kleine Kulturgeschichte der Haut. Ruperto-Carola, Universität Heidelberg; Bd. 43/44 1968: 3-10
- 4 Jung EG. Das Phänomen Blickdiagnose. Akt Dermatol 2011; 37: 214-219
- 5 Saurma A. Kulturwissenschaftliche Aspekte der Haut. Akt Dermatol 2006; 32: 536-539
- 6 Bernhardt K. Auf bittere Haut geschrieben. Oberwart/Österreich: Edition lex liszt 12; 2013
- 7 Gerber T. Wiederholte Geschichte. Rezension von „Written on Skin“, NZZ, Int. Ausgabe Nr. 101 vom 4. 5. 2015
- 8 Gazzola L. Written on Skin. Chapel Hill, NC/USA: Opera Lively Press; 2015
- 9 Wegenstein B. Getting Under the Skin. The Body and Media Theory. Cambridge/USA: MIT Press; 2006
- 10 Anzieu D. Das Haut-Ich. Frankfurt a. M: Suhrkamp; 1988
- 11 O’Reilly S. Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. Berlin: Deutscher Kunstverlag; 2012
- 12 Mewes C, Steinkraus V. Haut. Mythos und Medium. Hamburg: Revolver Publ; 2011