Teil I: Psychoanalytische Überlegungen zum Fall Haarmann
Massenmord: Der Fall des Friedrich Haarmann
Überlegungen zum Verhältnis von Perversion und Justiz
Einleitung
Der folgende Beitrag stellt sich die auf den ersten Blick
vielleicht merkwürdig oder gar absonderlich anmutende Aufgabe, gewissen unterschwelligen
Verbindungslinien zwischen den Erscheinungen der Perversion einerseits und der Strafjustiz
andererseits am Beispiel des Falles Haarmann nachzugehen. Wir betrachten so am Anfang die
Lebensgeschichte des Friedrich Haarmann, wobei wir Momenten, die etwas über das Seelenleben
dieses Menschen verraten, besondere Beachtung schenken wollen.
Über die frühe
innere Biographie dieses Mannes wissen wir freilich sehr wenig. So muss sich die Rekonstruktion
hier (in Teil 2) mit der Erstellung eines recht allgemein gehaltenen Bildes der Perversion und
ihrer Entstehungsgründe behelfen. Zustatten kommt uns dabei der Umstand, dass die
Tiefenpsychologie bei der Erfassung der für die Herausbildung einer Perversion
maßgeblichen frühen Lebensgeschichte gerade in jüngerer Zeit neue Einsichten
gewonnen hat. Unvermeidlich bleibt hier manches subjektiv, wie denn überhaupt das meiste, was
wir über die frühen Stadien seelischer Entwicklung wissen, sich Deutungen, d. h.
subjektiven Unternehmungen, verdankt, die den Gehalt unbewusster Phantasien erhellen, welche
lebensgeschichtlich früh eingespielt und später ständig reinszeniert das menschliche
Verhalten weitgehend und vielfach leidvoll bestimmen. Diese Deutungen, auch wo sie sich zu
‚Theorien‘ verdichten, empfangen ihre Wahrheit allein aus der Tatsache, dass sie in
der gegenwärtigen Realität durch Einsicht zur Umstimmung des Verhaltens und zur
Verringerung von Leid führen.
Der 3. Teil enthält die Schilderung der Reaktion der
Justiz auf die Haarmann‘schen Verbrechen und die Behandlung der Frage, wie die
gegenwärtige Strafrechtspflege wohl mit dem Falle umgehen würde. Die Bearbeitung dieser
Themen ermöglicht uns die Beantwortung der Ausgangsfrage nach den unbewussten Verbindungen
zwischen Perversion und Justiz.
Den Abschluss bilden Überlegungen zu Sinn und Zweck der
Untersuchung.
Der Lebenslauf [[1]]
Friedrich
Heinrich Karl Haarmann wurde am 25. Oktober 1879 als sechstes und letztes Kind des Lokomotivheizers
Friedrich Haarmann und seiner Frau Johanne, geb. Claudius, in Hannover geboren. Zur Mutter hatte
Friedrich Haarmann eigenem Bekunden zufolge stets ein gutes Verhältnis. Zum Vater, den er
schon als Kind als eine Art Nebenbuhler empfand und den er hasste, bestand ein lebenslanges
Verhältnis beidseitiger Feindseligkeit, die sich immer wieder in wechselseitigen Bedrohungen,
Schlägereien und gerichtlichen Auseinandersetzungen entlud. 1886 wurde das als
verzärtelt, leicht lenkbar und verträumt geschilderte Kind eingeschult. Seine Leistungen
blieben außer in „Betragen” und in einigen musischen Fächern weit unter
Durchschnitt. Zweimal musste er auf der siebenstufigen Schule eine Klasse wiederholen.
Nach
Beendigung der Schule begann er eine Schlosserlehre, erwies sich hier aber bald als ungeeignet. So
trat er im April 1895 in die Unteroffizier- Vorschule in Neu-Breisach ein. Bereits im Herbst wurde
er zweimal in das Garnison-Lazarett eingeliefert, das eine Mal wegen einer Bewusstseinstrübung
und allgemeinen Desorientierung, die nach einem anstrengenden Marsch aufgetreten waren, und das
andere Mal wegen schwerer Angstzustände als Folge einer Artillerieübung. Im Krankenblatt
wird die Diagnose „epileptisches Irresein” vermerkt. Nach der Entlassung aus dem
Militärdienst im November 1895 kehrte Haarmann nach Hannover zurück, wo er in der
kleinen, 1888 begründeten Zigarrenfabrik seines Vaters mitarbeiten sollte. Er erwies sich
jedoch als arbeitsunfähig.
Bereits im Juli 1896 wurde ein erstes Strafverfahren wegen an
kleinen Kindern begangener Sittlichkeitsdelikte gegen den 16-jährigen eingeleitet. Diese
Vergehen stellten den Beginn einer Kette von Sexualdelikten an Kindern dar, die das ganze Leben
Haarmanns über nicht mehr abreißen sollte. Bereits im siebten Lebensjahr war es zu
wechselseitiger Onanie in der Schule gekommen. Auch gibt Haarmann an, von seinem um 8 Jahre
älteren Bruder Wilhelm vom Alter von 6 Jahren an längere Zeit regelmäßig
sexuell missbraucht worden zu sein. Das Strafverfahren wurde im März 1897 nach
§ 51 StGB (Zurechnungsunfähigkeit, heute: Schuldunfähigkeit) eingestellt,
nachdem in der Provinzial - Heil - und Pflegeanstalt Hildesheim bei ihm eine
Geisteskrankheit in der Form eines angeborenen Schwachsinns festgestellt worden war. Aus den
Anstalten, in denen Haarmann in der Folgezeit untergebracht war, entfloh er jeweils. Von Ende 1897
bis zum Frühjahr 1899 lebte Haarmann in der Schweiz, wo er sich mit Hilfe von Geldzahlungen
seiner Mutter und kleineren Arbeiten über Wasser hielt. Im April 1899 nach Hannover
zurückgekehrt, wohnte er zunächst bei den Eltern, ging aber keiner geregelten
Tätigkeit nach. Im Winter 1899 / 1900 verlobte er sich mit Erna Löbert, der Tochter eines
in einem Haarmanns Vater gehörenden Hause wohnenden Arbeiters. Das Verhältnis endete nach
3 Jahren, als sich Erna einem anderen Mann zuwandte. Haarmann begann damals, sein Interesse an
Frauen zu verlieren und sich ausschließlich gleichgeschlechtlichen Sexualbeziehungen
zuzuwenden. Ob bei Haarmann bereits zum damaligen Zeitpunkt Impotenz eintrat, die später
zweifellos gegeben war, lässt sich nicht mehr ermitteln.
Im Oktober 1900 wurde Haarmann
als Rekrut beim Jägerbataillon 10 in Bitsch bei Colmar eingestellt, so dass die Zeit
beschäftigungslosen Herumstreunens erst einmal ein Ende hatte. Haarmann zeigte sich
während des ersten Jahres beim Militär den Anforderungen des Dienstes körperlich und
geistig gewachsen. Bei den Herbstmanövern des Jahres 1901 erlitt Haarmann jedoch infolge
großer Anstrengungen mehrfach Ohnmachtsanfälle, auch traten danach Schwindelgefühle
und Schwächezustände auf, die zum Teil mit Kopfschmerzen, Halluzinationen und
Druckempfindungen in der Herzgegend verbunden waren. Zur Klärung des Krankheitsbildes wurde
Haarmann im Mai 1902 in das Garnison-Lazarett I auf die Station für Nervenkranke verlegt. Hier
gelangte man zu der Diagnose, dass ein Intelligenzdefekt, „ein gewisser Schwachsinn”,
vorliege, der aber nicht angeboren sei, sondern als Folgeerscheinung einer vor 7 Jahren (also
während der ersten Militärzeit) aufgetretenen, inzwischen aber ausgeheilten Hebephrenie,
einer psychotischen Erkrankung des Jugendalters, zu betrachten sei. Das militärärztliche
Schlussurteil [[2]] lautete damals: „Haarmann ist ...
wegen überstandener Geisteskrankheit, die einen gewissen Schwachsinn hinterlassen hat, dauernd
Ganzinvalide, dauernd untauglich zur Verwendung im Civildienst sowie zeitig (2 Jahre) teilweise
erwerbsunfähig.” Am 28. Juli 1902 wurde er mit einer kleinen Rente aus dem
Militärdienst entlassen.
Kaum wieder in Hannover, kam es erneut zu schweren, auch
gerichtlich ausgetragenen Auseinandersetzungen mit dem Vater. Aufgrund von in einer Anzeige seines
Vaters enthaltenen Angaben über die Gemeingefährlichkeit seines Sohnes veranlasste das
Hannoversche Polizeipräsidium eine amtsärztliche Untersuchung. Das daraufhin im Mai 1903
erstattete kreisärztliche Gutachten [[3]] kam zu dem
Ergebnis, dass Haarmann nicht im eigentlichen Sinn geisteskrank sei. Dagegen sei er „ein auf
allen Seelengebieten minderwertiger, moralisch defekter, wenig intelligenter, träger und
gänzlich egoistischer Mensch”.
Schon Anfang 1904 war eine Darlehenssumme von 1500
Mark, die der Vater ihm gegeben hatte, aufgebraucht. Kurze Zeit war Haarmann dann als
Versicherungsagent tätig. Im Juli 1904 wurde er als dauernd ganzinvalide und
größtenteils erwerbsunfähig anerkannt und erhielt fortan eine auf 27 Mark
erhöhte Monatsrente. Bald darauf fand er eine Anstellung in einer Farbenfabrik, in der er in
kurzer Zeit eine Reihe von zum Teil schweren Diebstählen beging, derentwegen er allein 1905
4-mal zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Fortan geriet er in solchem Maße in
kriminelles Fahrwasser, dass er in der verbleibenden Lebenszeit nahezu ein Drittel seiner Tage in
Untersuchungshaftanstalten, Gefängnissen und Zuchthäusern zubrachte. Bei den Straftaten
handelte es sich zumeist um Eigentums- und Vermögensdelikte. Die Frage der
Zurechnungsfähigkeit wurde, soweit ersichtlich, selten geprüft. Lediglich bei einer
Verurteilung 1911 wurden „im Hinblick auf die geistige Minderwertigkeit des
Angeklagten” mildernde Umstände berücksichtigt, und 1919 wurde einmal
gerichtsärztlich festgestellt, dass Haarmann nicht geisteskrank, sondern für alle
Delikte, insbesondere die sexuellen, voll verantwortlich sei. Im Februar 1913 wurde Haarmann wegen
mehrerer Diebstähle im Rückfall zu einer 5-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt, so
dass er die gesamte Zeit des Ersten Weltkrieges in Strafanstalten verbrachte. Verwunderlich ist,
dass Haarmann, dem der homosexuelle Umgang mit Kindern und Jugendlichen tägliche Gewohnheit
war, wegen Sittlichkeitsdelikten relativ selten belangt wurde.
In den wirren und
wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg beteiligte sich Haarmann in Hannover in
größerem Umfang am Schwarzhandel und an anderen dunklen Geschäften. Unter anderem
verkaufte er Wäschestücke und Kleider, die er unter irgendeinem Vorwand gesammelt oder
erbettelt hatte. Vor allem aber betrieb er einen schwunghaften Handel mit gestohlenem oder schwarz
geschlachtetem Fleisch und Geflügel. Haarmann bezog nacheinander mehrere Wohnungen, die meist
nur aus einem Zimmer bestanden. Hier ging ständig eine große Zahl von Jugendlichen ein
und aus, die auch Rucksäcke mit Fleisch herbeibrachten. Die Vielzahl jugendlicher Besucher,
die Haarmann oft mit dem Angebot, ihnen Unterkunft für die Nacht und Verpflegung zu besorgen,
im Hauptbahnhof, wo er allseits - als „Polizeibeamter” - bekannt war,
aufgriff und häufige Hack- und Klopfgeräusche des Nachts machten ihn bei der
Nachbarschaft unbeliebt und verdächtig, ohne dass zunächst entscheidende Schritte gegen
ihn unternommen wurden, obwohl es nachweislich schon im Herbst 1918 zur Tötung eines
15-jährigen Jungen gekommen war.
Erwähnt werden muss noch, dass Haarmann seit 1919
zu dem intelligenten und hübschen, aber gerissenen und egoistischen, mehr als 20 Jahre
jüngeren Hans Grans eine Art Freundschaft unterhielt. Sie betrieben zusammen manch unsolides
Geschäft, wenn nicht gerade der eine oder der andere im Gefängnis saß. Grans
hinterging, tyrannisierte und quälte Haarmann ständig. Gleichwohl fühlte sich
Haarmann zu Grans wie zu keinem anderen hingezogen und geriet zu ihm in ein Verhältnis
zunehmender Abhängigkeit und Hörigkeit.
Die 24 Tötungsdelikte an Jugendlichen,
die Haarmann nach den Feststellungen des Schwurgerichts Hannover im Jahre 1923 und in der ersten
Hälfte des Jahres 1924 beging, wurden gerichtlich als Mord im Sinne des § 211 StGB
qualifiziert. Die Form des sexuellen Verkehrs mit den Jugendlichen und die Art der Tötung
wurden im Urteil mit den folgenden Worten beschrieben [[4]]:
„Die Art und Weise des widernatürlichen Geschlechtsverkehrs
bestand bei Haarmann in dem von ihm so genannten „Pussieren”. Dazu gehörte
einmal gegenseitiges Onanieren, auch „Abwichsen”, „Abrollen” oder
„den Hammerstiel polieren” genannt. Dabei wurde beiderseits mit der Hand am
Geschlechtsteil des anderen gerieben, bis Samenerguss eintrat. Ein weiteres Mittel zur
geschlechtlichen Erregung war das Saugen am Geschlechtsteil des anderen, das Küssen und bei
Haarmann namentlich das Saugen oder Lutschen am Kehlkopf oder anderen Körperteilen. Er pflegte
sich dabei mit dem jungen Mann zusammen nackt in das Bett zu legen. Meist kam der Junge an die Wand
zu liegen, nach Haarmanns Angabe, weil er einmal im Schlafe von einem Jungen, den er zum
widernatürlichen Geschlechtsverkehr benutzt hatte, bestohlen (worden) war. Der Junge hatte
sich heimlich entfernt, und solche Vorkommnisse wollte Haarmann vermeiden.
Haarmann übte das Lutschen aus als einen Teil der geschlechtlichen Erregung,
nicht jedoch, um damit Samenerguss zu erzielen, der überhaupt je länger je mehr bei ihm
schwer eintrat. Außerdem aber pflegte er oft den jungen Mann, mit dem er verkehrte, zu
beißen, sowohl in den Kehlkopf wie an anderen Stellen des Körpers. Bei dem
Geschlechtsverkehr war Haarmann nach der Aussage der Zeugen, die diesen Verkehr mit ihm
überlebt haben, nicht außergewöhnlich leidenschaftlich erregt, doch presste er den
Jungen, so z. B. den Zeugen Hillebrecht, so heftig an sich, dass dieser Schmerzen bekam.
Haarmann küsste auch oft auf Mund und Hals. Das Lutschen und Beißen am Halse wirkte bei
den jungen Leuten als eine Art Erdrosselung.”
Die psychiatrischen Gutachter
[[5]] im Verfahren hielten wegen gelegentlicher Krämpfe
Haarmanns das Vorliegen einer epileptischen Erkrankung für möglich, waren aber der (wohl
zutreffenden) Meinung, dass sie bei der Tatbegehung keine Rolle spielte. Des weiteren wurde das
Gegebensein von Schwachsinn verneint ebenso wie das Vorliegen einer Hebephrenie als einer Unterform
der Schizophrenie.
Ferner wurde ausgeführt, Haarmanns infantiles, läppisches und
situationsinadäquates Verhalten lasse an eine „Situationspsychose” denken (eine
unter der Wirkung einer seelischen Erschütterung vorübergehend auftretende psychotische
oder psychoseähnliche Störung). Die Möglichkeit einer solchen Erkrankung wurde
eingeräumt, ihre Relevanz für die Frage der Zurechnungsfähigkeit jedoch verneint, da
sie erst nach der Tatbegehung aufgetreten sei.
Eine gründliche und umfassende
biographische Anamnese Haarmanns fehlte, so vor allem die Betrachtung seiner frühen
Lebensgeschichte und seiner sexuellen Entwicklung. Der diagnostische Begriff der Perversion, obwohl
der damaligen Psychiatrie geläufig, tauchte nicht auf.
Im Ergebnis wurde Haarmann zwar
als eine pathologische Persönlichkeit bezeichnet, aber in vollem Umfang für
zurechnungsfähig erklärt.
Haarmann wurde am 19. Dezember 1924 durch das
Schwurgericht Hannover, dessen Richter wie die anderen Prozessbeteiligten dem massiven Druck einer
aufgewühlten Öffentlichkeit ausgesetzt waren, zum Tode verurteilt und am 15. April 1925
durch das Fallschwert hingerichtet.
Die Obduktion des Schädels von Haarmann im
Kraepelinschen Hirnforschungsinstitut in München ergab Zeichen einer abgelaufenen
Hirnhautentzündung. So muss bei der Betrachtung und Bewertung der somatischen, neurologischen
und psychischen Auffälligkeiten in Haarmanns Verhalten stets auch an die Möglichkeit
einer hirnorganischen Vorschädigung gedacht werden.
Die Perversion
Die Kategorien von Innen und Außen, von
Körperlichem und Seelischem, von Illusionärem und Wirklichem, von Selbsteigenem und
Fremdem sowie von Raum und Zeit bilden sich beim Säugling nur langsam und erst allmählich
unter der achtsamen, teilnehmenden und fürsorglichen Pflege der Mutter heraus.
Im Nebel
der frühen Zeit und in Fortsetzung der vorgeburtlichen Verhältnisse sind Kind und Mutter
zu Beginn noch eins [[6]]. Doch sehr bald schon machen es die
körperlichen Bedürfnisse des Säuglings und seine Erlebnisse mit der Umwelt, der
belebten und der unbelebten, zunehmend schwierig, die narzisstische Illusion der Vollkommenheit,
Allmacht und Unverletzlichkeit des intrauterinen Zustands aufrechtzuerhalten, so sehr das kleine
Wesen sich auch müht.
Unter der pfleglichen, aus Instinkt verständnisvollen und zu
Aktivitäten anleitenden Begleitung der Mutter vermag der Säugling die vielfältigen,
bunten und verwirrenden Eindrücke und Erfahrungen seines Lebens allmählich zu sammeln,
sie miteinander zu verbinden und sie in eine gewisse vorläufige kohärente Ordnung zu
bringen. Die unvermeidlichen Erfahrungen mit der Umwelt, insbesondere mit der Mutter, führen
gleichzeitig dazu, dass sich ein gewisses Gefühl des Getrenntseins ausbreitet. Eine Art
symbiotische Zweieinheit bildet sich, die auf Seiten des Säuglings noch weitgehend
illusionären Charakter trägt und die für ihre weitere Entwicklung und
Differenzierung der ständigen Zuwendung und der Zuführung die
Größenvorstellung des Säuglings stützender und fördernder narzisstischer
Energien durch die Mutter bedarf.
Für diesen Prozess der Herausdifferenzierung der
unbewussten Vorstellungen über das Selbsteigene gegenüber dem Fremden - wie auch
derjenigen über Inneres und Äußeres - spielt der Körper des
Säuglings eine besondere Rolle. Der Körper - seit je schon Empfänger und
Sender jener verwirrenden Fülle den Säugling treffender Reize - ist Heimat der
Triebe, die von frühester Zeit an unüberhörbar und unabweisbar ihre Ansprüche
auf Befriedigung stellen. Die Triebe in ihrer Bezogenheit auf äußere Instrumente ihrer
Befriedigung verweisen den Menschen von allem Anbeginn auf seine Abhängigkeit von Objekten
außerhalb seiner selbst. So macht der auf lustspendendes Saugen an der mütterlichen
Brust und beruhigenden Hautkontakt gerichtete orale Trieb des Säuglings ihn ebenso wie der
Zwang zur Nahrungsaufnahme in umfassender Weise abhängig von der Mutter. Freilich ist dies das
Bild der Betrachtung von Außen. Aus der illusionären Perspektive des Säuglings ist
die mütterliche Brust samt ihrer Warze anfangs seine eigene Schöpfung und sein Eigentum.
Erst langsam findet er aus dem Zwielicht dieser Entwicklungszone zu einer halbwegs adäquaten
Scheidung zwischen den Körpern und einer Trennung zwischen Innen und Außen. Ein
wesentliches Vehikel für die Gewinnung der Realität angemessenerer Selbst- und
Fremdbilder sowie realitätsgerechterer Innen- und Außenperspektiven bildet das
sogenannte Übergangsobjekt [[7]].
Das
Übergangsobjekt gehört gewissermaßen 2 Welten an, der Welt der Illusionen des
kleinen Kindes und der Welt der äußeren Realität. Infolge dieses Doppelcharakters
des Objekts ist es dem kleinen Kind allmählich möglich, den Realitätsgehalt seiner
illusionären Vorstellungen zu erhöhen und solche realistischeren Phantasien in seinem
Inneren zu verankern. Der physische Gegenstand selbst wird dann bedeutungslos. Im Bereich oraler
Phänomene stellt etwa das Tuch ein Übergangsobjekt dar, mit dem nach dem Stillen der Mund
des Säuglings und die mütterliche Brust abgewischt werden und mit dem der Säugling
nur allzugern spielt. In der illusionären Allmacht des Säuglings vertritt ein solches
Übergangsobjekt die mütterliche Brust und ermöglicht ihm im Gegensatz zur
Realität ihre ständige Verfügbarkeit, wenngleich der Dingcharakter der Sache und
ihre physische Widerständigkeit der Omnipotenz des Säuglings schon ganz
grundsächlich gewisse Grenzen setzen. Der Gegenstand erweist sich auch angesichts
libidinöser und aggressiver Übergriffe als beständig und identisch. Er dient damit
- wie die gute Mutter auch sonst - zugleich der Amalgamierung von Liebes- und
Hassregungen. Obwohl das Objekt in der Auffassung des kleinen Kindes die Eigenschaften des
Lebendigen hat, besitzt es als Teil der äußeren Wirklichkeit zugleich die Qualität
des Realen. Das Übergangsobjekt flicht so dem illusionären Gewebe der
Omnipotenzvorstellungen des Kleinkindes erste realistische Fäden ein und lehrt es zugleich die
Lenkung und Koordination seiner ersten muskulären Bewegungen.
Zur Vermeidung von
Missverständnissen besteht an dieser Stelle vielleicht Anlass für den Hinweis, dass es
für die psychologische Betrachtung nicht darauf ankommt, dass die Illusionen durch den Kontakt
mit der Wirklichkeit gewissermaßen zum Verschwinden gebracht werden, sondern darauf, dass
Illusion und Realität sich mischen und verbinden und dass so die Phantasie in gewissem Umfang
realitätstüchtig wird. Phantasie und Realität sind für eine solche Auffassung
wechselseitig aufeinander verwiesen und angewiesen: Phantasie ohne Realitätsbezug ist
bodenlos, Realität ohne Phantasie unerträglich. Zum erstgenannten Zusammenhang sagt
Winnicott [[8]]: „ ... die Phantasie in ihrer vollen
Stärke ist wirklich nur zu ertragen, wenn die objektive Realität richtig
eingeschätzt wird. Das Subjektive ist ungeheuer wertvoll, aber so beunruhigend und magisch,
dass man es nur als Parallele zum Objektiven genießen kann.” Die Aufgabe des Menschen,
innere und äußere Realität miteinander in Verbindung zu bringen, ist ein
unendliche. Auf den Gebieten von Religion und Kunst findet menschliches Bemühen um die
Erledigung dieser Aufgabe seinen besonderen Ausdruck. In den religiösen Schöpfungsmythen
und in mancher literarischen Darstellung wird das uns beschäftigende frühe
Zusammentreffen von suchender Illusion und wartender Wirklichkeit selbst zum Thema [[9]].
Das Übergangsobjekt ermöglicht ein Verfahren der
Etablierung innerer einigermaßen realitätsgerechter Bilder der äußeren
für das kleine Kind wichtigen Wirklichkeit, so der mütterlichen Brust und anderer
Einzelaspekte der Mutterfigur oder der mütterlichen Versorgung. Die Aufrichtung und
Aufrechterhaltung dieser auf reale Außenobjekte bezogenen inneren Bilder- , Phantasie- oder
Repräsentanzenwelt hat Konsequenzen für die Herausbildung eines - anfänglich
körperlich aufgefassten - vom Nicht- Selbst unterschiedenen Selbstbildes sowie für
das Hervortreten der Differenz von Innen und Außen, vor allem aber für eine
hinlänglich gute Entwicklung in Bezug auf Triebstruktur und narzisstische Ausstattung. Eine
solche hinreichend gute Entwicklung ist freilich nur möglich bei gedeihlicher und
befriedigender Präsenz, Lebendigkeit und Hingabe der äußeren Objekte, insbesondere
der Mutter.
Allerdings verläuft auch die gute Entwicklung keineswegs in idyllischen
Bahnen. Die Triebentwicklung kommt ohne schwere Versagungen und Frustrationen nicht aus. Orale Gier
schlägt dann in ohnmächtige Wut und zerstörerischen Hass um, die sich gegen das
frustrierende Objekt wenden und das Gefühl von Trennung und Abgrenzung weiter vertiefen. Zudem
fallen Zerstörung und Hass nach dem Muster der frühen Erfahrung, dass der wütende
Biss die eigene Zunge, den eigenen Mund oder den eigenen Daumen verletzt, auf das kleine Kind
selbst zurück; dies vielleicht auch, weil in früher Zeit wie dargestellt Innen und
Außen, das Ich und die Andern noch nicht genügend abgegrenzt und unterschieden sind und
so Ursprung und Ziel einer aggressiven Regung leicht verkannt werden.
Die gute Mutter
indessen hält solche gierigen und destruktiven Triebäußerungen aus, fängt sie
auf und gibt sie nicht vergeltend zurück. Sie ermöglicht dem Kind so, die
Triebäußerungen als seine eigenen zu erleben und fördert damit die Herausbildung
von Ansätzen für ein autonomes Ich als Träger von Bewusstsein, Wahrnehmung und
Steuerung. Zusätzlich erfährt das Selbst des Kindes als narzisstische Größe
durch die gewährende und bewundernde Mutter eine wesentliche Stärkung. Auch gelingt es
dem kleinen Kind allmählich, die bis dahin getrennten und unterschiedlich mit Liebe und Hass
besetzten mütterlichen Teilobjekte in seinem Inneren zu einem einheitlichen, wenn auch in sich
ambivalenten Bild von der Mutter zusammenzufügen. Dieser im Inneren als einheitliche und ganze
Figur repräsentierten Mutter gegenüber beginnt das kleine Kind Regungen der Schuld und
der Wiedergutmachung zu entwickeln [[10]]. Mit der Aufnahme von
Beziehungen zu ganzen Personen, die im seelischen Binnenraum ihre angemessene Abbildung besitzen,
geht eine Festigung der Kategorien von Innen und Außen, von Phantasie und Realität, von
Eigenem und Fremdem sowie die Entstehung eines kohärenten Körperbildes einher.
Das
alles steht noch ganz im Bannkreis oralen Geschehens und oraler Formen der Befriedigung, aber es
bildet doch schon die Grundlage für die Schritte zu weiterer Verselbstständigung und
Ablösung des Kindes unter Zuhilfenahme eines Dritten, in der Regel des Vaters, als eines
Leitbilds auf diesem Wege.
Wir können an dieser Stelle die Schilderung des normalen und
einigermaßen glücklichen Ganges der Entwicklung und Reifung des kleinen Kindes
abbrechen, denn wir haben mit unserer Betrachtung schon die Strecke des Entwicklungsweges
abgeschritten, auf der in den Fällen einer schweren, sogenannten strukturellen Perversion (mit
der wir es bei Haarmann zu tun haben) die Störungen und Beeinträchtigungen oder genauer
und besser: die Katastrophen auftreten, die für das erst im Prozess der seelischen
Menschwerdung begriffene kleine Kind nicht in angemessener Weise zu bewältigen sind und die es
zu bestimmten Maßnahmen zwingen, die weit über seine Kräfte gehen [[11]]. Die sich in diesen Fällen ergebenden tiefgreifenden
Störungen behindern die weitere Ausbildung und Entwicklung schwer und führen zu kaum
wiedergutzumachenden Brüchen im Aufbau der seelischen Strukturen und in der Organisation der
psychischen Funktionsmodi.
Wir müssen uns also zunächst mit der das Kind so
verfrüht und schwer treffenden Katastrophe befassen und sodann mit den verzweifelten
Bemühungen des noch ganz unfertigen Kindes, mit dieser Katastrophe halbwegs zurande zu
kommen.
Die Katastrophe ereignet sich früh zu einer Zeit, in der das Körperschema
noch nicht stabil ausgebildet ist, in der die Grenzen zwischen Innen und Außen, Physischem
und Psychischem, Illusionärem und Wirklichem noch verschwimmen und in der das kleine Kind zur
Ausbildung eines funktionstüchtigen Selbst im Sinne eines die libidinösen und
narzisstischen Strebungen organisierenden und integrierenden personalen Zentrums in extremer Weise
auf oral- libidinöse und narzisstische Zufuhr von Seiten der Mutter angewiesen ist, wobei die
Mutter noch nicht als eine einheitliche Figur wahrgenommen wird.
Die Katastrophe selbst wird
ausgelöst durch eine nicht genügend fürsorgliche und empathische Mutter. Der
Säugling wird so in seinen oral-libidinösen und seinen narzisstischen Bedürfnissen
früh und tiefgreifend im Stich gelassen und enttäuscht. Aus unerträglichen
Verlassenheitsängsten und abgrundtiefer Verzweiflung wachsen oral- sadistische Wut und
erbarmungsloser Hass [[12]]. Diese fallen jedoch - nach
dem schon beschriebenen Muster - auf den Säugling zurück und werden von ihm als von
der mütterlichen Brust ausgehende und seine Existenz mit Vernichtung bedrohende orale
Verfolgung erlebt. Diese Verfolgung weckt psychotische Ängste vor Auflösung und
Auslöschung der bis dahin gewachsenen aber noch unfertigen und ungesicherten inneren
Strukturen. Eine Vorstellung von der Gewalt dieser Vorgänge, die ja nicht erinnert werden
können, die jedoch durch spätere analytische Rekonstruktion oder durch direkt
beobachtbares Säuglingsverhalten eine gewisse Bestätigung und Plausibilität
erhalten, gibt ein Bericht Winnicotts [[13]] über ein 4
Monate altes Kind, das auf den Verlust seiner Mutter mit der Tendenz reagierte, sich die Faust bis
in die Kehle zu stecken, so dass es gestorben wäre, wenn man es nicht davon abgehalten
hätte. Nun ist die Mutter in unserem Falle ja physisch nicht gestorben, aber die Katastrophe,
die den Säugling überfällt, kann allem Anschein nach auch durch eine psychisch tote
oder abwesende Mutter ausgelöst werden. In diesem Zusammenhang sind psychoanalytische
Mitteilungen [[14]] interessant, nach denen die Mutter in
Fällen der uns beschäftigenden Art ihr Kind durchaus liebt und besonders um das
körperliche Wohlergehen des kleinen Kindes übermäßig besorgt ist, diese Liebe
und Fürsorge aber von eher unpersönlicher Natur sind. Diese Mütter behandeln so ihr
Kind mehr als ihre Sache, als ihr ‚Ding-Geschöpf’, denn als ein heranwachsendes
eigenständiges Wesen.
Manche dieser noch recht äußerlichen Charakteristika
finden in Haarmanns früher Kindheit - soweit hier überhaupt Hinweise vorliegen
- eine gewisse Parallele. So wird die Mutter als eine einfältige, etwas blöde und
früh verbrauchte Person geschildert, die seit der Geburt ihres siebten und jüngsten
Kindes, eben Friedrichs, in ihrem 42. Lebensjahr stets bettlägerig dahinkränkelte, das
Kind aber von Anbeginn sehr verhätschelte [[15]]. Ihre Ehe
mit einem um 7 Jahre jüngeren Mann, der sie mit ständigen Frauengeschichten quälte,
war nicht glücklich und mag ein weiterer verständlicher Anlass für die Vermutung
sein, dass neben starker Erschöpftheit und fehlender Fähigkeit zur Einfühlung
depressive Züge des Bild der Persönlichkeit der Mutter kennzeichneten. Freilich ergibt
dies alles nicht mehr als lediglich dünne Indizien für jene innere Haltung und seelische
Struktur, die den Auslöser für die das kleine Kind treffende Katastrophe bilden.
Aussagekräftigere Hinweise liefert hier die psychoanalytische Erfahrung, dass in Fällen
schwerer Perversionen die anfangs bewunderte Mutter sich bei näherer Untersuchung in ihr
Gegenteil verwandelt und im Bild einer kastrierenden verschlingenden Hexe oder eines anderen Grauen
erregenden zähnefletschenden wilden Tieres erscheint [[16]]. Neben der Hexe und manchen anderen Bildern tauchen als
kannibalistische Imagines häufig auf: der Wolf, die Schlange, der Vampir und die Sphinx
[[17]]. Auch bei Haarmann ist diese typische
Überidealisierung der Mutter lebenslänglich zu beobachten. Er spricht von ihr stets im
Tone schwärmerischer Anhänglichkeit und weiß von ihr nur Gutes zu berichten. In
krassem - und für Fälle solcher Art wiederum typischem - Gegensatz fällt
das Bild das Vaters demgegenüber übrigens absolut negativ und verächtlich aus. Auf
ihn werden Hass und Todeswünsche offenbar von frühester Zeit an verschoben.
Zur
Abwehr der ihm drohenden Vernichtung bedient sich das kleine Kind - allgemein gesprochen und
in noch unspezifischer vorläufiger Formulierung - des Mittels der Sexualisierung der
Beziehung zur mütterlichen Brust und damit zur Mutter [[18]]. Der Säugling erlebt, nachdem er die Befriedigung schenkende
und Sicherheit gebende Brust der Mutter nicht finden kann und sich einer riesenhaften
lebensvernichtenden Bedrohung ausgesetzt sieht, dass er in seiner außerordentlichen Not die
Bedrohung abwenden oder wenigstens hinlänglich beschwichtigen kann, wenn er - vorerst
- nicht fordert und zu nehmen versucht, was er so sehnlich begehrt, sondern der
mütterlichen Brust erst einmal jene Zufriedenheit gibt oder zu geben sich bemüht, nach
der sie sich - wie er dunkel ahnt - sehnt. Indem er die Brust, insbesondere die
Brustwarze, mit seinen Lippen, seinem Mund, und vor allem mit seiner Zunge umspielt und
umschmeichelt, erlebt er eine Art rauschhafter Ekstase und einen Zustand beidseitiger
quasi-orgiastischer Verzückung, der ihn überwältigt und der ihm - so darf man
sagen - mehr gibt als er ursprünglich verlangt oder erwartet hat, nämlich erst
einmal nur Angstminderung und orale Befriedigung sowie narzisstische Stärkung, und vor allem
mehr als er mit seinen noch unfertigen Mechanismen der Triebabfuhr verarbeiten und verkraften kann.
So mögen die ursprünglichen oralsadistischen Hass- und Wutregungen durch die
Überstimulierung wieder in Kraft gesetzt werden. Ein Indiz für diese frühe
Überreizung und die fehlenden Möglichkeiten einer adäquaten Reizverarbeitung und
-abfuhr ergibt sich bei Haarmann aus der lebenslänglich bei ihm auftretenden Inkontinenz
in Fällen der Erregung. Zwar gehört die hier auftretende nicht beherrschbare
Defäkation einer späteren Entwicklungsstufe an, aber auch hier ist offenbar eine
angemessene Erregungsabfuhr nicht gelungen.
Die soeben gegebene Schilderung der
Sexualisierungsvorgänge ist natürlich noch viel zu grob, zu impressionistisch und vor
allem zu adultomorph, um den verwickelten Verhältnissen zwischen dem Säugling und seiner
Mutter gerecht zu werden. Sie bedarf so in mehrfacher Hinsicht der Ausfüllung und
Verdeutlichung.
Die frühe Sexualität des Kindes hat eine polymorph-perverse
Gestalt. Sie ist nach Quellen, Zonen, Modalitäten und Objekten noch nicht festgelegt. Eine
Geschlechtsidentität ist in dieser frühen Zeit noch nicht entwickelt. So weisen die
Strebungen des kleinen Kindes schon von Hause aus und bei regulärem Gang der Dinge eine
bisexuelle Natur auf. Im Falle einer entstehenden Perversion erhält diese Bisexualität
jedoch eine besondere Aufladung. Das erregende und erregte Spiel des die Brustwarze mit Lippen und
Zunge umschmeichelnden Säuglings legt für die halluzinatorische und illusionäre
Erlebnisweise der frühen Zeit mit ihrer noch nicht aufgelösten Ungeschiedenheit zwischen
Innen und Außen, Eigenem und Fremdem sowie Wunsch und Wirklichkeit die unscharfe und
verschwommene Vorstellung nahe, dass die beiderseitigen
Zungen = Brustwarzen sich in eigentümlicher Weise
miteinander verknüpfen und sich in einer Art
Mundhöhle = Brust befinden.
Die Entstehung dieser
Phantasie kann man sich so vorstellen, dass der Säugling die mütterliche Brustwarze mit
seiner Zunge durch Reiben, Lecken und weitere Dienste einer übermäßigen
Unterwürfigkeit unter gespürte und geahnte fremde Bedürfnisse erregt und dass diese
mütterliche Erregung aus der Perspektive des Säuglings dazu führt, dass die Mutter
ihren gleichgültigen, abweisenden und verfolgenden Charakter verliert, sich ihm zuwendet und
seine libidinösen und narzisstischen Bedürfnisse erfüllt - und
übererfüllt. Naheliegenderweise und sogar mit einer Spur von Berechtigung wird der
Säugling seine Befriedigung sozusagen als Ergebnis eigener Leistung halluzinieren und sich der
omnipotenten Illusion hingeben, er sei in gleicher Art und Weise wie die mütterliche
Brustwarze ihm gegenüber so jetzt der Mutter gegenüber aktiv und erfolgreich. Die
Beschränktheit der oralen Formen und die ohnehin bestehende Neigung des Säuglings, seine
Zunge mit der mütterlichen Brustwarze zu verbinden und zu verwechseln, sowie gewisse
masturbatorisch-autoerotische Erfahrungen machen auf seiner Seite die Phantasie plausibel, dass er
seine Zunge als aktive, produktive und Erregung und Lust spendende Brustwarze erlebt genau so wie
die mütterliche Brust. Dabei wird er in seiner Vorstellung zwischen seiner Brustwarzen-Zunge
und der mütterlichen Brust kaum unterscheiden und beide in magischer Weise in eins setzen und
in einer Art Mundhöhle unterbringen. Hervorzuheben und für alles weitere festzuhalten ist
die meines Erachtens freilich nicht ganz unberechtigte Illusion des Säuglings, die erregte und
nunmehr Lust und Befriedigung spendende mütterliche Brust sei Ergebnis seiner eigenen
Bemühung und seine eigene Schöpfung.
Wollte man den gesamten Vorgang -
wohlgemerkt, wie er sich in der Phantasie des Säuglings als prinzipiell reziproker wenn auch
natürlich unscharf gefasster Prozess abspielt - in eine halbwegs passende
Modellvorstellung überführen, so bietet sich nach meinem Dafürhalten die Szenerie
des gleichzeitig und beiderseits praktizierten Zungenkusses an, wobei freilich die beiden Zungen
merkwürdig miteinander zusammenhängen [[19]].
Aufschlussreich ist hier der Traum eines Perversen, der in der Literatur berichtet wird [[20]]:
After a long holiday, a patient who was
a frotteur and who usually spoke at length and in an intellectual tone dreamt that he was returning
by ship and engaged in sexual play with a young woman. He gave her a kiss and, on separating, her
tongue stretched and stretched in such a way that it always remained in his mouth.
Allerdings ist stets im Auge zu behalten, dass im Zusammenspiel von Kind und Mutter eine gewisse
Zweiphasigkeit des Vorgangs zu beobachten ist - der Säugling in seiner Not
stößt das Spiel an - und weiter und vor allem, dass das ganze in der einseitigen
halluzinatorischen Perspektive des Säuglings ein in Ansätzen zweiseitiger Vorgang ist,
der freilich auch in Wirklichkeit ‚objektiv’ Elemente einer (vom Säugling
freilich nicht erfassbaren) Zweiseitigkeit enthält, wie weiter auszuführen bleibt.
Die zur Zeit größtmögliche Annäherung an solche unbewussten Vorstellungs-
und Phantasiewelten, die ja direkt nicht beobachtbar sind, ergibt sich aus den Erlebnissen und
Erfahrungen in der analytischen Situation. So soll zur Illustration frühen oralen Erlebens ein
ganz kurzer Ausschnitt aus einem Fallbericht über die Analyse einer Perversion herangezogen
werden, aus dem deutlich wird, wie und in welchem Umfang frühe Szenen der uns
beschäftigenden Art im Übertragungsraum der analytischen Situation unbewusst reinszeniert
und wiederbelebt werden. Eine Analytikerin berichtet [[21]]:
Mir stand eine Fülle von Material
zur Verfügung, um ihm zeigen zu können, dass seine Worte für ihn eine Erweiterung
der Zunge darstellten und dass er das Gefühl hatte, diese voller Erregung an der Analyse, der
Brust, zu reiben, in der Hoffnung, sie zu erregen, anstatt die Deutungen, die Brustwarze, für
sich zu nutzen und ihren Inhalt anzunehmen. Der Leser wird sich an den ersten Traum, den ich
geschildert habe, erinnern, den Traum von der Ente mit der buntbemalten Zunge. Ich stelle mir einen
Säugling vor, der seine Zunge erregt im Mund und an den Lippen reibt und sich omnipotent die
Illusion erschafft, dass die Zunge tatsächlich die Brustwarze ist, sowie B. omnipotent davon
überzeugt war, dass seine Worte tatsächlich Deutungen waren und seine masturbatorische
Erregung auch in seine Objekte projiziert wurde.
Aufgrund von Erfahrungen, wie sie in
diesem Bericht mitgeteilt werden, lassen sich frühkindliche Erlebnisweisen -
natürlich nur annäherungsweise -rekonstruieren. Für unsere Diskussion der
frühen Verhältnisse ist einmal der Hinweis wichtig, dass Zunge und Brustwarze
hinsichtlich ihres Erregungspotentials in gewisser Weise gleichgesetzt und verwechselt werden
können und zum anderen die Mitteilung, wie bei der Herstellung dieser illusionären
Gleichung Vorstellungen von Omnipotenz und halluzinatorische Kräfte zu Werke gehen. Offen
bleibt die Frage, ob es sich bei der vom Säugling halluzinierten ansatz- und umrisshaften
Zweiseitigkeit des Vorgangs ‚in Wahrheit’ lediglich um eine einseitige Veranstaltung
handelt, die der Säugling illusionär gewissermaßen missversteht, - von einer
solchen Version geht offenbar die Analytikerin in dem kleinen Fallbericht aus, wenn sie davon
spricht, dass das kleine Kind seine „masturbatorische Erregung auch in seine Objekte
projiziert” - oder ob es sich bei dem Ganzen doch, wenigstens partiell, um eine
‚reale’ sexuelle Wechselbezüglichkeit handelt, mit anderen Worten, ob auch
realiter eine Erregung und Übererregung der Mutter eintritt mit der Folge einer Stimulierung
und Überstimulierung des Säuglings. Ich will nicht verhehlen, dass nach meiner Auffassung
die letztgenannte Alternative die richtige ist [[22]].
Ohne die dem Säugling sich vermittelnde und ihn befriedigende reale psychische
Übererregung und Überstimulierung des mütterlichen Außenobjekts wären die
psychotischen Verfolgungsängste des Säuglings kaum zu bannen, welche ja in dem
unempathischen und unlebendigen Charakter der mütterlichen Figur ihre gleichfalls psychisch
reale Außenursache haben.
Auch in der freilich illusionären Sicht des
Säuglings mag so allmählich eine Vorstellung davon mitschwingen, dass für eine
gelingende Abwehr seiner Ängste die Erregung eines fremden Körpers und der dadurch
herbeigeführte Umschwung im Gesamtklima erforderlich ist.
Wichtiger und interessanter
als die Tatsache, dass es sich bei dem sexuellen Zusammenspiel von Mutter und Kind nicht nur um
eine einseitig halluzinierte, nebelhafte undeutliche Zweiseitigkeit auf Seiten des letzteren
handelt, sondern um eine wirkliche Korrespondenz oder wenigstens partielle Konkordanz beider, ist
die Frage nach den Gründen, die eine solche frühe Sexualisierung der Mutter-Kindbeziehung
im Sinne einer übermäßigen und verfrühten Ausbeutung der sexuellen Apparaturen
und Funktionen des Säuglings ermöglichen.
Neben der Tatsache der
Bisexualität ist schon in frühester Zeit eine Art von verschwiegener Abgestimmtheit und
heimlichem Einverständnis hinsichtlich der Rolle der beiderseitigen Sexualität zu finden.
Gerade bei gelingender Entwicklung und glückendem Zusammenspiel zwischen Mutter und Kind
regiert so etwas wie eine unbewusste Kenntnis davon, dass Sexualität etwas ist, durch das der
Mensch Erfüllung erhält, indem er sie dem Anderen schenkt. Es gibt eine Art
‚somatischen Gehorsams’ des Kindes, der zu Erfüllung der kindlichen
Bedürfnisse und zugleich zur Befriedigung der Mutter führt. Lichtenstein [[23]] schreibt hierzu:
Damit benutzt der
Mensch die nicht der Fortpflanzung dienende Sexualität in einmaliger Weise: er wird zum
Instrument für die Erfüllung von Bedürfnissen eines anderen, Bedürfnisse, die
in einer symbiotisch strukturierten Umwelt als primitive Modalitäten einer
Gefühlsinteraktion vermittelt und wahrgenommen werden.
Diese
Frühsexualität kann in der Situation dramatischer Bedrohung durch psychotische
Ängste offenbar in der Weise überreizt und aufgeladen werden, dass in nuce immer schon
angelegte prototypische Potentiale, deren Entfaltung ‚an sich’ späteren
Entwicklungsphasen vorbehalten ist, vor der Zeit und im Übermaß abgerufen und aktiviert
werden [[24]]. Diese zur Abwendung extremer Not auf der
Zeitschiene nach vorn gezerrten sexuellen Potentiale ermöglichen es dem Säugling, die in
der symbiotischen Gefühlsinteraktion mit der Mutter wahrgenommenen mütterlichen Defizite,
ihre Melancholie und Unlebendigkeit, durch Erregung und Stimulierung der mütterlichen
Affektivität auszugleichen und damit sozusagen das mütterliche und das eigene Leben
zugleich zu retten zu einer Zeit, in der die Grenzen seines primär körperlichen Selbst
noch verfließen, die Objektbeziehungen noch unsicher sind und die Ich-Funktionen erst in
Ansätzen sich bilden. Dieses intime archaische Zusammenspiel von Mutter und Säugling
verdichtet sich im Laufe der Zeit und führt zur frühen Phantasie einer Zunge, die die
mütterliche Brust schafft und mit Leben versorgt. Dass die überanstrengte Frühreife
der Sexualität des Säuglings dessen weitere psychosexuelle Entwicklung schwer
beeinträchtigt, versteht sich von selbst und wird im Folgenden näher erläutert.
Die besondere ‚Körpernähe’ dieser Vorgänge hängt damit
zusammen, dass der Körper in früher Zeit als Sammler der Reize und Träger des
entstehenden Selbstbildes den Einwirkungen der Mutter in besonderen Maße unterliegt und
ausgesetzt ist. So kommt es, dass für die beschriebenen Praktiken vor allem die
Oberflächen und Höhlungen des Körpers in Anspruch und in Dienst genommen werden
[[25]].
Ihre Schlüssigkeit erhält die
Vorstellung einer geheimen sexuellen Kollusion von Mutter und Kind durch den Charakter der Mutter
als einer phallischen Frau, wie er sich in zahlreichen Fällen schwerwiegender
Perversionsbildungen darstellt [[26]]. Das heißt, die
Mutter hat unbewusst ihre Brust mit dem Bild eines Phallus besetzt, an dem sie kontraphobisch und
depressiv festhält. Der Säugling ahnt diese Zusammenhänge mittels des ihm
innewohnenden ‚somatischen Gehorsams’ und bestätigt die Mutter durch
unterwürfiges Umschmeicheln und Aktivieren der Brustwarze, welche ihm schließlich auch
selbst die ersehnte und notwendige Befriedigung gewährt. Man mag diese symbiotische sexuelle
Kollusion als eine archaische Variante des Ödipuskomplexes [[27]] bezeichnen und auf Seiten des Säuglings von einem Zungen
- Brust - Phallus sprechen, der sich mit dem mütterlichen Phallus magisch
verbindet, klar ist, dass das Zusammenspiel eine gewisse objektiv- zweiseitige Konnotation besitzt
und sich nicht in beidseitigen Illusionen erschöpft. Natürlich hat diese Kollusion nichts
mit einer entfalteten interpersonalen Sexualität zu tun, eher könnte man sie als eine
Autoerotik à deux [[28]] bezeichnen, die der Perverse
- so auch Haarmann - lebenslänglich wiederholt.
Man darf übrigens
vermuten, dass die egoistische Haltung der Mutter, das Kind zur Erfüllung eigener
Sehnsüchte und Wünsche zu verwenden und zu missbrauchen, mit der am Ursprung der
Perversion liegenden fehlenden mütterlichen Empathie, Pflege und Fürsorge in Zusammenhang
steht und dass sogesehen der ‚blinde Fleck’ oder die ‚tote Stelle’ im
Habitus der Mutter mit der Gegend ihres phallisch-narzisstischen Eigensinns identisch ist.
Durch die Sexualisierung der Mutter - Kind - Beziehung gelingt es dem Säugling,
sich - jedenfalls vorübergehend - eine ‚gute Mutter’ zu schaffen und
so die Gefahr eines psychotischen Zusammenbruchs einstweilen zu bannen. Diese Sequenz von
schrecklicher Angst, Aktivierung der mütterlichen Sexualität und schließlicher
eigener libidinöser Befriedigung lässt sich in der analytischen Situation rekonstruieren
und wird durch Fallberichte wie den folgenden eindrucksvoll belegt, in dem der Analytiker die
Patientin (!) zu Wort kommen lässt, bevor er den weiteren Fortgang selbst schildert
[[29]].
„I was lying in bed in
a state of great sexual excitement. I hadn’t been able to read or think all day (a thinking
inhibition had occurred intermittently whenever she felt this kind of sexual arousal). I began to
fantasize nightmare figures. The central terrifying figure was an octopus: appendages and a mouth
that devours. Also there were reptiles, prehistoric monsters, things that were coiled up and could
spread out and do harm and strangle. Than I had the fantasy of being forced to perform
‚fellatio’”. She was frightened, yet at the same time so excited that she
„had to” masturbate.
Bis in die banalen und alltäglichen Einzelheiten
des Lebens lässt sich im übrigen die Wirksamkeit des perversen Mechanismus der
Gefahrenabwehr durch (primär orale) Sexualisierung nachweisen. So macht Theodor Lessing bei
Haarmann die folgende Beobachtung [[30]]: „Wenn er den
Faden verliert (denn er muss wie Sternes Korporal Trim ‚alle Sachen ganz von vorn
erzählen’) macht er eine typische Leckbewegung mit der fleischigen Zunge.”
Der (horizontale) Riss in der sich erst entwickelnden Struktur des Säuglings, der durch ein
verfolgendes mütterliches Teilobjekt hervorgerufen wird und den der Säugling verzweifelt
und mühsam durch Sexualisierung zu kitten sich bemüht, kennzeichnet den Kernkomplex der
Perversion [[31]]. Er behindert und beeinträchtigt alle
weitere Entwicklung und führt vor allem schon in frühester Zeit zu einer vertikalen
Spaltung im seelischen Gewebe des Kindes, mit deren Hilfe es einen funktionstüchtigen
libidinösen und narzisstischen Kern mehr schlecht als recht vor den Verwüstungen der
Perversion zu retten und für den Aufbau eines Rests von intakter Ich- und Selbststruktur
nutzbar zu machen versucht. In den Fällen einer schweren Perversion, - mit der wir es
bei Friedrich Haarmann zu tun haben - , ist dieses Rest-Selbst von besonderer Schwäche
und hält sich nur mühsam mithilfe archaischer Abwehrmechanismen wie etwa der Verleugnung
der wahren und der Idealbildung der ‚guten Mutter’ und der eben erwähnten
Spaltung über Wasser. - Haarmann selbst empfindet sich als einen Menschen „mit
zwei Seelen” [[32]]. - Das Grunddilemma des
Perversen indessen besteht darin, für die Entwicklung seiner libidinösen und
narzisstischen Struktur einerseits auf die Figur der Mutter angewiesen zu sein, vor der er
andererseits auf der Hut sein und die er beschwichtigen muss. So versucht der Säugling die zur
Komplettierung und Arrondierung seines Körper- Selbst, zur Entwicklung authentischer
Sinnlichkeit und zum Aufbau narzisstischer Stabilität erforderliche Internalisierung von
Teilaspekten der ‚genügend guten Mutter’ dadurch zu erreichen, dass er qua
Sexualisierung die gute Brust selber schafft, um sie dann quasi als Übergangsobjekt aus dem
intermediären Raum zwischen Illusion und Wirklichkeit, Eigenem und Fremdem sowie Innen und
Außen in den seelischen Binnenraum zu transportieren. Dieses ‚Als-ob’ -
Übergangsobjekt [[33]] indessen (wie auch alle seine
späteren Äquivalente in Haarmanns Leben, die Zungen und die Genitalien der Jungen)
erweist sich als nicht hinlängliches Transportmittel für eine stabile Internalisierung
der gewünschten mütterlichen Eigenschaften, teils, weil es den der willkürlichen
Einwirkung des Säuglings offenen selbstverständlichen Dingcharakter entbehrt, vielmehr im
Gegenteil das Produkt äußerster Überanstrengung ist, teils, weil es immer mit dem
gewissermaßen hinter ihm lauernden Grauen belastet ist. Was internalisiert wird, ist danach
lediglich das Bild einer ‚toten’, freilich aktivierbaren Brust. Wenn so auch die
endgültige und verlässliche Installierung hinreichend guter mütterlicher Objekte im
Innenraum nicht gelingt, so kann doch das Bild der guten Mutter vorübergehend heraufgerufen
und aufrecht erhalten werden. Es scheint dann eine gedeihliche normale Weiterentwicklung
möglich zu sein. Aber es scheint nur so: Die verfolgenden Objekte treten wieder auf den Plan,
in der Sprache der Affekte: der Hass, wenn auch für den Augenblick erotisch gebunden,
schlägt wieder durch, führt zu schwerer und erschöpfender Angst und lähmt so
die für die Weiterentwicklung nötigen Kräfte [[34]]. Der Säugling wird so stets erneut in den
verhängnisvollen Zirkel von Angstabwehr durch Erotisierung gezwungen, wobei daran zu denken
ist, dass gerade durch den vorübergehenden Zustand libidinöser und narzisstischer
Befriedigung die Erinnerung an die ursprüngliche Katastrophe wach gerufen wird und auch so der
entsetzliche Kreislauf von Hass, Angst und sexualisierter Abwehr aufrecht erhalten wird. Dessen
ungeachtet oder besser: gerade deshalb erlaubt und gewährt die stets durch Sexualisierung
erneut geschaffene Mutter-Kind-Beziehung mit ihrer libidinösen Gratifikation und ihrer
narzisstischen Stärkung eine gewisse Affekthomöostase und ein prekäres Gleichgewicht
der Kräfte. Diese Affekte und Kräfte weisen im übrigen ganz unterschiedliche
Qualitäten und Formen auf. Die Erschaffung der Brust als fetischhafter Schöpfung
vermittelt dem Kind das Gefühl, vorhanden und lebendig zu sein angesichts drohender Leere,
Erschöpftheit und einer Art psychischer Katatonie. Zugleich ist diese überanstrengte
Hervorbringung eine reparative Geste des Säuglings gegenüber der Mutter, deren
Bedrücktheit und Kummer er spürt, die er aber in ihren bedrohlichen Seiten gleichzeitig
unter Kontrolle hält. Schließlich kann das immer wiederholte und fehlschlagende
Unternehmen der Errichtung einer guten mütterlichen Brust auch als der verzweifelte Versuch
des Säuglings verstanden werden, zu einer tragfähigen Grundlage für seine
Weiterentwicklung und damit zu einer Form von Heilung und Selbstheilung zu gelangen.
Halten
wir fest: Die konstitutiven Merkmale für das Unglück des Perversen liegen schon in sehr
früher Zeit fest. Die Integration eines, wenn auch ambivalenten, so doch überwiegend
guten, kohärenten und einheitlichen Mutterbildes gelingt aus Gründen auch der
äußeren Wirklichkeit einer partiell unlebendigen und uneinfühlsamen phallisch-
narzisstischen Mutter nicht. Damit misslingt auch die hinlängliche innere Personalisierung des
Subjekts, seine schließliche Abtrennung vom Mutterobjekt sowie die Etablierung der
Fähigkeit, Beziehungen zu vollständigen personalen Objekten im Außenfeld
aufzunehmen. Der mit dem Mittel der Aufbietung aller verfügbaren sexuellen Energien
geführte ständige verzweifelte Abwehrkampf gegen rabiate verfolgende Introjekte
führt zwar durch temporäre Verschmelzung mit der mütterlichen Brust immer wieder zu
einem vorübergehenden Zustand libidinöser Sättigung und primär-narzisstischer
Befriedigung, dieser Erfolg wird jedoch mit schweren Einbußen bei der weiteren Entwicklung
und Differenzierung der seelischen Strukturen des Subjekts allzu teuer erkauft. Man könnte
sogesehen das habituell gewordene Szenario des Perversen durchaus als einen - freilich allzu
kostspieligen - Strukturersatz bezeichnen: In weitem Umfang treten Erregungsintensität,
Affektqualität und Körpersensation an die Stelle differenzierter seelischer Organisation
und Strukturbildung. Das Körperbild bleibt infolgedessen inkomplett und instabil. Die
Fähigkeit zur Symbolisierung, das heißt zu einem metaphorischen Umgang mit den
Erlebnissen der inneren und äußeren Welt, ist beeinträchtigt und zwingt zu einem
konkretistischen Verhaltungsmodus. Auch die anderen Ich- Funktionen bleiben in ihrer Entwicklung
eingeschränkt und lädiert: Bewusstsein und Wahrnehmung, die Trieb- und Affektkontrolle
sowie der Realitätsbezug. Das Ich- Ideal bleibt an ein prägenitales Modell gebunden. Die
maßlose und verfrühte Ausbeutung der Sexualität hat Störungen der weiteren
Triebentwicklung zur Folge. Die Befähigung, Beziehungen zu äußeren und inneren
Objekten aufzubauen, bleibt fragmentiert, ebenso die Möglichkeit des Aufbaus stabiler
Selbstrepräsentanzen.
Die vorstehend genannten Charakteristika sind bei Haarmann mit
Deutlichkeit feststellbar [[35]]. In Gesprächen begleitet
und unterstreicht Haarmann das jeweils Thematisierte mit drastischen körperlichen Gesten. So
ahmt er, wenn er von der Zerstückelung der Leichen redet, die Schnitte mit den Händen
nach [[36]]. In dem Gespräch mit dem psychiatrischen
Gutachter ist ferner zumeist eine situationsinadäquate Gefühlseinstellung Haarmanns
spürbar. Betroffenheit und Mitgefühl mit den Opfern sind kaum vorhanden. Auch nimmt
Haarmann die Jugendlichen, mit denen er verkehrt, gar nicht als eigene selbständige Personen
wahr. Bezeichnend ist seine häufige Antwort auf Vorhaltungen in dieser Richtung: „Ooch,
das waren doch alles Puppenjungens, die taugten doch nichts.” [[37]] In seinem Selbstbewusstsein schwankt Haarmann ständig
zwischen überzogener Grandiosität (: „... jetzt kennen sie mich
allerwärts.” [[38]]) und kindlicher
Unbedarftheit.
Die bisher vorgelegte - freilich notwendig grobe und allgemein gehaltene
- Skizze der die Organisation und Dynamik der Perversion unterhaltenden Kräfte reicht
bei Licht besehen eigentlich schon aus, um das Getriebene, Zwanghafte, Süchtige und
Mechanische an Haarmanns Verhalten aus den Bedingungen einer frühen und nahezu unrevidierbaren
seelischen Fehlstrukturierung zu erklären oder jedenfalls nachvollziehbar und plausibel zu
machen.
Gleichwohl soll noch ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung und Ausbildung der
perversen Struktur geworfen werden, um das, was sich in der perversen Szene abspielt, vielleicht
noch etwas konkreter und damit verständlicher zu machen. Natürlich können auch hier
wieder nur einige wenige für die Strukturbildung besonders signifikante Momente hervorgehoben
werden.
Während der Etappe der analen Triebentwicklung, in der sich das
ursprüngliche Unglück des Kindes wiederholt und in der einer unmittelbaren Befriedigung
wiederum massive Reaktionsbildungen entgegenstehen, findet die archaische Phantasie, durch die
Vereinigung mit die Mutter in den Zustand einer absoluten Triebbefriedigung und eines
primärhaften Narzissmus zurückzukehren, seinen Ausdruck unter anderem in der unbewussten
Wunschvorstellung, sich in den mütterlichen Leib hineinzubewegen und von ihm umhüllt zu
werden. Dabei ist das Bild von den Faeces, die sich im Körper befinden und bewegen,
bestimmend. Das Kind identifiziert hier den eigenen Körper mit demjenigen der Mutter und die
Faeces mit sich selbst. Gewiss spielen bei diesen Phantasiegestalten auch Strebungen aus
früherer Zeit nach umhüllendem Hautkontakt und enger Umarmung etwa und Tendenzen einer
späteren Entwicklungsphase nach einem (allerdings durch Abwehr verformten) genitalen
Eindringen mit. Es ist fast überflüssig, darauf hinzuweisen, dass dieses förmliche
Hineinkriechen auch die Funktion erfüllen soll, einen Schutz vor dem eigenen Hass und seinen
desaströsen Folgen, Desintegration und Vernichtung, zu finden. Diese Gefahren sind indessen
- wie wir gesehen haben - nicht endgültig zu bannen. Und so wird gerade das
Umhülltsein wiederum als eine massive Gefahr erlebt, der gegenüber ein Rückzug immer
möglich bleiben muss. - Haarmanns transvestitische Betätigungen in seiner Kindheit
wie auch seine Schwierigkeiten bei der Kontrolle seiner Fäkalfunktionen gehören in diesen
Zusammenhang. - Ein gutes Beispiel dafür, wie diese einander widerstreitenden
Bestrebungen sich in Phantasiebildern und in der analytischen Situation niederschlagen, gibt der
folgende kurze Ausschnitt aus dem Bericht der Therapie eines Transvestiten [[39]]:
Mr Webster’s clinical material is
abundant with expressions of the core complex. For example, he gave characteristically concrete
expression to his longing for ‘envelopment’ in imagining himself crawling up the birth
canal and snuggling up inside the womb. But this gradually became supplanted by annihilatory fears
expressed in terms of ‘getting stuck inside’ and he went on to think of various
pot-holing incidents all centring round the theme of being trapped underground. In another session,
he expressed his longings to get free of the stifling city and the demands on his life by being on
top of a mountain, alone in the clean, fresh air; but the scene came to feel icy and
lonely.
These feelings came into the transference very clearly in Mr
Webster’s treatment and proved a constant problem throughout. For example, even when he was
still having once-a-week psychotherapy, his comparison between dressing up and getting into a warm,
protective nest could be related to his envelopment wishes in the transference and we could see how
this led to his feeling stifled by the sessions and his feeling of wanting to break out, his saying
he could well imagine what it must feel like to be a chicken in an egg, wanting to burst out of its
confining suffocating shell.
Es besteht, nebenbei bemerkt, Veranlassung zu der
Feststellung, dass Inhalt der Wunschphantasie die weitgehende Verbindung und Vereinigung mit der
Mutter ist, in der Regel aber nicht die vollständige Selbstaufgabe durch Verschmelzung mit der
Mutter, welche zu einer psychotischen Regression führen würde, und auch nicht die
Zerstörung der Realität, denn der Perverse bleibt in aller Regel zur
Realitätsprüfung befähigt und benutzt die äußere Realität gerade als
Material für die Darstellung seiner Phantasien [[40]].
Allerdings ist die Wunschwelt des ‚analen Universums’ [[41]] vor allem gekennzeichnet von dem Bestreben nach Aufhebung der
Geschlechter- und Generationsgrenzen wie überhaupt nach der Einebnung aller Differenzen und
der Sehnsucht nach dem Identischen und Gleichen. Der Wunsch danach, dass ein Körper in den
anderen eindringe, besteht aufgrund der vorhandenen bisexuellen Prägung und infolge einer
Identifikation mit der mütterlichen Figur übrigens vielfach auch sozusagen in der
Gegenrichtung. Nach meinem Dafürhalten finden manche Phänomene des Transvestismus
einschließlich der fetischistischen Benutzung von Gummi- oder Lederbekleidung hierdurch ihre
Erklärung. Ein (den ganzen Körper umfassender) Zungen- Faeces- Phallus dringt hier in den
jeweils anderen ein, - im übrigen nach dem noch durchscheinenden, allerdings
‚maßstäblich vergrößerten’ Muster des schon erwähnten
Zungenkusses. Die schwarzen Leder- oder Gummibekleidungen symbolisieren so gesehen die Innenseite
der jeweils anderen Person und stellen zugleich eine Art Schutzanzug gegen eigene und fremde
destruktive Tendenzen dar. Wie sich diese transvestitischen Phänomene in der analytischen
Situation manifestieren, sei an einem kurzen Ausschnitt aus einem Analysebericht verdeutlicht
[[42]]:
Seine Sexualität war
anormal und beschränkte sich im wesentlichen aufs Masturbieren; dabei hatte er die Phantasie,
mit dem ganzen Körper in ein Kleidungsstück aus Gummi hineinzugelangen. Schon zu einem
früheren Zeitpunkt der Analyse kamen weitere Symptome zur Sprache, vor allem ein
Erstickungsgefühl, das ihn nachts befiehl und gelegentlich mit der Empfindung einherging, als
stecke etwas in seiner Kehle oder gleite die Kehle hinunter, so dass er aufwachte, weil er es
verzweifelt auszuhusten versuchte. Darüber hinaus traten zuweilen heftige Hautreizungen an
Armen und Beinen auf.
Haarmann, das sei im vorliegenden Zusammenhang erwähnt,
zeigte in seiner Kindheit neben den schon angesprochenen transvestitischen Tendenzen die Eigenart,
dadurch Angst und Schrecken zu erregen, dass er seine Schwestern festband und ausgestopfte
Kleiderpuppen auf die Treppe legte [[43]]. Beim homosexuellen
Verkehr mit den Jugendlichen hielt Haarmann sie fest umschlungen und presste sie sehr stark an
sich. Zudem legte er sie zwischen sich und die (das Bett begrenzende) Wand, damit sie nicht
unbemerkt entkämen. Wenn Haarmann schließlich in den psychiatrischen Gesprächen
minutiös schildert, wie er die Körper seiner Opfer geöffnet, ausgeweidet und
zerstückelt hat, finden für mein Empfinden neben den zweifellos gegebenen
oral-sadistischen Phantasien auch äußerst maligne anale Vorstellungen einer zugleich
umschlingend-vereinnahmenden sowie invasiv- eindringenden Art ihren Ausdruck.
Wie jeder
Mensch so ist auch der Perverse zu einem 2-Fronten-Krieg verurteilt. Er ist einmal im früher
Zeit den Bedrohungen durch eine verschlingende und vernichtende Mutterfigur ausgesetzt und
unterliegt andererseits zu einem späteren Zeitpunkt den Gefährdungen durch eine
zerstörerische und kastrierende väterliche Gestalt. Freilich weisen diese
Auseinandersetzungen beim Perversen eine besondere Härte und Unerbittlichkeit auf [[44]]. Infolge seiner kollusiven Bindung an die Mutter treffen ihn die
Herausforderungen der phallischen und ödipalen Phase mit übermäßiger
Schärfe. Der gegen den Vater gerichtete starke Sadismus fällt in der Form verheerender
Kastrationsangst auf ihn zurück. Freilich ist hier zu bedenken, dass wie schon im analen
Bereich so auch jetzt in der phallisch - genitalen Phase jede neue Triebversagung die
ursprüngliche frühe Katastrophe verstärkt samt ihren archaischen und inzwischen
verfestigten Reaktionsbildungen und Rettungsversuchen, so dass etwa der jetzige Hass gegen den
Vater in seiner Intensität auch von dem frühen gewaltigen Hass gegen die versagende
Mutter mit gespeist wird. So kommt es, dass einerseits das urtümliche unbewusste Bild von der
verfolgenden Mutter jetzt zusätzlich väterlich-männliche Züge erhält und
dass andererseits mittels Spaltung und Verschiebung (abermals) versucht wird, alle Merkmale des
Verfolgenden und Vernichtenden in der Figur des Vaters unterzubringen, um so das Ideal der
hinlänglich guten Mutter aufrechtzuerhalten. Von Haarmann wird so berichtet, dass er, der
seine Mutter vergötterte, für seinen Vater nichts als Hass übrig hatte, wofür
freilich der Charakter seines zänkischen und übellaunigen Vaters mehr als nur einen
Anlass bot.
Das enge identifikatorische Band zur Mutter bleibt bei allem bestimmend und
führt unter anderem dazu, dass neben einer schwachen männlichen Identifizierung die
negative Ausprägung der Ödipus-Komplexes besonders zur Geltung kommt. Im Ergebnis wird
die immer festgehaltene unentschiedene bisexuelle Einstellung weiter verstärkt [[45]],
zumal das Bild der phallischen Frau auch einigen Schutz gegen die horrenden Kastrationsängste
bietet. Die Internalisierung eines stabilen und funktionstüchtigen Über-Ich kann unter
den geschilderten Umständen nicht gelingen. Eine einigermaßen intakte Wahrheits- und
Realitätsorientierung wird nicht ausgebildet. So ist auch das erwachsene Leben Haarmanns
jenseits seiner sexuellen Besonderheiten eine einzige Kette von Unregelmäßigkeiten,
Betrügereien und Diebstählen.
Hinsichtlich der narzisstischen Entwicklung bei der
strukturellen Perversion bleibt zu bemerken, dass das Kind in der phallischen Phase das unbewusste
Bild der Mutter von dem, was das Kind für sie ist, nämlich ihr
‚Ding-Geschöpf’, ihr Phallus, internalisiert und damit eine kostspielige, wenn
auch hilfreiche Stabilisierung seiner Existenz in der Form eines ‚falschen Selbst’
erlangt [[46]]. Immer schon ahnte das Kind, dass das, was die
Mutter in ihm sah, von seinem wirklichen Wesen gesondert und verschieden sei. Nun aber zwingt es
die Not der ödipalen Auseinandersetzungen dazu, wie schon in frühester Zeit die
mütterliche Brust so jetzt unter weitgehender Verausgabung seiner Kräfte ein falsches
Fremdbild seiner selbst als Element seines narzisstischen Innenausbaus zu übernehmen. In
beiden Fällen geht es ersichtlich um dieselbe unbewusste mütterliche Vorstellung des
Besitzes eines - depressiv eingekleideten - Phallus, für dessen Aufrecherhaltung
das Kind mit seiner ganzen Existenz herhalten muss. Wir dürfen daher davon sprechen, dass die
neuerliche Aufnahme der mütterlichen Projektion, da in analoger Richtung und mit analogen
Mitteln vorgenommen, in gewisser Weise eine Art ‚psychischer Verlängerung’ der
ersten Internalisierung ist. Das Zusammenspiel der beiden vom Kind aufgenommenen und verarbeiteten
projektiv ihm aufgeladenen Illusionen der Mutter, einen Phallus zu besitzen (in Form der Brust und
des Kindes), wird sehr markant und anschaulich durch die kurze Antwort eines Perversen auf die
Frage charakterisiert, was denn das Wesentliche an der Perversion sei [[47]]: „Etwas Langes leckt etwas Kurzes”, wobei die
Antwort bei aller Prägnanz freilich unterschlägt, dass der zitierte Vorgang eine
Abwehrmaßnahme gegen massivste unbewusste Ängste darstellt.
In der perversen Szene
erfahren die beiden Innenbilder ihre theatralische Darstellung. Indem der Perverse das Genitale der
Jugendlichen durch masturbatorische Praktiken zur Erektion bringt, schafft er in magischer
Inszenierung beides: den lebensrettenden mütterlichen Brust-Phallus und den existenzsichernden
Phallus der Mutter, der er selber ist. In einem Fallbericht (über einen Vorhaut-Fetischisten)
[[48]] kommen diese beiden Funktionen des Penis-Fetischs
deutlich zum Ausdruck:
Der Vorhaut-Penis hatte für ihn im Stadium
der Erektion eine ganz spezifische magische Bedeutung. Er war für ihn der ideale Brust-Penis
der frühen oralen Stufe und erfüllte ihn mit einem Gefühl ehrfürchtiger Scheu,
Faszination und quälender Erregung. Wenn er den Vorhaut-Penis zu drangvoller Lebendigkeit
erweckt hatte, empfand er ihn als seine ‚Schöpfung’ und dementsprechend
behandelte er ihn auch. Anschauen, Berühren und Riechen spielten in seiner Beziehung zu ihm
eine große Rolle. Die lustvollen Möglichkeiten dieser Situation schienen ihm
unerschöpflich, und er wünschte sich, ganz darin aufzugehen. Das Ganze glich eher einem
halluzinatorischen Bild als einer Wahrnehmung eines separaten Organs einer anderen Person oder der
Wahrnehmung dieses Organs als symbolischem Vehikel für eine Beziehung.... Mit dem regressiven
Beziehungsmodus zum Vorhaut-Penis-Fetisch war der Zusammenbruch der symbolischen und
sekundärprozesshaften seelischen Aktivitäten verbunden. Der Patient hatte das
Gefühl, diese magische Objekt erschaffen zu haben, und durch Ansehen und Berühren sowie
orale Inkorporation wurde er dieses Objekt. Für den Patienten hatte es die Bedeutung, dass er
die ursprüngliche Einheit mit der omnipotenten nährenden Brust-Mutter ganz konkret
wiederfand und wieder neu erschuf.
Um der Sache willen muss an dieser Stelle mit
Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass - wie es in dem Bericht zutreffend heißt
- der gesamte Vorgang nichts mit dem Prozess einer Symbolisierung oder einer symbolhaften
Verwendung eines Gegenstandes zu tun hat. Es handelt sich vielmehr um eine traumhaft-magische
Reinszenierung von Vorgängen der frühesten Entwicklungszonen, mittels derer ein im Werden
begriffenes Subjekt versucht, erste Bilder des Körpers, des Selbst und des Realen einem
amorphen Universum von verschwimmenden und verwirrenden Eindrücken, Reizen und Erlebnissen
abzugewinnen und zu substantiieren. Der erigierte Penis der Jugendlichen hat damit in der perversen
Szene die Funktion eines Übergangsobjekts. Da seine Verwendung freilich die ihm zugedachte
Funktion niemals befriedigend erfüllen kann, wird meines Erachtens (wie erwähnt)
zutreffend von einem ‚Als- ob’ - Übergangsobjekt gesprochen.
Nach
allem gilt für die strukturelle Perversion: Das schwere frühe Trauma und der verzweifelte
aber letztlich vergebliche Versuch einer Bewältigung seiner Folgen mit sexuellen Mitteln
führen - hauptsächlich wegen der Introjektion krass widersprüchlich und
disparat besetzter Teilobjekte - zu einem niedrigen Niveau der seelischen Organisation
hinsichtlich der Ausbildung hinlänglicher Ich- und Über-Ich-Kapazitäten, der
Möglichkeit zur Unterhaltung befriedigender Beziehungen zu personalen Objekten, der
Aufrichtung eines halbwegs sicheren und authentischen Körper- und Selbstbildes sowie der
Entwicklung einer relativ stabilen sexuellen Identität. Die verfrühte und
übermäßige Inanspruchnahme und Ausbeutung der sexuellen Anlagen bringt eine auch
später beibehaltene bisexuelle Orientierung mit sich, die sich in einer unbewussten
Identifizierung mit einem Zungen/Brust-, Faeces- und Ganzkörper-Phallus niederschlägt.
(Parallel dazu sind Umrisse unbewusster Identifizierungen im Sinne einer Mund-, Anus- und
Ganzkörper-Vagina zu entdecken. [[49]])
Funktionell
ist ein Bündel auf Teilobjekte bezogener widersprüchlicher und nicht in eine entwickelte
Struktur integrierter aggressiver und libidinöser Partialtriebe zu beobachten. Entscheidend
bleibt in funktioneller Hinsicht das Agieren der „archaischen Matrix des
Ödipuskomplexes” als einer Abwehroperation gegenüber dem Grauen psychotischer
Verfolgungsängste, die immerhin den - vorübergehenden - Erfolg einer
libidinösen Entlastung und narzisstischen Stabilisierung zeitigt. Der reparative Charakter des
Gebrauchs des Sexualapparates und der sexuellen Antriebe zur Aufrechterhaltung und Befriedigung des
internalisierten mütterlichen Phallus in seiner Doppelgestalt macht im Übrigen ein
wirklich orgiastisches Erleben unmöglich und lässt lediglich eine phallische,
pseudo-genitale Erregungsabfuhr zu, die beim Perversen ein Gefühl der Vergeblichkeit und
Untröstlichkeit hinterlässt.
In der perversen Inszenierung bringt der Perverse das
Theaterstück seines Unglücks immer wieder zur Aufführung. Dass er dabei stets die
Realität und vor allem die Realität einer anderen Person mit einbezieht, darf eigentlich
nicht verwundern, liegen doch die Wurzeln seines Unglücks in einer Vergangenheit, in der es
ihm misslang, einer amorphen Totalität die überlebenswichtigen kategorialen Vorstellungen
innerer und äußerer, eigener und fremder sowie personaler und apersonaler Wirklichkeit
überhaupt erst zu entnehmen. Natürlich bringt die sexuelle Inszenierung außer der
Hoffnung auf Gewinnung und Aufrechterhaltung eines befriedigenden Realitätskontakts noch
weitere Vorteile mit sich, die kurz genannt seien.
Ganz generell schon bringt das Agieren
[[50]] als kontraphobische extrapsychische Darstellung
intrapsychischer Sachverhalte ein gewisses Maß an Entzerrung und Entlastung in struktureller
und funktioneller Hinsicht. Indem der Perverse sein inneres Dilemma so entfaltet und im
Außenraum zur Darstellung bringt, gelingt ihm in gewissem Umfang eine externe Kontrolle der
introjizierten sadistischen Objekte und Teilobjekte archaischer Herkunft, welche jetzt auf ein
reales Gegenüber projiziert werden. So kann etwa die bedrängende und ängstigende
Männlichkeit des Vaters über die projektiv verwendete Figur eines beherrschbaren
Jugendlichen gewissermaßen in Schach gehalten werden. Haarmann wählte so immer nur
männliche Jugendliche aus, die keinesfalls älter als 20 Jahre sein durften. Die Apathie,
Initiativelosigkeit und Depression des Perversen, die ihre Ursache wie gezeigt in mühsam und
mit großem Kraftaufwand unterhaltenen Positionen der Abwehr eines vernichtenden Sadismus
haben, können durch die lustvolle Begegnung mit einem Anderem in gewissem Umfang
überwunden werden. Das Ich gewinnt so zugleich einen Teil seiner Handlungsfähigkeit
zurück, und es entsteht zumindest vorübergehend die Illusion einer befriedigenden
Objektbeziehung. Ferner wird der Narzissmus des Perversen durch das Erlebnis gestärkt, einem
anderen Menschen wirklich Genuss und Lust verschaffen zu können. Auch kann die Phantasie einer
ubiquitären Zweigeschlechtlichkeit realisiert und damit in ihrer Richtigkeit sozusagen
‚bewiesen’ werden. Vor allem aber stellt die perverse Inszenierung den Versuch dar,
durch Errichtung des mütterlichen Brust-Phallus in der Realität zu einem wirklichen
Neubeginn, einer endlichen Wiederherstellung und schließlichen Heilung zu gelangen und damit
zur Rettung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Indessen stellt sich die ganze Unternehmung
bald als Fehlschlag heraus, die außer einer gewissen Erregungsabfuhr nichts als Leere,
Erschöpfung und Enttäuschung zurücklässt und abermals in den Kreislauf
letztlich vergeblicher Bemühung zwingt.
Es ist bedrückend zu sehen, wie Haarmann
noch in der ‚Übertragungssituation’ des Gesprächs mit dem gerichtlich
bestellten Psychiater nichts anderes übrigbleibt, als zwanghaft dem perversen Muster zu
folgen: Haarmanns Sehnsucht nach der guten Mutter wird in seiner Offenheit, Arglosigkeit und
Distanzlosigkeit jedem gegenüber, der freundlich zu ihm ist, fühlbar. Aber auch sein
unterschwelliger Sadismus bricht immer wieder durch („wenn ich den gehabt hätte, den
hätte ich auch umgebracht” [[51]]) - und
provoziert Empörung beim Gesprächspartner. Schließlich artikuliert sich das
sexuelle Bedürfnis in seinem unwiderstehlichen Drang zu wiederholten Malen („... ich
habe neulich schon gesagt, ich muss jetzt mal wieder was haben, das geht so nicht mehr, ich werde
richtig krank, habe ich schon gesagt” [[52]]).
Nach allem kann kein Zweifel sein, dass die Tötungen, die sich vor Haarmanns Festnahme
häuften, Ausdruck des Durchbruchs stärkster sadistisch-destruktiver Impulse waren, gegen
die die eingespielte sexuelle Abwehr nicht mehr ankam. Vieles spricht für die Annahme, dass
die ursprünglichen oralen Antriebe, die in weitem Umfang einen sadistisch-
zerstörerischen Charakter angenommen hatten, wieder in Kraft traten und die Herrschaft
übernahmen. Insofern können die durch die perversen Masturbationspraktiken
hervorgerufenen oralsexuellen Erregungen und die mit ihnen immer mehr und immer deutlicher
verbundenen schweren Versagungen und Enttäuschungen als Schlüsselreize für die
Auslösung jenes totalen Zugriffs auf das mütterliche Objekt in seiner Verkörperung
durch das jugendliche Opfer verstanden werden, in dem sich sadistisch-destruktive und erotisch-
sexuelle Antriebe in höchster Intensität untrennbar mischten und in dem die Sehnsucht
nach der Vereinigung mit der Mutter und die nach dem (fremden wie eigenen) Tod zusammenfielen. Noch
die ausführlichen und minutiösen Schilderungen der Zerstückelung der Leichen durch
Haarmann im Gespräch mit dem psychiatrischen Gutachter vermitteln den Eindruck, er habe dabei
eine Art kannibalistische sexuelle Lust empfunden. Und einen Prozessbeobachter befällt bei
Haarmann zuweilen das Gefühl, „als ob er sich vom ‚Hingerichtet-werden’
einen letzten Orgasmus verspreche” [[53]]. Auch ist
daran zu erinnern, dass in den frühen Formen oraler Befriedigung Liebe und Vernichtung ohnehin
Hand in Hand gehen. Da die Taten im Zustand tiefster Regression begangen wurden, in dem die
Ich-Instanz keinen bewussten Kontakt mehr zu dem abgespalteten perversen Geschehen unterhielt,
erscheinen im Übrigen die Beteuerungen Haarmanns glaubhaft, sich an die Umstände der
Tötungen im einzelnen nicht erinnern zu können.