psychoneuro 2003; 29(6): 299-301
DOI: 10.1055/s-2003-40490
Serie Ergotherapie

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Versorgung psychiatrischer Patienten in einer ergotherapeutischen Praxis

Clara Scheepers1
  • 1Praxis für Ergotherapie, Weinheim
Weitere Informationen
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Korrespondenzadresse:

Clara Scheepers

Praxis für Ergotherapie

Hildastr. 11

69469 Weinheim

eMail: clara.scheepers@t-online.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Juli 2003 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Ergotherapie muss auch im ambulanten Bereich integraler Bestandteil der psychiatrischen Krankenversorgung sein. Der Fokus einer ambulant durchgeführten Ergotherapie (ET) liegt auf einer handlungsorientierten Unterstützung und Begleitung der einzelnen Patienten mit dem Ziel der Wiedergewinnung psychosozialer und alltagsbezogener Kompetenzen. Dabei sind ein Management von Therapie, die Vernetzung mit anderen betreuenden Diensten neben der individuellen Begleitung gefordert. Im Rahmen eines konkreten Fallbeispieles soll aufgezeigt werden, wie in der ergotherapeutischen Praxis der individuelle Hilfebedarf eines Patienten ermittelt und im therapeutischen Prozess umgesetzt werden kann.

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Summary

Ergotherapy should be an integral element of psychiatric care, also in the ambulatory setting. The focus of outpatient ergotherapy (EP) is oriented towards supporting the patient's ability to act, with the aim of helping along the recovery of psychosocial and day-to-day competence. In addition to individual personal accompaniment this necessitates treatment management and liaising with other care-providing services. On the basis of a typical case, the present article shows how, at the practical ergotherapeutic level, the individual requirements of a patient can be identified and translated into concrete therapeutic process.

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Falldarstellung einer ergo-therapeutischen Behandlung

Grundlage der ergotherapeutischen Behandlung ist die Befunderhebung. Dies geschieht zum einen im Erstgespräch, z.T. mit Fragebogen, Beobachtungsbögen, Selbsteinschätzungsbögen sowie auch in jeder einzelnen Behandlungseinheit, die mit Verlaufsberichten dokumentiert wird. Folgende Darstellung skizziert einen ergotherapeutischen Behandlungsverlauf am Beispiel eines konkreten Fallberichtes. Die Behandlung in einer ergotherapeutischen Praxis ermöglicht es, Patienten über längere Zeiträume zu begleiten und zeitnah den notwendigen Hilfebedarf individuell anzupassen.

Herr K. zu Beginn der Therapie 38 Jahre alt, kam nach einem Klinikaufenthalt wegen eines Rezidives einer schizoaffektiven Psychose nach Weinheim in ein therapeutisches Heim der AWO und wurde von dort in Absprache mit dem Psychiater in die Praxis vermittelt.

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Anamnese

Erste Anzeichen einer Psychose mit 20 Jahren; manifeste Erkrankung nach dem Tod der Mutter, mehrere Klinikaufenthalte in den Psychiatrien Heidelberg und Wiesloch. Derzeit medikamentös auf Clozapin eingestellt, gute Response, aber hohe Gewichtszunahme.

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Persönlicher Eindruck

Herr K. ein großer kräftig untersetzter, etwas aufgedunsener Mann, wirkt ordentlich gepflegt. Er drückt deutlich interessiert, ruhig und langsam seine Bedürfnisse aus. In seinem Bewegungsausdruck zeigt sich Offenheit, aber auch ein niedriger Haltungstonus, eine gewisse Antriebsstörung und Bewegungsarmut.

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Sozial- und Arbeitsanamnese

K. stammt aus einer Handwerkerfamilie und hat eine drei Jahre ältere Schwester. Er bezeichnet die verstorbenen Eltern als autoritär, sehr religiös, zwanghaft und leistungsorientiert. Der Vater verstarb als er zwölf Jahre alt war, er wurde für die Mutter eine wichtige Stütze. Sie erkrankt an Morbus Hodgkin als er 20 Jahre alt ist; sechs Monate nach Erkrankung der Mutter deuten sich erste Anzeichen einer Psychose an. Die Mutter stirbt acht Jahre später.

Bis zum 28. Lebensjahr lebt er im Haus der Eltern, danach manifestiert sich die Psychose, sodass nach den Krankenhausaufenthalten an verschiedenen Lebensorten sozialpsychiatrische Betreuung bezogen auf Arbeit und Wohnung notwendig wurde.

Nach dem Abitur begann er mit dem Studium der Erziehungswissenschaften, fühlte sich angesichts der Krankheit seiner Mutter aber überfordert und brach das Studium mit 27 Jahren ohne Abschluss ab.

Seit dem Abbruch des Studiums 1988 und der ersten längeren Krankheitsphase gab es keine weitere Ausbildung. Er begann 1990 eine Rehamaßnahme bei der Integrationsfirma IFA mit Malerarbeiten, die er drei Jahre durchhielt, dann aber wieder abbrach. Bei den verschiedenen Klinikaufenthalten nahm er immer wieder an AT-Maßnahmen teil, erstrebte jedoch keine weitere Rehabilitationsmaßnahme. Seit 1994 übernahm er oft Kurzzeitjobs mit Malerarbeiten und war immer wieder arbeitslos.

Die letzte Tätigkeit, an die er sich gerne erinnert, war 1997 ein zehn-monatiges Praktikum in einer Altenpflegeeinrichtung. Beim Erzählen wirkt er hier plötzlich lebendig und sagt auf die Frage, welche Bedeutung Arbeit für sein Leben hat, sehr schnell; „Ich suche nach einer befriedigenden Teilzeitarbeit im sozialen Bereich, möglichst im Altenpflegebereich.”

Herr K. bezieht seit 1998 eine Rente und will die Sicherheit dieser monatlichen Bezüge nicht in Frage stellen. Zum damaligen Zeitpunkt der ET nahm er zur Tagesstrukturierung erfolgreich und zuverlässig an den arbeitstherapeutischen Maßnahmen der AWO teil.

Schon sehr früh war die Musik insbesondere der Jazz wesentlicher Teil seiner Freizeitgestaltung, das Erlernen der Trompete wurde insbesondere von einem Jazzmusiker gefördert, der so etwas wie ein väterlicher Freund wurde, ihm immer wieder Auf- und Antrieb gab, für den er auch privat sehr viel leistet.

Zu Beginn der Therapie hat er eine Freundin, die ebenfalls psychisch krank ist, und ängstlich zwanghaft den gemeinsamen Lebenskorridor sehr eng begrenzt. (traut sich kaum in die Stadt) Er passt sich mit viel Unmut diesem Anspruch an, sucht sich immer wieder Nischen, dieser Einengung zu entgehen. Dennoch besteht die Beziehung heute noch.

Er selbst beschreibt sich als kontaktfreudig, übernimmt aber keine Führung, setzt eigene Bedürfnisse nur selten durch, passt sich eher an, wirkt eher entscheidungsschwach und aggressionsgehemmt. Er hat aber ein gutes Einfühlungsvermögen, Reflektionsverhalten. Gepaart mit einem „Dicken Fell”, wie er es bezeichnet, kann er den Sozialstress der teils chaotischen Mitbewohner in der WG recht gut aushalten.

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Grundleistungsfunktionen

Ich-Störungen in der Abgrenzung anderen Menschen gegenüber sind in der Befundungsphase nicht mehr erkennbar. Dennoch sind noch Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste spürbar. Recht schnell spürt er in der WG, dass er mit seinen psychosozialen Fähigkeiten auf die anderen Mitbewohnern einen beruhigenden Einfluss ausüben kann und daher sehr beliebt ist. Unbekannte Dinge, Menschen, Situationen werden noch vermieden, Ängste vor der Ablehnung und dem Verlassenwerden können benannt werden und sind auf dem familiären Hintergrund begründbar. Seine Antriebsverminderung äußert sich anfänglich noch in einem niedrigen Aktivitätsniveau.

In der Wahrnehmungsverarbeitung zeigt sich eine Angst vor Berührung und Nähe, vor Grenzüberschreitung. Er kann eigene Stärken und Schwächen wahrnehmen, einschätzen, vergleichen, kann Erwartungen von Vorgesetzten und Therapeuten einschätzen und seine Situation hinterfragen. Im Gespräch wirkt er schnell ablenkbar, haftet dabei an bestimmten Ideen und hat dann auch Probleme logisch den Zusammenhang zu erkennen, bzw. komplexe Aufgaben sich vorzustellen. Es fällt ihm schwer, sich abstrakt ein Bild von seinem Lebensziel vorzustellen. Mit Gegenständen kann er keine Symbolisierung verknüpfen. Herr K. ist krankheitseinsichtig und hat gelernt, wie und wo er sich Hilfe holen kann. Er kommt regelmäßig und pünktlich zur Therapie. Einschränkungen der instrumentellen Grundarbeitsfähigkeiten sind nicht bekannt.

Eine große Ressource, die ihm auch in der WG eine Sonderstellung einräumt, ist das Trompetenspiel und die dazugehörige soziale Einbindung in die Musikertruppe. Nach der Rekonvaleszenzzeit schafft er es recht bald wieder, regelmäßig zu üben und an den Proben teilzunehmen. Eine weitere Ressource sind die sozialen Kompetenzen, sein Einfühlungsvermögen und soziales Engagement.

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Zielvereinbarung

Nach dem Erstgespräch wurden seine Ziele und Problemstellungen auf mehreren Ebenen definiert und hierarchisiert [Abb. 1]. Sein aktuelles Bedürfnis war, die Rente nicht in Frage zu stellen, also das finanzielle Grundpolster zu bewahren, aber einen neuen befriedigenden Lebensinhalt neben der Musik zu positionieren. Angesichts der guten Erfahrung im Altenpflegebereich sollten auch hier Möglichkeiten zunächst in Form eines Praktikums eruiert werden. Dieses Fernziel sollte die Perspektive der verstärkten sozialen und beruflichen Reintegration, seine funktionelle und sozioemotionale Belastbarkeit verbessern helfen.

Anschließend wurden für seine Probleme entsprechende Angebote formuliert:

  • Förderung der Ich-Kompetenz sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung durch die Behandlung mit Elementen aus der Konzentrativen Bewegungstherapie (KBT)

  • Verbesserung der kognitiven Funktionen durch Training z.B. der Konzentration und Aufmerksamkeit, des logischen Denkens im Rahmen eines Hirnleistungstrainings

  • Stärkung der realen Selbsteinschätzung durch die Vorbereitung und Durchführung eines Arbeitsversuches in einem Altenpflegeheim.

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Behandlungsverlauf

Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) fokussiert strukturiert z.B. das Spüren seiner Nähe-Distanzprobleme, sie sensibilisiert das Erkennen eigener Handlungsmuster, die zu Problemen führt. Der Weg führt über das Wahrnehmen von Veränderungsimpulsen und dem Ausprobieren alternativer Strategien, u.a. dem körperlich konzentrierten Wahrnehmen von Stressfaktoren und deren Bewältigung.

Die Unterscheidung von Lust- und Unlustimpulsen als Voraussetzung eine Entscheidung treffen zu können, gehört ebenfalls zur Basisarbeit der KBT. Bei ihm persönlich deutet sich schnell an; Beziehung ist ängstlich besetzt, er darf sich kaum anlehnen, fühlt sich einerseits als Belastung, andererseits schnell überfordert, gerät in dieser Ambivalenz leicht aus dem Gleichgewicht, kann die Angebote der KBT gut nutzen, um die aktuellen sozialen Bezüge zu überdenken und neu zu gewichten).

Im Hirnleistungstraining stand die Arbeit am PC mit dem Programm Cogpac® im Mittelpunkt. Das Cogpac® ermöglicht vielfältige Trainingsaufgaben für alle kognitiven Fähigkeitsbereiche und gibt dem Teilnehmer im Anschluss an seine eigene Leistung einen Vergleich der eigenen Fähigkeiten. Herr K. konnte hier seine Schwierigkeiten im Logischen Denken, im visuomotorischen Bereich und im Erfassen von komplexen Aufgaben sehen. Gleichzeitig erhielt er aber auch gute Rückmeldung über die positiven Werte im Bereich der Gedächtnisleistungen, der Reaktion und der räumlichen Orientierung.

Am Ende des Hirnleistungstrainings wurden zunächst im Sinne einer arbeitstherapeutischen Vorbereitung am PC Krisen-Frühwarnzeichen erarbeitet und dann mit der Vorbereitung auf ein Altenpflegepraktikum begonnen.

Während des anschließenden vierwöchigen Praktikums in der Altenpflegeeinrichtung wurden regelmäßig Beratungs- und Reflektionsgespräche mit ihm durchgeführt. Auch die Heimleitung brauchte Unterstützung im Umgang mit psychisch Kranken Praktikanten. Hier waren die Anpassung und Steigerung der Belastungsfähigkeiten bezogen auf Beginn, Umfang und Ende der Arbeitszeiten wichtig, um ihn nicht in eine Sonderrolle zu drängen, denn Herr K. geriet angesichts seiner eigenen hohen Ansprüche in hohen Stress, der ihn schweißnass werden ließ. In der letzten Woche war ein Wechsel in die Frühschicht möglich, die er ebenfalls gut und pünktlich durchstand.

Mit der Einführung und Übernahme selbstständiger Pflegeaufgaben z.B. das Waschen der alten Menschen wurde er zunehmend ruhiger und zufriedener. Er entwickelte ein herzliches Verhältnis zu den alten Menschen, war aber auch bei den Mitarbeitern, denen er seine psychische Krankheit mitteilte, sehr geschätzt.

Der Einsatz eines Selbst- und Fremdeinschätzungsbogens zeigte, dass er gegenüber der Einschätzung der Pflegedienstleitung sich realistisch, tendenziell eher etwas bescheiden einstuft. Angesichts der guten Rückmeldung wagte er sich gleich vor und erfragte erfolgreich, eine Fortsetzung bzw. die Möglichkeit eines Arbeitsverhältnisses als geringfügig Beschäftigter.

Nach acht Monaten konnte die Therapie erfolgreich beendet werden. Die Steigerung seines Aktivitätsniveaus und seines Selbstvertrauens, der Erhalt seines 320 Euro-Jobs in dieser Einrichtung und die aktive Teilnahme in zwei Jazz-Bands mit vielen Soloeinlagen sind seitdem konstant geblieben. Er lebt nun in eigener Wohnung und ist bei der AWO auf Bedarf mit Beratungsgesprächen und Aktivitäten angebunden. Seine persönlichen Beziehungen sind stabiler, er hat sich ein gutes soziales Netz aufgebaut.

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Fazit

Das Fallbeispiel macht deutlich, dass die ambulante ET vielfältige handlungsorientierte Ansätze gezielt und bedarfsgerecht anbieten kann. Die Integration von psychisch Kranken in weitere externe Einrichtungen bringen Ergotherapeuten sehr schnell an ihre Zeit-Grenzen, wenn sie nicht in örtliche Versorgungsstrukturen gut hineingewachsen sind. Da keine Möglichkeit besteht, Kooperationsleistungen als Leistung abzurechnen, muss die Zusammenarbeit mit den anderen Einrichtungen in der Regel telefonisch, oder aber in gemeinsamen Reha-Gesprächen mit dem Patienten erfolgen. Hier wäre eine Veränderung sehr wünschenswert. Herr K. betont selbst, dass die gute Zusammenarbeit der verschiedenen hier beteiligten Personen und Einrichtungen für ihn ein tragender Boden zur Reintegration gewesen sei. Sein persönliches Fazit machte deutlich, dass die Ergotherapie wichtige Veränderungsimpulse setzen konnte, weil sie sich individuell und flexibel auf seinen Hilfebedarf eingestellt hat.

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Abb. 1

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Korrespondenzadresse:

Clara Scheepers

Praxis für Ergotherapie

Hildastr. 11

69469 Weinheim

eMail: clara.scheepers@t-online.de

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Abb. 1