Die Multiple Sklerose (MS) ist mit einer Prävalenz von 60-100 Erkrankten pro 100000 Einwohnern eine der häufigsten organischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems in Deutschland [7]
[13]. Noch bis Mitte der 1980er-Jahre betrug die mittlere Lebenserwartung nach der Diagnose Multiple Sklerose in der Regel nur 13-20 Jahre [8]. Selten war die MS die unmittelbare Todesursache, jedoch war zu über 50 % der Tod eine Folge der MS. Die Patienten verstarben an Bronchopneumonien oder Pyelonephritiden mit daraus folgender Sepsis bzw. Urämie. Dank verbesserter Therapie- und Pflegemöglichkeiten [12] beträgt heutzutage die mittlere Krankheitsdauer mindestens 25-30 Jahre, bei einem Drittel der Patienten sogar mehr als 30 Jahre. Dadurch kommt es zu einer zahlenmäßigen Zunahme von MS-Patienten im medizinischen Alltag, sei es im Fachgebiet der Neurologie, aber auch in anderen Disziplinen, da bei den MS-Patienten, wegen des steigenden Lebensalters und zunehmender Beeinträchtigungen, nun zusätzlich internistische, orthopädische und urologische Krankheitsbilder auftreten. In der Literatur werden zu den Beeinträchtigungen, mit denen MS-Patienten bei immer länger werdenden Krankheitsverläufen leben müssen, auch psychosoziale Probleme aufgelistet [3] und es wird in diesem Zusammenhang auf die zu ergreifenden Therapien (15) bzw. die entsprechenden pflegerischen Maßnahmen hingewiesen [14].
Anhand zweier Studien soll zum einen eine Bestandsaufnahme der psychosozialen Situation von Patientinnen und Patienten mit MS vorgestellt werden. Grundlage hierzu ist eine Befragung der Mitglieder des Landesverbands Berlin der DMSG. Zum anderen soll das Bochumer Coping Programm beschrieben werden, das zur Verbesserung der Lebensqualität entwickelt wurde.
Methodik
Methodik
Studie I: Psychosoziale Situation von MS Betroffenen
Die Untersuchung erfolgte als Mitgliederbefragung des „Landesverbands Berlin e.V.„ der „Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft” (DMSG) mit dem Ziel, die psychosoziale Situation aller an MS erkrankten Mitglieder des Landesverbandes zu erfassen. Eine vergleichbare Studie dieser Größenordnung zur Evaluation der psychosozialen Situation von MS-Patienten war bislang in Deutschland noch nicht durchgeführt worden.
Nach Ankündigung der Studie in der Mitgliederzeitschrift des Landesverbandes wurden insgesamt 1220 anonyme Fragebögen an alle an MS erkrankten Mitglieder des „Berliner Landesverband e.V.” der DMSG postalisch verschickt. Ein beigefügtes Anschreiben erklärte den angeschriebenen Mitgliedern des Landesverbandes das Ziel und den Inhalt der Fragebogenaktion. Von den versandten Fragebögen wurden 645 ausgefüllt und verwertbare Fragebögen zurückgeschickt. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 52,87 %.
Der Fragebogen erfasste anhand standardisierter Fragen und Antworten die Teilbereiche soziodemographische Daten der Patienten, Verlauf der MS und durchgeführte Therapien, alltägliche Probleme, die gesundheitlichen Einschränkungen im alltäglichen Leben sowie die psychosozialen Beeinträchtigungen anhand des IRES-Fragebogens (Indikatoren des Reha Status) [6]. Weiterhin wurde eine Beschwerden-Liste (B-L) [16] eingesetzt und erfragt, ob die Angebote des DMSG Landesverbandes Berlin genutzt wurden.
Die untersuchte Stichprobe der 645 MS-Patienten gliederte sich in 489 Frauen und 156 Männer mit einem Durchschnittsalter von 47,43 Jahren [Tab. 1].
Studie II: Bochumer Coping Training
Das Copingtraining wurde mit dem Ziel konzipiert, die aktive Auseinandersetzung mit der Erkrankung zu fördern [11]. Das zehnwöchige Gruppenprogramm enthielt als Interventionsbausteine:
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Vortrag über MS-Erkankung
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themenzentrierte Gespräche über Ätiologie und Risikofaktoren
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themenzentrierte Gespräche über Medikation, Compliance und Nebenwirkungen
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Einübung von Kurzzeitentspannung (Progressive Muskelrelaxation)
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Veränderung von emotionalem Copingstilen (z.B. durch imaginative Verfahren, Analyse von Katastrophenskripten)
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Rollenspiel zur Mobilisierung von sozialer Unterstützung.
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Diagnose MS wurde vor weniger als zwei Jahren gestellt
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keine immunsuppressive oder immunmodulierende Therapie in den letzten drei Monaten vor und während des Copingprogramms
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Bereitschaft an einem zehnwöchigen Gruppenprogramm teilzunehmen
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Bereitschaft ein Patiententagebuch zu führen, an der Fragebogenevaluationen teilzunehmen und sich Blut abnehmen zu lassen.
Die Ergebnisse basieren auf zwei Programmen, an denen insgesamt 34 Patienten teilnahmen. Auswertbar waren die Daten von 19 Patienten (Altersrange 25-43 Jahre; 17 Frauen, 2 Männer). Die Patienten wurden gebeten nach jeder Sitzung Fragebögen zu bearbeiten:
Nottingham Health Profile (NHP; 10): Das NHP gehört zu den am häufigsten verwendeten Instrumenten zur Erfassung des subjektiven Gesundheitszustands. Es besteht aus 38 Items, die sechs Dimensionen zugeordnet werden: Energieverlust, emotionale Reaktion, Schmerz, Schlaf, soziale Isolation und physische Mobilität. Die Dimensionen sind so normiert, dass ein Wert von 100 maximale Beeinträchtigung anzeigt, ein Wert von 0 keine Beeinträchtigung auf der jeweiligen Dimension.
Depressivitätsskala (D-S; 16): Die Depressivitätsskala ist ein klinischer Fragebogentest (16 Items) zur Abschätzung der psychischen Beeinträchtigung durch depressive Verstimmung. Sie hat weite Verbreitung in der Depressionsforschung gefunden. Hohe Scores stehen für ein hohes Depressivitätsrating.
Ergebnisse
Ergebnisse
Studie I: Psychosoziale Situation von MS-Patienten
Zu Beginn der Erkrankung war es fast allen Patienten möglich, alleine zu essen, zur Toilette zu gehen, zu duschen bzw. zu baden und die Medikamente eigenständig einzunehmen. Nach mehr als 20 Erkrankungsjahren konnte ungefähr ein Drittel der befragten MS-Patienten nicht mehr alleine essen oder die Medikamente eigenständig aus der Packung entnehmen bzw. einnehmen. Über 50 % benötigten Hilfe beim Gang zur Toilette und fast drei Viertel konnten nur noch mithilfe weiterer Personen duschen oder baden [Abb. 1].
Ungefähr ein Fünftel der MS-Patienten, die seit mehr als 20 Jahren an MS litten, gab Beeinträchtigungen beim Zeitung lesen an. 14 % dieser Patienten hatten Schwierigkeiten, einer Unterhaltung akustisch zu folgen. Ferner gaben fast 20 % dieser MS-Patienten an, dass es ihnen wegen der Erkrankung nicht mehr möglich war, ein Telefongespräch zu führen [Abb. 2].
Der Anteil der Patienten mit oft vorhandenen depressiven Gedanken stieg von anfangs weniger als 30 % auf einen Anteil von fast 40 % unter den Patienten, die seit mehr als 20 Jahren mit MS lebten [Abb. 2]. Suizidgedanken gaben ca. 16 % der Patienten, die weniger als fünf Jahre an MS litten, an. Mehr als 20 % der Patienten mit einer Erkrankungsdauer von mehr als 20 Jahren berichteten über Suizidgedanken. Jedoch fand sich bezüglich der berichteten Suizidgedanken ein Häufigkeitsgipfel von über 25 % in der Gruppe der Patienten, die seit 10 bis 15 Jahren an MS litten.
Studie II: Bochumer Coping Training
Es zeigt sich, dass initial die Depressionswerte deutlich über dem Normwert der Repräsentativbevölkerung liegen (Patientengruppenmittelwert: 16,3, dies entspricht einem STANINE von 8). Desweiteren zeigte sich eine signifikante Reduktion (Varianzanalyse mit Messwiederholung: F-Wert=13,2; p<0,01) der Depressivität im Verlauf des Programms. Nach zehn Wochen unterscheidet sich der Gruppenmittelwert nur noch unbedeutend vom Normwert (STANINE von 5; [Abb. 3]).
Hinsichtlich der Lebensqualitätsdimensionen „Physische Mobilität” und „Emotionale Reaktion” wurden signifikante Abnahmen der Beeinträchtigungen im Verlauf des Copingtrainings gefunden (Varianzanalyse mit Messwiederholung: F-Wert=35,5, p< 0,001 bzw. F-Wert=14,1, p< 0,01; [Abb. 4] und [5]).
Diskussion
Diskussion
Zusammen mit der Mobilität sank auch die Fähigkeit der Patienten, sich im Verlauf der Erkrankung selbst zu versorgen. Dadurch stieg die Inanspruchnahme von professioneller Pflegehilfe, primär der ambulanten Pflegedienste. Da nur ein sehr geringer Anteil der untersuchten MS-Patienten nicht mehr in der eigenen Wohnung lebte, kann offensichtlich heutzutage über eine gute ambulante pflegerische Versorgung von MS-Patienten die soziale Integration der Patienten erhalten werden [9]. Somit kann die früher oft zwangsläufige Aufnahme in ein Pflegeheim fast immer vermieden werden [1]
[2]. Die Ergebnisse zeigten, dass die MS-Patienten im Verlauf der Erkrankung zunehmend Schwierigkeiten mit der Einnahme ihrer Medikation hatten. Hier liegt ein weiterer pflegerischer Schwerpunkt in der Anleitung der Patienten, die Medikamentenentnahme und -einnahme zu trainieren, vor allem hinsichtlich des zunehmenden Einsatzes der Interferon-Injektionstherapie. Gleichzeitig sind die behandelnden Ärzte ebenfalls gefordert [4], zusammen mit dem Pflegepersonal Strategien zur Vereinfachung der Medikation für die MS-Patienten zu entwickeln.
Beeinträchtigungen in der Kommunikation gingen nicht mit der Krankheitsdauer einher. Dies kann als Indiz für die Relevanz von Krankheitsverarbeitungsstrategien gewertet werden. Es zeigte sich zudem, dass depressive Gedanken häufig waren. Diese korrelierten nicht linear mit der Krankheitsdauer. Auch die bemerkenswert hohen Angaben zu Suizidgedanken zeigten, dass im natürlichen Krankheitsverlauf eine aktive Bewältigung nicht erreicht wurde. Hierbei sehen wir einen Bedarf für Copingtraining speziell für MS-Betroffene.
Ausgangspunkt der zweiten Untersuchung war die Frage, inwieweit ein zehnwöchiges Gruppen-Copingtraining die Krankheitsverarbeitung und die Lebensqualität positiv beeinflussen kann. Die Ergebnisse zeigen ein ermutigendes Bild: Sowohl die initial hohe Depressivität als auch die Beeinträchtigungen der Lebensqualität besserten sich nach dem zehnwöchigen Training. Inwieweit es sich um spezifische Effekte des Copingtraining handelte oder um unspezifische Behandlungseffekte, muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben. Gauler & Weihrauch [9] gaben Besserungsraten unter Plazebo bei Patienten mit MS von bis zu 73 % an. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass bei Patienten relativ kurz nach Diagnosestellung in vergleichsweise kurzer Zeit Änderungen der Krankheitsverarbeitung induzierbar sind. Hinzuweisen bleibt jedoch, dass die Ergebnisse dieser Pilotstudie auf einer kleinen Fallzahl beruhen. Weitere Studien scheinen geboten, um ein Copingtraining für MS-Betroffene effizient zu gestalten und die drop-out rate zu vermindern. Angesichts der hohen direkten Kosten für immunmodulierende Therapien (ca. 13000 Euro pro Patient pro Jahr), ist zu fragen, inwieweit Patientenberatungsgruppen hilfreich sein könnten, um die Compliance der Patienten über einen langen Zeitraum zu sichern.
Abb. 1 Beeinträchtigung der Selbstversorgung im Verlauf der MS am Beispiel der Teilbereiche „kann nicht mehr alleine Medikamente ent- und einnehmen”, „kann nicht alleine essen”, „kann nicht mehr alleine zur Toilette gehen” und „kann nicht mehr alleine duschen/baden”.
Abb. 2 Dargestellt sind die kommunikativen Beeinträchtigungen im Verlauf der MS am Beispiel der Teilbereiche „kann nicht mehr die Zeitung lesen”, „kann nicht mehr einem Gespräch akustisch folgen” und „kann nicht mehr telefonieren” sowie die Zunahme von „depressiven Gedanken” im Verlauf der MS.
Abb. 3 Mittelwerte und Standardabweichungen des Depressionsscores.
Abb. 4 Mittelwerte und Standardabweichungen der Beeinträchtigungen auf der Dimension „Emotionale Reaktion”
Abb. 5 Mittelwerte und Standardabweichungen der Beeinträchtigungen auf der Dimension „Physische Mobilität”.
Tab. 1 Soziodemographische Daten aller befragten MS-Patienten
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< 5 Jahre MS (n = 158)
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5-10 Jahre MS (n = 185)
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10-15 Jahre MS (n = 116)
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15-20 Jahre MS (n = 63)
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> 20 Jahre MS (n = 115)
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Alter
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41,1 Jahre [24-69 Jahre]
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42,5 Jahre [23-70 Jahre]
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49,1 Jahre [26-92 Jahre]
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51,1 Jahre [34-73 Jahre]
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60,5 Jahre [38-91 Jahre]
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Geschlecht
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w = 119 m = 39
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w = 144 m = 41
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w = 84 m = 32
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w = 45 m = 18
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w = 89 m = 26
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Berufstätigkeit
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keine: 48,4 %
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keine: 68,9 %
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keine: 86,1 %
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keine: 90,5 %
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keine: 94,6 %
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halbtags: 14,6 %
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halbtags: 10,4 %
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halbtags: 4,3 %
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halbtags: 3,2 %
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halbtags: 1,8 %
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ganztags: 36,9 %
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ganztags: 20,8 %
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ganztags: 9,6 %
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ganztags: 6,3 %
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ganztags: 3,6 %
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Diagnose MS
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vor 2,3 Jahren
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vor 6,9 Jahren
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vor 11,8 Jahren
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vor 16,8 Jahren
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vor 27,2 Jahren
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