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DOI: 10.1055/s-2005-863096
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Eine pathologische Verarbeitung von Kränkungen - Die Posttraumatische Verbitterungsstörung
The Postoperative Embitterment Disorder - A pathological response to psychological insultsKorrespondenzadresse:
Prof. Dr. Michael Linden
Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation
Rehabilitationsklinik Seehof der BfA
Lichterfelder Allee 55
14513 Teltow/Berlin
Email: michael.linden@charite.de
Publication History
Publication Date:
01 February 2005 (online)
Zusammenfassung
Katastrophen-, Verlust- und Kränkungserlebnisse können zu psychischen Erkrankungen führen. Die ICD-10 [32] unterteilt im Kapitel F 43 (Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen) die reaktiven psychischen Störungen in die Kategorien der akuten Belastungsreaktion (F 43.0), der posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1) und der Anpassungsstörungen (F 43.2), sowie im Kapitel F 6 (Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen) die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.1) [Tab.1]. Obwohl es sich um häufige Erkrankungen handelt, sind sie dennoch vergleichsweise unscharf definierte Kategorien und sie sollen zudem nur dann diagnostiziert werden, wenn nicht die Kriterien für eine andere Achse-I-Störung erfüllt werden, was sie zu einer diagnostischen Restkategorie macht [1] [7] [8] [10] [11] [12] [17] [18] [19] [21] [22] [23] [29] [30] [31]. Einzig die Posttraumatische Belastungsstörung ist bisher zu einer eigenständigen Kategorie geworden [12] [16]. Dazu hat wesentlich beigetragen, dass sie nicht nur über eine spezielle Charakteristik des auslösenden Ereignisses definiert wurde („eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde”, [32], sondern zugleich auch über eine charakteristische Psychopathologie i.S. von Intrusionen, Hyperarousal, Vermeidung und Angst.
#Summary
Disasters, grief and psychological insults can trigger psychiatric illnesses. Chapter F 43 (reactions to severe stress and adjustment disorders) ICD-10 [32] divides the reactive psychic disorders into the categories acute stress reaction (F 43.0), post-traumatic stress disorder (F43.1) and the adjustment disorders (F 43.2) as well as - in chapter F 6 (personality and behavioural disorders) - enduring personality changes after extreme stress (F 62.1) [Table 1]. Although these illnesses are common, they are nevertheless comparatively unsharply defined categories, and, in addition, they should only be diagnosed when the criteria for other Axis I disorders have not been met, which would reduce them to a diagnostic residual category [1] [7] [8] [10] [11] [12] [17] [18] [19] [21] [22] [23] [29] [30] [31]. The post-traumatic stress disorder alone has, in past years, become a category in its own right [12] [16]. A major contributory factor to this development has been the fact that not only is it defined by a specific characterization of the triggering event („an unusually threatening situation or one of catastrophic dimensions which would trigger deep despair in almost anyone” [32], but also by a characteristic psychopathology in the sense of intrusions, intrusions, hyperarousal, avoidance and anxiety.
Im klinischen Alltag ist die Tendenz zu beobachten, die diagnostisch klar definierte Kategorie der Posttraumatischen Belastungsstörung auch auf Störungen auszuweiten, die nicht aus der Konfrontation mit einem lebensbedrohlichen Ereignis, sondern mit einer lebensüblichen Belastung hervorgegangen sind, obwohl hierfür eigentlich die Kategorie der Anpassungsstörungen vorgesehen ist. Dies zeigt, dass es in der Praxis die Notwendigkeit einer weiteren differentialdiagnostischen Differenzierung und Präzisierung der Anpassungsstörungen gibt.
Eine derartige Subkategorie der Anpassungsstörungen stellt die Posttraumatische Verbitterungsstörung PTED (Posttraumatic Embitterment Disorder = PTED) dar, die nach einschneidenden, wenn auch nicht außergewöhnlichen Lebensereignissen auftreten kann, wie beispielsweise einer Kündigung oder Scheidung. Charakteristische Auslöser sind Kränkungsereignisse, die zentrale Grundannahmen des Betroffenen verletzen. Das resultierende psychopathologische Syndrom ist analog zur Posttraumatischen Belastungsstörung PTSD gekennzeichnet durch Intrusionen, Hyperarousal, Herabgestimmtheit und Vermeidung. Im Unterschied zur PTSD ist der Leitaffekt jedoch nicht Angst, sondern Verbitterung und Aggression gegen sich selbst und die Umwelt [13] [15].
Die Abbildung 1 zeigt Daten aus einer Untersuchung zu Art und Häufigkeit vorherrschender Beschwerden von PTED-Patienten im Vergleich zu einer klinischen Kontrollgruppe. Das Beschwerdebild ist sehr vielgestaltig und schließt neben dem Leitaffekt der Verbitterung auch Fremd- und Selbstaggression, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, phobisches Vermeiden ereignisbezogener Situationen und Personen sowie Rückzug aus sozialen Verpflichtungen mit ein.
Während nach ICD-10 Anpassungsstörungen vorübergehender Natur sind und sich in der Regel nach sechs Monaten zurückgebildet haben sollten, gilt dies in der klinischen Realität für viele reaktive Störungen eindeutig nicht. Insbesondere die PTED kann zu langfristiger Chronifizierung führen mit schwerer Beeinträchtigung der sozialen Anpassung, Lebensführung und Lebensqualität.
#Ätiologie der PTED
Nach den bisherigen klinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen treten Posttraumatische Verbitterungsstörungen nach Kränkungserlebnissen auf. In Anlehnung an Konzepte der kognitiven Psychotherapie ist ein Kennzeichen solcher einschneidenden, wenn auch durchaus lebenstypischen Erlebnisse wie Kündigung, berufliche Herabwürdigung, Scheidung oder Verlust eines nahen Menschen, dass eine grobe Verletzung zentraler Grundannahmen und Wertvorstellungen [4] [5] vorliegt. Ein Beispiel wäre eine Frau, die die Grundannahme hat, dass die Familie das Wichtigste im Leben ist. Sie hat dementsprechend ihre eigene berufliche Entwicklung aufgegeben, um dem Mann das Studium zu ermöglichen, sich für die Kinder und den Mann „aufgeopfert”, um schließlich auf rücksichtslose Weise gegen eine jüngere Frau ausgetauscht zu werden, wobei die Kinder es zudem noch vorziehen, mit dem Vater zu leben. Gleiches könnte z.B. geschehen bei großer Bedeutung des Berufs, unbegrenztem Einsatz für die Firma und dann einer Kündigung noch vor allen anderen Mitarbeitern. Grundannahmen, die einen Menschen in einem Lebensbereich besonders erfolgreich machen, machen ihn auch potentiell verwundbar.
Neben diesem inhaltlichen Schlüssel-Schloss-Problem scheint ein weiterer wichtiger pathogenetischer Faktor ein sog. „Mangel an Weisheit” zu sein. Die Weisheitspsychologie ist eine neue Forschungsrichtung, die im Rahmen der Psychologie der Lebensspanne entwickelt wurde [2] [3] [6] [9] [24] [25] [26] [28]. Weisheit ist definiert als „Expertise im Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens, wie z.B. Fragen der Lebensplanung, Lebensgestaltung und der Lebensdeutung” und stellt eine psychologische Fähigkeit dar, die hilft, komplexe und letztlich nicht eindeutig lösbare Lebensprobleme zu verarbeiten bzw. zu ertragen. Sie ist operationalisiert als ein mehrdimensionales Konstrukt und umfasst die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Empathie, zur Emotionsakzeptanz, zur Serenität, Faktenwissen, zum Kontextualismus, zur Wertrelativierung, zur Ungewissheitstoleranz oder zur Nachhaltigkeitsperspektive. Diese Fähigkeiten sind bei Menschen, die einschneidenden Lebensbelastungen ausgesetzt waren, in besonderer Weise gefordert, bei Patienten mit Posttraumatischen Verbitterungsstörungen aber offenbar nicht hinreichend gegeben. Es ergibt sich aus dem klinischen Eindruck und ersten empirischen Daten der Eindruck, dass Patienten mit einer Posttraumatischen Verbitterungsstörung Defizite in der Aktivierung weisheitsbezogener Leistungen aufweisen [Abb. 2]. Weisheit kann einem rigiden, dogmatischen, einseitigen, emotionsgesteuerten und unflexiblen Denken, welches Verbitterung und selbstzerstörerische Resignation wahrscheinlicher macht, gegenübergestellt werden.
#Therapieansätze
Die Therapie überdauernder Anpassungsstörungen und Posttraumatischer Verbitterungsstörungen kann erhebliche Probleme aufwerfen. Insbesondere der Leitaffekt der Verbitterung führt oft zu einer Ablehnung therapeutischer Hilfsangebote („die Welt kann ruhig sehen, was mir angetan wurde”). Eine Therapie wird schließlich auch erschwert durch eine fatalistisch anmutende resignativ-aggressive Grundhaltung der Patienten, die Verarbeitungs- und Änderungsprozesse sowie den Aufbau neuer Lebensperspektiven blockiert und eine Therapiemotivation erschwert.
Erste Therapieansätze wurden im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt [13] [20]. Die Patienten müssen in die Lage versetzt werden, das kritische Lebensereignis und die damit verbundene Kränkung und Herabwürdigung zu verarbeiten, sich davon innerlich zu distanzieren sowie neue Lebensperspektiven aufzubauen. Hierzu kann auf bewährte kognitive Strategien der Einstellungsänderung und Problemlösung zurückgegriffen werden [14]. Dazu gehören kognitive Verfahren wie z.B. Reframing oder kognitives Neubenennen, um Neuinterpretationen, eine Reintegration des Erlebten sowie Änderungen des inneren Bewertungssystems anzustoßen. Aber auch Methoden wie Exposition, Wiederaufbau von Sozialkontakten und die Förderung von Selbstwirksamkeitserfahrungen kommen zum Einsatz, um Vermeidungsverhalten und Rückzug aufzuhalten und Realitätsprüfungen zu unterstützen.
Einen neuen und speziell auf die PTED abgestellten Behandlungsansatz stellen Interventionen im Sinne einer „Weisheitstherapie” dar, die sich an der bereits angesprochenen Weisheitsforschung orientieren [3] [6] [20] [25]. Es werden „weisheitsaktivierende” Problemlösestrategien vermittelt, die es dem Patienten ermöglichen, mit neuen Perspektiven, mehr Distanz, wechselnden Referenzsystemen und unter Berücksichtigung verschiedener Metaaspekte über sein Problem differenzierter nachzudenken und zu urteilen und eine Verarbeitung anzustoßen. Hierbei werden dem Patienten beispielsweise komplexe und unlösbare Lebensprobleme vorgegeben (z.B. ein Mann lässt seine Frau mit Schulden sitzen) und die Patienten angeleitet, dieses Problem aus verschiedenen Perspektiven (Mann oder Frau, heute oder am Lebensende, externer Kommentar eines Pfarrers, Psychologen, einer lebenserfahrenen Großmutter) zu kommentieren und dabei Fähigkeiten des Perspektivwechsels, der Wertrelativierung u.a. einzuüben
#Der Stellenwert der PTED und Weisheitstherapie
Um Missverständnissen bezüglich des PTED-Konzepts wie der Weisheitstherapie vorzubeugen, ist darauf hinzuweisen, dass sich die Krankheitswertigkeit der PTED nicht aus dem Auslöseereignis, sondern der pathologischen Reaktion ableitet, d.h. der Art und Schwere der Psychopathologie und der daraus resultierenden Funktions-, Fähigkeits- und Partizipationsstörungen. Tod, Scheidung, Kündigung usw. gehören zum menschlichen Leben. Der Mensch verfügt über die Fähigkeit zur psychologischen Widerstandsfähigkeit (Resilience), die es ihm ermöglicht, solche belastenden Ereignisse zu verarbeiten [27]. Erst wenn es zu bleibenden psychopathologischen Normabweichungen kommt, ist von Krankheit zu sprechen. Dies ist ähnlich wie beispielsweise in der Chirurgie, wo die Art der Fraktur krankheitsdefinierend ist und nicht, ob der Patient einen Skiunfall erlitten hat oder auf einer Banane ausgerutscht ist. Auch scheinbar bagatellhafte Erlebnisse können unter bestimmten Rahmenbedingungen zu dramatischen Konsequenzen führen, in der Chirurgie wie in der Psychopathologie. Dies bedeutet, dass die Funktionsstörung und nicht der Auslöser diagnostisch wegweisend sind.
Gleiches gilt auch für die Therapie. Es geht bei der Weisheitstherapie nicht um eine Lebensberatung und Unterstützung bei der Bewältigung eines Lebenskonflikts. Es geht um die Besserung der Psychopathologie. Dies geschieht auch nicht durch die Erarbeitung von Konfliktlösungen, sondern durch die Förderung psychologischer Funktionen, die erforderlich sind, um eine Konfliktlösung erreichen zu können. Die Weisheitstherapie vermeidet daher auch weitgehend, direkt am Thema des Konflikts zu arbeiten. Stattdessen werden Weisheitsstrategien an Modellproblemen eingeübt. Auch bezüglich der Therapie gilt also, dass die Funktion und nicht der Inhalt das Therapieziel ist, was auch grundsätzlich als Unterschied zwischen Therapie und Beratung gelten kann.
Zum Schluss ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Konzept der PTED wie die Weisheitstherapie wissenschaftliche Neuentwicklungen sind. Die hier vorgestellten diagnostischen wie therapeutischen Ansätze müssen daher als vorläufige Entwürfe verstanden werden. Sie basieren auf der klinischen Erfahrung und ersten wissenschaftlichen Untersuchungen. Es wird weiterer Forschung bedürfen, um endgültige Empfehlungen geben zu können.
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Michael Linden
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