Psychiatr Prax
DOI: 10.1055/a-2295-8000
Psychiatriegeschichte

Sozialpsychiatrische Konzepte in der BRD und der DDR – Ein Vergleich der theoretischen Ansätze von Karl Peter Kisker sowie Klaus Weise und Achim Thom

Social Psychiatric Conceptions in Western and Eastern Germany – a Contrastive Analysis of the Approaches Developed by Karl Peter Kisker, Klaus Weise and Achim Thom
Johann Buttler
,
Holger Steinberg

Zusammenfassung

Die Studie zeigt in den Grundvorstellungen des Psychiaters Karl Peter Kisker sowie des Psychiaters Klaus Weise und Philosophen Achim Thom das gemeinsame Anliegen ab den 1960ern, psychisch Kranken zu mehr Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe zu verhelfen und die Psychiatrieversorgung zu humanisieren. Aus der Gesamtschau wird zunächst die theoretische Konzeption von Kisker dargestellt, der ein Vertreter der westdeutschen Sozialpsychiatriebewegung war und eine phänomenologisch-anthropologische Prägung aufwies. In Gegenüberstellung wird der ostdeutsche Ansatz von Weise und Thom erläutert, der an die phänomenologisch-anthropologische Subjektorientiertheit anknüpfte, aber mit der Einbeziehung einer marxistischen Auffassung eine sozialistische Sozialpsychiatrie begründete. Im Vergleich werden trotz vieler Übereinstimmungen die unterschiedlichen Gewichtungen der beiden Ansätze deutlich, die soziale Dimension des psychischen Krankseins zu verstehen.

Abstract

The study explores the common effort of social psychiatrists in Eastern and Western Germany to help people suffering from mental health issues to gain more self-determination and social participation and to make mental health care more humane from the 1960s onwards. At the same time, it provides a contrastive analysis of the social psychiatric concepts developed by the psychiatrists Karl Peter Kisker, Klaus Weise and the philosopher Achim Thom. A thorough analysis of literature reveals differences in the theoretical approaches in the East and West. Kisker, who was a representative of the West German social psychiatric movement, had a phenomenological-anthropological background. By contrast, Weise and Thom even though following the same subject orientation, established a socialist social psychiatry clearly integrating Marxist views into their concept. This contrastive also elaborates common viewpoints in understanding the social dimensions of mental health conditions in the two concepts.



Publication History

Received: 11 January 2024

Accepted: 26 March 2024

Article published online:
26 April 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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