Diabetologie und Stoffwechsel 2015; 10(1): 43-44
DOI: 10.1055/s-0034-1397647
Letzte Seite
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein halbes Jahrhundert Diabetologie – Zur Epidemiologie und Frühdiagnose des Diabetes

Hellmut Mehnert
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 March 2015 (online)

Ausführungen zur Epidemiologie des Diabetes in Deutschland kranken daran, dass es leider immer noch kein Diabetes-Register gibt (wie es früher in der DDR möglich war) und dass deswegen verlässliche Zahlen zur Prävalenz und Inzidenz nicht gemacht werden können. Im Übrigen darf man aber sagen, dass die Entwicklung der epidemiologischen Daten erschütternd ist. Um das Wichtigste vorweg zu nehmen: während 1948 – nach den mageren Jahren unseres Landes – nur etwa 2–3 % Diabetiker (Typ-1 und Typ-2 etwa gleich viel) beobachtet wurden, müssen wir jetzt mit einer Prävalenz von 8–10 %, d. h. von 6–8 Millionen Diabetikern insgesamt rechnen. Der wichtigste Grund für die Zunahme des Diabetes ist sicher in der Kombination von Überernährung und Bewegungsmangel zu sehen. Hierauf lässt sich Einfluss nehmen, in Zukunft vor allem auch bei diabetischen Kindern und Jugendlichen, bei denen die Diagnose eines Typ-2-Diabetes noch relativ selten, aber immer häufiger gestellt wird. In den USA gibt es Staaten, bei denen der Anteil der Typ-2-Diabetes-Jugendlichen an der Gesamtzahl der zuckerkranken kindlichen und jugendlichen Patienten bereits 40 % ausmacht, während wir noch mit etwa 4–5 % zu rechnen haben. Es gibt aber auch andere Faktoren, die zu einer Häufung der Diabetes-Diagnose führen: zunächst einmal ist festzustellen, dass die Menschen älter werden und deswegen ihren Diabetes erleben, den sie früher nicht erlebten, weil sie vorher gestorben wären. Zum zweiten ist zu bedenken, dass erfreulicherweise der Diabetes in der Regel früher, d. h. besser diagnostiziert und besser, d. h. lebenserhaltender therapiert wird, womit die Prävalenz innerhalb des Bevölkerungskollektivs sich natürlich ausweitet. Sicherlich spielt auch die Erblichkeit eine gewisse Rolle, wobei immer wieder anzumahnen ist, dass der Typ-2-Diabetes deutlich stärker vererbt wird, als die Autoimmunerkrankung Typ-1-Diabetes. Um nur eine Zahl zu nennen: Kinder von zwei Typ-2-diabetischen Eltern haben eine Wahrscheinlichkeit von 70–80 % ebenfalls zuckerkrank zu werden, während bei Typ-1-Diabetikern diese Wahrscheinlichkeit etwa 25 % ausmacht. Ein vierter Grund ist nicht unwichtig: die Verschärfung der diagnostischen Kriterien. So sprechen wir ja bereits früher von einem Diabetes, als es vormals der Fall war, weil man erkennen musste, dass diabetische Folgeschäden schon bei niedrigeren Blutzuckerwerten auftreten, als es vorher vermutet wurde. Wichtig ist der Plasma-Nüchtern-Glukose-Grenzwert von 126 mg / dl und die Feststellung, dass auch der HbA1c-Wert jetzt in die Diagnose einbezogen werden kann: 6,5 % und mehr bedeuten die Diagnose eines manifesten Diabetes. Für die Vorstadien, den sog. Prädiabetes, die gestörte Glukosetoleranz oder den gestörten Nüchternblutzucker, kann der HbA1c-Wert nach Ansicht der Deutschen Diabetes-Gesellschaft – im Gegensatz zur American Diabetes Association – nicht dienen. Hier ist nach wie vor die orale Glukosebelastung mit 75 g Glukose das Diagnostikum der Wahl.

Wie verhält es sich nun mit der Zunahme des Diabetes im Hinblick auf die wichtigsten Diabetes-Typen Typ 1 und Typ 2? Dabei ist anzumerken, dass aus den genannten Gründen vor allem der Typ-2-Diabetes stark zunimmt, dass aber eine schwer erklärliche Zunahme auch beim Typ-1-Diabetes zu beobachten ist. Hier hat zu gelten, dass man auf Grund der Ergebnisse von Autoimmunmarkern frühzeitig die Entwicklung zu einem Typ-1-Diabetes vermuten kann; die Diagnose wird aber dann meist unter Einbeziehung der klassischen Diabetes-Symptome wie Polyurie, Polydipsie, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Gewichtsverlust gestellt. Dies unterscheidet den Typ-2- vom Typ-1-Diabetes, da in ersterer Situation nur etwa ein Drittel der Patienten bei der Diagnose die geschilderten Symptome aufweist. Auch ist zu bedenken, dass zwischen Manifestation und Diagnose beim Typ-2-Diabetes 8–10 Jahre liegen, so dass die Patienten nicht selten bereits mit Folgeschäden zur Diagnostik kommen, die man nicht erwartet hätte, wenn man den Zeitpunkt von Manifestation und Diagnose gleichsetzt. Noch einmal zum Typ-1-Diabetes: hier wird die Autoimmunerkrankung, für die zweifellos eine genetische Vorbedingung besteht, in den verschiedenen europäischen Ländern ganz unterschiedlich festgestellt. So gibt es in Finnland zehnmal mehr Typ-1-Diabetiker als es in Italien der Fall ist. Die Ausnahme hier liefert aber Sardinien, wo prozentual gleichviel Diabetiker wie in Finnland zur Diagnose kommen. Nicht zu Unrecht sprechen die Genetiker im Hinblick auf die Vererbung des Diabetes von einem Albtraum…! Interessant ist darüber hinaus, dass derzeit aus unbekannten Gründen die vorher rasche Typ-1-Zunahme in Finnland gestoppt ist, was möglicherweise mit der seit einiger Zeit mit Vitamin D in Finnland angereicherten Milch zusammenhängen mag. Dies ist aber reine Spekulation.

Im Übrigen ist unter der Federführung von Anette-Gabriele Ziegler verdienstvollerweise gerade die Fr1da-Studie angelaufen, in der bayernweit mit Unterstützung der Pädiater alle Kinder von 2–5 Jahren mit Autoimmunmarkern auf einen Typ-1-Prädiabetes untersucht werden. Die Eltern positiv getesteter Kinder werden gründlich beraten, um eventuelle Frühzeichen einer Manifestation rechtzeitig zu erkennen. Auch werden solche Kinder in eine Studie zur Prävention („Impfung“ mit Insulin) aufgenommen.

Beim Typ-1-Diabetes führt die selektive Zerstörung der Betazellen durch T-Zellen zur Diabetes-Manifestation. Prädisponierend für diese polygenetische Autoimmunerkrankung sind aber vor allem die HLA-Gene, wobei eine Kombination von DR 3 und DR 4 besonders aussagekräftig und im Hinblick auf die Inzidenz deletär ist. Dass Umweltfaktoren eine Rolle als potentielle Trigger spielen, ist wahrscheinlich, aber noch nicht in Einzelheiten erklärbar. Beim Typ-2-Diabetes kommt es auf Grund einer Insulinresistenz, vor allem aber wegen der gleichzeitig gestörten Beta-Zell-Funktion zu einer Dysbalance zwischen Insulinangebot und Insulinbedarf. Die androide Fettsucht spielt offenbar für die Pathogenese des Typ-2-Diabetes eine wesentliche Rolle, ebenso wie die Fettleber und andere Faktoren des metabolisch-vaskulären Syndroms sowie auch die Zunahme der Sekretion des gleichsam „prädiabetischen“ Proinsulins. Während die Insulinresistenz relativ stabil bleibt, nimmt die Dysfunktion der Betazellen ständig zu. Dies bedeutet z. B. dass bei Gestationsdiabetikerinnen, die nach der Provokation „Schwangerschaft“ mit dem Abstoßen der Placenta (diabetogenes laktogenes Hormon!) den Diabetes zu verlieren scheinen, 50 % dieser Frauen im Laufe des Lebens dann aber doch einen Diabetes mellitus Typ 2 bekommen. Dies gilt natürlich in erster Linie für solche Frauen, die sich falsch (über-)ernähren und wenig bewegen, aber durchaus auch für andere, so dass hier die zunehmende Dysfunktion der Betazellen evident ist. Die Dysfunktion drückt sich auch in der fehlenden Pulsatilität und des biphasischen Verlaufs der Insulinsekretion aus. Zusätzlich wird die Betazell-Masse um ca. 40–50 % reduziert.

Im Hinblick auf die Nomenklatur hat sich natürlich eine Menge geändert: während man früher vom juvenilen und Alters-Diabetes sprach, ist man von diesem Ausdruck völlig abgekommen, da eben auch Kinder und Jugendliche einen Typ-2-Diabetes und nicht selten ältere und alte Menschen einen Typ-1-Diabetes bekommen können. Auch die Bezeichnungen IDD (insulinabhängiger) und NIDD (nicht insulinabhängiger) Diabetes wurden fallengelassen, da zwar praktisch keine Typ-1-Diabetiker ohne Insulingabe leben können, es wohl aber bei Typ-2-Diabetikern auch durch die verlängerte Lebensdauer und damit die Diabetesdauer zur Notwendigkeit einer Insulintherapie kommt. Von einem nicht insulinabhängigen Diabetes kann also auch bei diesem Diabetes-Typ letztlich keine Rede sein. Nach Schätzungen der WHO lebten im Jahr 2000 ca. 150 Millionen Menschen mit Diabetes, wobei für das Jahr 2030 von 366 Millionen Zuckerkranken weltweit ausgegangen wird. Erwähnt sei noch, dass in Deutschland neben den 6–8 Millionen bekannten manifesten Diabetikern sicher 1–2 Millionen noch unbekannte manifeste Zuckerkranke existieren und dass im Übrigen annähernd 10 Millionen Menschen eine gestörte Glukosetoleranz, also einen Prädiabetes aufweisen dürften. Hier ist der Gesetzgeber (Nationaler Diabetes Plan der Bundesregierung, initiiert durch die Deutsche Diabetes-Gesellschaft) aufgerufen, Präventiv-Maßnahmen zu fördern und für die Ärzte entsprechend zu honorieren. Denn schon durch die Framingham-Studie haben wir erfahren müssen, dass Menschen mit einer gestörten Glukosetoleranz bereits signifikant mehr kardiovaskuläre Schäden aufweisen als Nichtdiabetiker und deutlich weniger als Patienten mit manifestem Diabetes. Es müsste also das Ziel sein, bei diesen Menschen mit Prädiabetes zu erreichen, dass sie in das nicht-diabetische Stadium zurückfallen oder wenigstens nicht in das manifest-diabetische Stadium eintreten. Im Übrigen haben verschiedene Studien gezeigt, dass Diabetiker ohne einen als Risikofaktor zu betrachtenden vorangegangenen Herzinfarkt in der Anamnese später gleichviel kardiovaskuläre Komplikationen aufweisen wie Stoffwechselgesunde mit diesem Risikofaktor in der Vorgeschichte. Der Typ-2-Diabetes beinhaltet per se also von vornherein ein kardiovaskuläres Risiko. Wie kann man da noch von einem „milden Altersdiabetes“ sprechen?