Diabetologie und Stoffwechsel 2018; 13(04): 321-322
DOI: 10.1055/a-0644-9991
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Publikationsdatum:
22. August 2018 (online)

Sulfonylharnstoffe (SH) gehören zu den ältesten oralen Antidiabetika. Die beiden ersten klinischen Studien mit SH wurden 1955/56 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlicht. Danach stiegen SH zur meistverordneten Substanzgruppe in dieser Indikation auf. Hinsichtlich der Verminderung mikrovaskulärer Komplikationen des Diabetes sind Glibenclamid und Insulin gleich wirksam. Die Verordnung von Sulfonylharnstoffen ist stetig rückläufig. Im Jahr 2014 wurden 287,4 Millionen Tagesdosen Sulfonylharnstoffe verschrieben, womit diese unter der Verordnungshäufigkeit der neuen oralen Antidiabetika lagen (336,4 Millionen verordnete Tagesdosen von Inkretinmimetika). Die beiden häufigsten Nebenwirkungen der Therapie mit SH, mehr aber noch bei Insulin, sind Hypoglykämien und Gewichtszunahme. Dazu fehlen fast immer konkrete Angaben, sodass das Ausmaß stark überschätzt wird. Schwere Hypoglykämien bei SH sind in Deutschland rückläufig [1].

Einige SH, auch die in Deutschland oft eingesetzten Substanzen Glibenclamid und Glimepirid, vermindern die Ischämietoleranz des Myokards. Große Sorgen bereitete deshalb eine in Deutschland oft präsentierte Metaanalyse von Beobachtungs(!)studien, die eine erhöhte kardiovaskuläre und auch Gesamtmortalität unter Therapie mit SH zeigte [2]. Kaum beachtet blieb ein im selben Jahr publiziertes höherwertiges Cochrane Review über randomisierte Studien, das für Sulfonylharnstoffe der zweiten Generation keine erhöhte Mortalität zeigt und sogar weniger nicht tödliche kardiovaskuläre Ereignisse als für Metformin [3]. Die Rolle von SH in der Diabetestherapie wird heute sehr kontrovers beurteilt, von vehementer Ablehnung („Auslaufmodell“, „doppelt erhöhte Mortalität“) [4] bis zur Ankündigung einer Renaissance („confirmed microvascular benefits“, „no increase in all-cause mortality“) [5]. Auch in der Nationalen Versorgungsleitlinie zur Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 von 2013 (https://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/diabetes-mellitus/dm-therapie-1aufl-vers4-lang.pdf) wird der Wert der SH für die Diabetestherapie von den Fachgesellschaften DEGAM, DDG, DGIM und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft sehr kontrovers bewertet. Die Leitlinie weist darauf hin, dass nicht alle Wirksubstanzen aus der Gruppe der SH gleichermaßen nützen. Insofern ist die aktuelle Mitteilung der amerikanischen Kollegen unter Federführung von Charles E. Leonard über das verminderte Risiko von Herzstillstand und ventrikulären Rhythmusstörungen unter Therapie mit Glyburid (= Glibenclamid) eine Hilfe für die Therapieentscheidung. Zwar stammen die Daten aus einer Kohortenanalyse der Routinebetreuung US-amerikanischer Patienten, die Ereignisrate wurde jedoch sehr sorgfältig nach vielen möglichen Confoundern adjustiert. Der absolute Risikounterschied ist gering und die Expositionsdauer ist kurz. Einen RCT zu diesem Thema mit ausreichender Power gibt es nicht und wird es vermutlich auch nicht mehr geben – SH sind generisch verfügbar, und es dürfte sich keine Pharmafirma bereitfinden, eine kostspielige Studie zu finanzieren. Der Warnhinweis aus der NVL-Typ-2-Diabetes über die erhöhte Mortalität der Kombination SH mit Metformin macht aber zusätzliche Sorgen. Eine ebenfalls sehr sorgfältige Netzwerk-Metaanalyse von RCTs mit SH zeigt keine erhöhte Mortalität oder kardiovaskuläre Morbidität infolge SH bei Monotherapie, Zweifachkombination oder Dreifachkombination [6]. Wir dürfen gespannt sein, wie sich der Stellenwert der SH in Überarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus Typ 2 im Jahr 2019 darstellen wird.

 
  • Literatur

  • 1 Müller N, Lehmann T, Gerste B. et al. Increase in the incidence of severe hypoglycaemia in people with Type 2 diabetes in spite of new drugs: analysis based on health insurance data from Germany. Diabet Med 2017; 34: 1212-1218 . doi:10.1111/dme.13397
  • 2 Forst T, Hanefeld M, Jacob S. et al. Association of sulphonylurea treatment with all-cause and cardiovascular mortality: a systematic review and meta-analysis of observational studies. Diab Vasc Dis Res 2013; 10: 302-314
  • 3 Hemmingsen B, Schroll JB, Lund SS. et al. Sulphonylurea monotherapy for patients with type 2 diabetes mellitus. Cochrane Database Syst Rev 2013; 4: CD009008 . doi:10.1002/14651858.CD009008.pub2
  • 4 Mehnert H. Diabetes mellitus: Gedanken zur Therapie mit Medikamenten (außer Insulin). Diabetes, Stoffwechsel und Herz 2018; 25: 94-95
  • 5 Khunti K, Chatterjee S, Gerstein HC. et al. Do sulphonylureas still have a place in clinical practice?. Lancet Diabetes Endocrinol 2018; pii: S2213-8587(18)30025-1 . doi:10.1016/S2213-8587(18)30025-1. [Epub ahead of print]
  • 6 Palmer SC, Mavridis D, Nicolucci A. et al. Comparison of Clinical Outcomes and Adverse Events Associated With Glucose-Lowering Drugs in Patients With Type 2 Diabetes: A Meta-analysis. JAMA 316: 313-324 . doi:10.1001/jama.2016.9400