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DOI: 10.1055/a-0971-6048
Reduktion von Zwangsmaßnahmen: Alles ist nicht genug
Reduction of Coercion Measures: All is not EnoughPublication History
Publication Date:
07 October 2019 (online)



„Wir tun alles, um Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu verhindern.“ Diesen Satz in sinngemäßer Form verwenden wir vielfach, wenn wir unsere alltägliche Arbeit in der stationären Psychiatrie gegenüber der Presse, den Angehörigen oder gegenüber Patienten erklären müssen. Wir benutzen ihn manchmal aber auch, um unser eigenes Gewissen zu beruhigen oder um äußeren Zwängen zu genügen. Die Schweizerische Richtlinie zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen [1], ebenso wie die deutsche S3-Richtlinie [2], ermahnt uns, alles zu tun, um Zwangsmaßnahmen zu vermeiden. In unserem hauseigenen Formular zur gesetzeskonformen Dokumentation von Zwangsmaßnahmen müssen die Berichtschreibenden ankreuzen, dass alle Maßnahmen zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen ausgeschöpft wurden. Doch tun wir dies in der Realität auch, nutzen wir alle Möglichkeiten? Vieles deutet darauf hin, dass dem leider nicht so ist. Ein indirekter Beleg hierfür ist zum Beispiel, dass sich die Raten von Zwangsmaßnahmen innerhalb eines Landes von Klinik zu Klinik und nicht selten sogar innerhalb einer psychiatrischen Klinik stark unterscheiden [3]. Wenn alle alles tun würden, dürften diese Zahlen jedoch nicht groß differieren. Vor Kurzem hat eine Gruppe Schweizer Psychiater eine Studienreise nach Triest gemacht. In dieser norditalienischen Region werden die Ideen von Franco Basaglia, Italien, aus den 1970er-Jahren auch im Jahre 2019 in beeindruckender Weise umgesetzt. Möglichst wenig psychiatrische Hospitalisationen, möglichst viel Personenkonstanz, hoch individuelles Setting von stationär bis zur aufsuchenden Betreuung von ein und demselben Behandlerteam sind nur einige Maßnahmen des klinischen Vorgehens in Triest. Vergleicht man die Rate von Zwangsmaßnahmen dort mit den Zwangsmaßnahmen in der Schweiz, so senkt sich der Blick vor Scham: Es sind etwa um den Faktor 50 weniger Zwangsmaßnahmen in dieser eher ärmeren italienischen Region nötig. Italienkenner wissen, dass diese Praxis nicht in ganz Italien vorherrscht, sondern fast nur in der Triester Region erfolgreich zur Anwendung kommt. Wenn ich in Gremien über die Studienreise berichte, wird die Diskussion regelmäßig angespannt. Es stimmt, dass gesetzliche Grundlagen in Triest andere sind, dass sie dort aus vielen Bewerbungen die besten Mitarbeiter auswählen können, die aus Überzeugung hochengagiert für wenig Geld arbeiten wollen. Was hingegen nicht stimmt, ist, dass dort der Personalschlüssel pro Einwohner größer ist. Es geht mir nicht darum, dass in Triest die ganze Psychiatrie eine bessere ist, sondern darum, dass die Versorgungssituation Triest ein „proof of concept“ darstellt: Eine Psychiatrie mit deutlich weniger Gewalt ist keine Utopie.
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Literatur
- 1 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Zwangsmassnahmen in der Medizin. Basel: Gremper AG; 2018
- 2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.. Hrsg. S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. [(Langversion – Fassung vom 10.09.2018)] 2018
- 3 Husemann M, Schulz M, Bowers L, Löhr M. Hrsg. Konflikte lindern – Partizipation ermöglichen. Das Safewards-Modell im Akutsetting. Stuttgart: Thieme; 2014
- 4 Huber CG, Schneeberger AR, Kowalinski E. et al. Suicide risk and absconding in psychiatric hospitals with and without open door policies: a 15 year, observational study. The Lancet Psychiatry 2016; 3: 842-849
- 5 Cibis M-L, Wackerhagen C, Müller S. et al. Vergleichende Betrachtung von Aggressivität, Zwangsmedikation und Entweichungsraten zwischen offener und geschlossener Türpolitik auf einer Akutstation. Psychiat Prax 2017; 44: 141-147
- 6 Bowers L, van der Werf B, Vokkolainen A. et al. International variation in containment measures for disturbed psychiatric inpatients: a comparative questionnaire survey. Int J Nurs Stud 2007; 44: 357-364
- 7 Ruff F, Hemmer A, Bartsch C. et al. Suizide während psychiatrischen Hospitalisationen. Psychiat Prax 2018; 45: 307-313
- 8 van der Sande R, van Rooijen L, Buskens E. et al. Intensive in-patient and community intervention versus routine care after attempted suicide. A randomised controlled intervention study. Br J Psychiatry 1997; 171: 35-41
- 9 Euler S, Dammann G, Endtner K. et al. REV_SGPP Behandlungsempfehlungen Borderline_noEN. Im Internet: https://www.psychiatrie.ch/sgpp/fachleute-und-kommissionen/behandlungsempfehlungen/index.php?eID=tx_securedownloads&u=0&g=0&t=1569501996&hash=6a71c073ca520c2aa46017efe0e758053e7fc236&file=/fileadmin/SGPP/user_upload/Fachleute/Euler_et_al_SGPP_Behandlungsempfehlungen_Borderline_-_Maerz_2018_def.pdf
- 10 Reisch T, Beeri S, Klein G. et al. Comparing Attitudes to Containment Measures of Patients, Health Care Professionals and Next of Kin. Front Psychiatry 2018; 9: 529
- 11 Jaeger M, Ketteler D, Rabenschlag F. et al. Informal coercion in acute inpatient setting – knowledge and attitudes held by mental health professionals. Psychiatry Res 2014; 220: 1007-1011
- 12 Bowers L. Safewards: a new model of conflict and containment on psychiatric wards. J Psychiatr Ment Health Nurs 2014; 21: 499-508
- 13 Rosenberg MB. Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. Bd. 1. Kommunikation. 12.. Aufl. Paderborn: Junfermann; 2016
- 14 Wullschleger A, Vandamme A, Ried J. et al. Standardisierte Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Akutstationen: Ergebnisse einer Pilotstudie. Psychiat Prax 2019; 46: 128-134
- 15 Mielau J, Altunbay J, Heinz A. et al. Psychiatrische Zwangsmaßnahmen: Prävention und Präferenzen aus Patientenperspektive. Psychiat Prax 2017; 44: 316-322