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DOI: 10.1055/s-0031-1277189
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Genetik der Sprache
Genetics of LanguagePublication History
Publication Date:
21 June 2011 (online)
Jochen Rosenfeld
Rainer Schönweiler
„Warum können wir sprechen?” Diese Frage beschäftigt die Menschheit schon lange. Dabei wollen wir nicht nur wissen, warum – d. h. welchen Selektionsvorteil diese Fähigkeit haben könnte und warum Sprache zur vielleicht einzigen humanspezifischen Eigenschaft werden konnte –, sondern auch wie – d. h. die Frage nach neurophysiologischen Zusammenhängen und deren genetischer „Verankerung” klären.
Historisch gab es seit jeher 2 „Lager”: die einen vermuteten, dass der Mensch eine angeborene „Ursprache” besitze, die anderen, dass Sprache durch sprachliche Zuwendung der Umgebung erlernt werde. Heute würde man formulieren: Sprache kann genetisch angelegt sein oder durch Umwelteinflüsse entstehen. Diese Diskussion reicht in biblische Zeitalter zurück: Nach Herodot ließ Pharao Psammetisch I (664-610 v. Chr.) 2 Neugeborene ohne Kontakt zu Sprache von einem Hirten aufziehen. Mit 2 Jahren sollen die Kinder als erstes Wort „bekos” (phrygisch: Brot) gesprochen haben. So nahm man an, dass Phrygisch die angeborene Ursprache sei. Auch der schottische König James IV (1473–1513) kam in einem ähnlichen Isolationsversuch zu der Erkenntnis, dass Sprache angeboren sei. Diese Kinder sollen allerdings Hebräisch gesprochen haben. Wachsen Kinder völlig isoliert von Menschen ohne Sprache, Kultur und Sozialverhalten auf, werden sie als „Wolfskinder” bezeichnet. Es gibt viele beschriebene Fälle, bekannte Beispiele dafür sind Kaspar Hauser (Ansbach, 1812–1833) und Genie (Los Angeles, *1957). Die meisten waren der Sprache kaum mächtig, was als Zeichen dienen kann, dass äußere Faktoren (Umweltbedingungen) bei der Sprachentwicklung eine wichtige Rolle spielen.
Viele bedeutende Schriftsteller und Sprachwissenschaftler entwickelten Theorien „Über den Ursprung der Sprache” (u. a. Johann Gottfried Herder, 1772; Jacob Grimm, 1851). Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein konnte die Frage, ob Sprache eher durch Verhalten und Nachahmung erlernt werde (vor allem vertreten durch die Theorie des Behaviorismus von B.F. Skinner) oder genetisch determiniert sei (vor allem vertreten durch die nativistische Theorie von A.N. Chomsky) nicht vollständig beantwortet werden. In der dritten Ausgabe der Sprache – Stimme – Gehör des Jahres 1999 schrieb Kiese-Himmel mit dem Schwerpunktthema „Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen”: „Eine Bestimmung der Ursachen, womöglich der Ursache dieser Störung gelang … noch nicht”. Doch inzwischen haben sich die Erkenntnisse über genetische Faktoren der Sprache durch innovative molekulargenetische Methoden drastisch erweitert – ein aktuelles Themenheft der Zeitschrift Sprache – Stimme – Gehör ist überfällig!
Sicher, Sie haben Grundkenntnisse in Genetik, sei es aus der Schule oder aus dem Studium – doch das reicht heute nicht mehr aus! Yorck Hellenbroich und Christine Klein entführen Sie in die Welt der humangenetischen Hochtechnologie. Hier spielen auch ethische Aspekte eine große Rolle, die nicht ausgelassen werden.
Cornelia Platzer und Dagmar Bittner erläutern in ihrem Beitrag zunächst die Bedeutung des Gens FOXP2 als erstes identifiziertes „Sprachgen” für die Entstehung von Sprache und Sprechen. Sie gehen auf interessante molekulargenetische Untersuchungen beim Neandertaler und auf die Evolution von Sprache ein. Schließlich werden vergleichende Studien zu FOXP2 und seinen Auswirkungen bei anderen Spezies wie Schimpanse, Zebrafink, Fledermaus und Maus vorgestellt.
Mit dem derzeitigen Wissen über genetische Faktoren bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung befasst sich der Beitrag von Jochen Rosenfeld und Denise Horn. Sie gehen dabei auf Erkenntnisse verschiedener Studientypen ein und erläutern, inwiefern dieses Störungsbild von genetischer Seite eher als das untere Ende der Normalverteilung denn ein distinktes Krankheitsbild anzusehen ist.
Im abschließenden Beitrag legt Tiemo Grimm dar, dass genetische Faktoren zweifellos eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Legasthenie spielen. Sehr systematisch belegt er genetische Erkenntnisse anhand von bahnbrechenden Studien.
Eltern und Betroffene hinterfragen zunehmend erbliche Faktoren bei Laut- und Schriftsprachentwicklungsstörungen. Diesen Fragen sollten wir nicht ausweichen müssen, sondern wir sollten in der Lage sein, zumindest Basisinformationen beizusteuern. Um dies zu erreichen, müssen wir auch die neuen Möglichkeiten der modernen Genetik kennen, um nicht die Hände in den Schoß zu legen, sondern Untersuchungen in die Wege zu leiten. Dazu müssen wir auch mit Ängsten von Eltern und Betroffenen richtig umgehen. Dieses Heft soll Ihnen dabei helfen.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und hoffen, dass wir Ihr Interesse an der faszinierenden Welt der Genetik wecken können.
Jochen Rosenfeld
Rainer Schönweiler
Korrespondenzadresse
Dr. med. J. Rosenfeld
Klinik für Audiologie und
Phoniatrie
Charité – Universitätsmedizin
Berlin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Email: jochen.rosenfeld@charite.de